Augsburger Allgemeine (Land West)
„Solange ich lebe, jazze ich!“
Joe Viera war Bayerns erster Jazz-Professor, am 4. September feiert er nun seinen 90. Geburtstag. Ein Gespräch über sein Festival in Burghausen, das Tenorsaxofon – und wie er mitten im Krieg zum Jazz fand.
Sie
gelten seit Jahrzehnten als einer der wesentlichen Impulsgeber des Jazz in Deutschland, als Lehrer, Buchautor, Kritiker, Festivalorganisator, Berater und Mitglied in verschiedenen Gremien. Greifen Sie noch ab und an zum Tenorsaxofon?
Joe Viera: Gelegentlich. Obwohl ich gesundheitliche Probleme habe und nach wie vor viele Dinge zu erledigen sind, will ich mein Saxofon nicht ganz zur Seite legen. Ich beschäftige mich seit 1955 sehr intensiv damit, es ist mein Hauptinstrument, und da entsteht halt eine besondere Beziehung. Am 19. September gibt es ein Geburtstagskonzert im Münchner Jazzclub Unterfahrt, das die Uni Big Band München zu meinen Ehren organisiert. Sollte ich dort nicht spielen können, werde ich zumindest ein paar Scat-Chorusse singen.
Ihre Leidenschaft für Jazz beschränkt sich nicht nur auf das Spielen. Sie verschlingen Platten und Bücher, im Gespräch lernt man Sie als wandelndes Lexikon kennen.
Viera: Das bringt die Beschäftigung mit der Materie zwangsläufig mit sich. Der Jazz ist in den vergangenen Jahren noch wesentlich bunter, noch vielfältiger geworden. Da braucht man schon eine Menge Zeit, um sich über die neuen, interessanten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Mich interessiert alles, was da passiert, da bin ich viel zu neugierig, auch wenn es mir nicht gefallen sollte. Heute gibt es eigentlich viel mehr Musikerinnen und Musiker als früher. Und jeder hat seine guten Gründe, dass sie oder er diesen Weg eingeschlagen hat.
Welche waren das bei Ihnen?
Viera: Mir hat der Jazz geholfen, die Bombenangriffe in München zu überstehen, insgesamt 72 an der Zahl. Ich war damals ein junger Bursche von 13 Jahren und versuchte mit einem selbstgebauten Radio in Schwabing diese neue Musik zu hören, bis uns der nächste Fliegeralarm wieder in den Keller trieb. Es war eine willkommene Ablenkung von diesen furchtbaren Dingen. Dabei habe ich zum ersten Mal gespürt, welche Kraft überhaupt vom Jazz ausgeht, welche rhythmische Dynamik er besitzt. Das hat auch mich stark gemacht. Es gab keine Musiker oder Bands, die ich toll fand, keine besonderen Instrumente. Es war der Rhythmus, der Takt, der Beat, die mich bis heute nicht mehr loslassen. In jenen Jahren fand keine Schule statt, es fuhr keine Straßenbahn mehr durch München, man hatte also jede Menge Zeit, sich mit so etwas auseinanderzusetzen. Bis ich selbst spielen konnte, vergingen allerdings mehrere Jahre. Es gab noch niemanden, der mich unterrichten hätte können, geschweige denn Bands, bei denen sich die Möglichkeit bot, einzusteigen. Aber ich wusste ganz genau, dass es eines Tages passieren würde.
Es hätte ja noch die Klassik oder andere Stilrichtungen gegeben.
Viera: Natürlich habe ich Klassik gespielt, das Übliche für den Hausgebrauch: ein bisschen Klavier, ein bisschen Blockflöte. Aber die Freiheit des Jazz, vor allem in dessen ganz alter Form, ist wirklich einzigartig. Und in diesem weiten Spektrum sind so viele einzelne Genres enthalten: Klassik, Folklore, R ‘n’ B, Pop, Big Band, Gesang. Nur in den Jazzrock bin ich nicht so tief eingestiegen, der war immer ein bisserl zu laut. Ende der 1960er Jahre bin ich von einer DixielandFormation direkt in eine FreejazzCombo gewechselt, was damals viele gewundert hat. Aber so etwas geht eben nur im Jazz! Daneben hat es mich begeistert, zu forschen, woraus einige Bücher über Harmonieund Rhythmuslehre entstanden. Dieses Ineinander von Theorie und Praxis fand ich fruchtbar.
Es ging Ihnen auch darum, junge Talente zu fördern, sei es durch Workshops, Ihre Lehrtätigkeiten an den Unis von München, Hannover und Duisburg oder durch Coaching in Nachwuchswettbewerben. Sie legen quasi lauter kleine Jazz-Samenkörner.
Viera: Vor allem für junge Musiker ist es eminent wichtig, dass man ihnen Starthilfe gibt und dass sie mal eine andere, konstruktive und kompetente Sicht auf sich selbst erhalten. Heute passiert vieles, was auf den ersten Blick Aufmerksamkeit erregt, verwegene instrumentale Kombinationen oder Experimente, manchmal auch wegen des Geldes, die aber eigentlich in eine Sackgasse führen. Ich kann mit meiner Erfahrung da ein bisschen die ordnende Hand spielen, wenn
das gewünscht wird. Denn die Kriterien für gute Musik lassen sich durch oberflächliche Effekte nicht einfach so beiseite wischen. Bei meinen Kursen während der Jazzwoche in Burghausen war zum Beispiel regelmäßig als 17-Jähriger Dieter Ilg dabei – heute einer der führenden Bassisten weltweit. Und ich könnte eine ganze Reihe weiterer Namen aufzählen.
Noch ein Mosaikstein Ihrer Vita: die Internationale Jazzwoche in Burghausen. Zusammen mit Helmut Viertl haben Sie diese 1970 gegründet und arbeiten bis heute als deren künstlerischer Leiter – weltweit der Impresario mit den zweitmeisten Dienstjahren. Der Jazz verändert sich laufend, nur Joe Viera bleibt derselbe?
Viera: Wobei ich erwähnen muss, dass ich in diesem Jahr zum ersten Mal nicht dabei sein konnte. Vielleicht klappt es ja 2023 wieder. In Burghausen ging es mir von Anfang an darum, den Musikerinnen und Musikern optimale Arbeitsbedingungen zu bieten. Ich denke, das ist uns gelungen.
Wie sonst ließe es sich erklären, dass in dieser kleinen oberbayerischen Grenzstadt Stars wie Duke Ellington, Ella Fitzgerald, Esbjörn Svensson, Jan Garbarek oder Jamie Cullum auftraten. Worin liegt das Geheimnis für ein erfolgreiches Jazzfestival?
Viera: In einem kontinuierlichen Bemühen um Qualität! Bei jedem Programmpunkt sollte diese absolut im Vordergrund stehen und nicht zu gering geachtet werden. Weltklasse-Jazzmusiker gehören einfach auf ein internationales Jazzfestival, und da müssen die Burghausener gerade in den vergangenen Jahren sehr aufpassen, dass sie sich nicht mit zu wenig zufriedengeben. Selbstverständlich gilt es, publikumsträchtige Acts auf die Bühne zu bringen, bekannte Namen, aber auch jungen Leuten eine Chance zu geben, denn die sind ja die Zukunft dieser Musik. Nicht umsonst ist der Europäische Nachwuchs-Jazzpreis in Burghausen seit 2008 einer der populärsten Programmpunkte überhaupt. Unser Konzept hat sich über Jahrzehnte hinweg bewährt, man sollte nicht daran rütteln.
Der Wandel hat auch die Szene in Bayern erfasst. Zu ihrem Vorteil?
Viera: In einem Punkt durchaus: Die Jazzszene ist professioneller geworden, das hätte sie schon viel früher tun sollen. Die Musiker sind strukturierter, organisierter, beherrschen nicht nur ihr Instrument, sondern auch wie man wirtschaftliche Dinge regelt. Es gibt inzwischen staatliche Zuschüsse und seriöse Veranstalter, die gut bezahlen, aber auch eine ganze Reihe von universitäreren Ausbildungsmöglichkeiten. Aber dem standen lange Zeit eklatante Widerstände und teilweise sogar Ablehnung in der Gesellschaft gegenüber. Was nach wie vor fehlt, ist ein stärkeres Engagement der klassischen Musikszene für den kleinen Bruder Jazz. Und dann würde ich mir wünschen, dass die Geschichte des Jazz in München und in Bayern endlich einmal ins allgemeine Bewusstsein übergehen würde. Die erste amerikanische Musikform in der Landeshauptstadt war nämlich keinesfalls der Rock ‘n’ Roll! Den Jazz gab es schon vorher! Aber das will heute kaum einer mehr wissen. Es gibt also noch jede Menge zu tun. Cicero sagte mal „Dum spiro spero“. Das bedeutet „Solange ich lebe, hoffe ich“. Mein persönliches Motto lautet deshalb: „Dum spiro jazzo“. Solange ich lebe, jazze ich“
In der Jazzszene besitzt Joe Viera einen legendären Ruf, auch als Kopf der Internationalen Jazzwoche Burghausen. Der Münchner, der heute in Schwabing lebt, wurde 1981 zum ersten Jazz-Professor Bayerns ernannt.