Augsburger Allgemeine (Land West)
Erinnerung an einen bewegenden, beklemmenden Moment
Das vierte „Befreiungskonzert“von St. Ottilien war mit hochkarätigen Musikern wie Isabelle Faust einem besonderen Augenblick in der Geschichte der Erzabtei gewidmet: als 1945 ehemalige jüdische KZ-Häftlinge auch das „Kol Nidre“anstimmten.
Es muss ein bewegender, beklemmender Moment gewesen sein, als am 27. Mai 1945, neunzehn Tage nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, am Krankenhaus der Erzabtei St. Ottilien ein „Befreiungskonzert“des „Concentration Camp Orchestra DachauKaufering“stattfand – für ehemalige jüdische Häftlinge. Menschen, die – so sie überhaupt überleben konnten – seit Jahren gequält worden waren, erlebten plötzlich Pflege, Essen, Zuwendung. Der Hölle folgte ein Fleckchen Erde, auf dem Vernichtung sich ins Konstruktive wandelte.
Was wurde bei dem Konzert damals gespielt? Jedenfalls keine epochale Musik – und sei sie selbst auch noch so unschuldig –, die der Nationalsozialismus zuvor stark instrumentalisiert hatte. Es erklangen u. a. eine „L’ArlésienneSuite“ Bizets, Solveigs Lied von Grieg, jüdische Volkslieder, eine Fantasie über sowjetische Lieder, die Hymnen der Alliierten – und ein vertontes „Kol Nidre“, dieses Abendgebet vor dem jüdischen Versöhnungstag. Wohlgemerkt: 19 Tage nach der bedingungslosen Kapitulation einer mörderischen Diktatur.
Gut, daran zu erinnern. Und das tat St. Ottilien mit einem „Befreiungskonzert“nun auch zum vierten Mal. In der Klosterkirche traf sich Rang und Namen auf und vor der Bühne. Oben Isabelle Faust, 1987 die 1. Preisträgerin des 1. Internationalen Leopold-MozartViolinwettbewerbs in Augsburg, sowie das renommierte Mahler Chamber Orchestra, unten u. a. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, dazu Felix Klein, Regierungsbeauftragter für jüdisches Leben in Deutschland, und selbstredend
Erzabt Wolfgang Öxler, in dessen Kloster jüngst eine Komposition entstand, die nun uraufgeführt wurde: „Liberation“, ein Streichquartett
des 1981 in Tel Aviv geborenen Eliav Kohl, erster „Artist in Residence“von St. Ottilien.
„Liberation“ist ein kontemplatives, etwa viertelstündiges Werk, das das litauische „Kaunas String Quartet“sensibel erklingen ließ – mit versteckter Paraphrasierung des erwähnten Liedes Solveigs – und inspiriert von den – hier pizzicato tönenden – Glocken St. Ottilens; nachhorchende Liege-Intervalle und Streicher-„Geläut“vor den philosophischen Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Das Stück nahm für sich ein.
Noch immer eine Rarität im Konzertbetrieb: Kompositionen des sogenannten schwarzen Mozart, Kompositionen von Joseph Bologne, diesem Mehrfach-Artisten kreolischer Abstammung, klar beeinflusst von der Wiener Klassik. Seine Sinfonie op. 11,2 – ein dreisätzig-kurzweiliges Werk von französisch-höfischer Eleganz – bot das Mahler Chamber Orchestra mit Effekt und einem Effet, wie ihn auch die Wiedergaben der abendlichen Hauptprogrammpunkte ausmachten: Mozarts Sinfonia
concertante KV 364 sowie Mozarts Linzer Sinfonie.
In der Sinfonia concertante entspann sich zwischen Isabelle Faust und dem Bratschisten Antoine Tamestit ein wunderbarer Dialog. Werktreu und in blindem Einverständnis spielten sie sich die Klangreden-Bälle zu. Behauptung, Gegenrede, Bekräftigung beziehungsweise modifizierende Bestätigung, animierende bis reizende Fragen, ein Ins-Wort-Fallen, Echos, Duettieren, Nebenbemerkungen – all das enthält die „Sinfonia concertante“, und Faust wie Tamestit zeigten sich in unterschiedlichen Positionen so tolerierend-dialogfähig, wie man es sich von der Gesamtgesellschaft wünscht.
Blieben noch Mozarts federnd interpretierte Linzer Sinfonie – im Forte allerdings etwas übersteuert schwammig – und der Abendsegen „Traum“von Juozas Naujalis als Widmung für Charlotte Knobloch.