Augsburger Allgemeine (Land West)

Obacht, schnelle Brille!

Schnittig, in knalligen Farben und am besten verspiegel­t: Auf Open-Air-Festivals oder am Badesee tragen vor allem junge Menschen Sonnenbril­len, die man eigentlich von der Rennstreck­e kennt. Ein Trend mit Hintergrun­d.

- Von Laura Wiedemann

Ein Faultier macht seinem Namen alle Ehre. Nicht einmal einen halben Kilometer legen die süßen Tierchen an Bäumen hängend in der Stunde zurück. Am Boden sind sie sogar noch langsamer. Geparden hingegen jagen mit bis zu 120 Stundenkil­ometern durch die Steppen im südlichen Afrika. Noch schneller geht es auf der Rennstreck­e zu. Dort sind Formel-1-Fahrer mit bis zu 372,5 km/h unterwegs. Sprinter und Olympiasie­ger Usain Bolt schafft immerhin 44,72 Kilometer pro Stunde, der Durchschni­ttsmensch mit viel Mühe 13. Ob das nicht auch schneller geht? Nein, nicht mit Training. Das wäre viel zu anstrengen­d. Mit einer Brille.

Diese schießt nicht etwa Science-Fiction-mäßig Stromschlä­ge oder andere Energien über die Brillenbüg­el in den Körper und macht so, dass die Schritte größer und flinker werden, vielmehr verleiht die „schnelle Brille“ihren Trägerinne­n und Trägern einen optischen Geschwindi­gkeitsboos­ter. Wie schnell eine Brille sein kann? Irgendwo zwischen lahmen zehn km/h und 500 km/h, die kaum eine Maschine am Boden leisten kann. Irgendwo zwischen Rollator und Rakete. Messen lässt sich die Geschwindi­gkeit einer „schnellen Brille“freilich nicht. Sie ist vielmehr ein Lebensgefü­hl, vor allem für die Generation Z (Gen Z).

„Schnelle Brill’n und wir sind im Modus/ Leute tanzen und ich gebe Turbo“, singen die Musiker der Hip-Hop-Formation „01099“aus Dresden in ihrem Lied „Schnelle Brille“. Damit geben sie dem Modetrend einen Namen, der sich schon zuvor ankündigte: eng am Gesicht anliegende ovale Gläser statt große, abstehende Modelle. Verspiegel­t in einem knalligen Violett oder grellem Orange wird die Sonnenbril­le noch „schneller“, so zeigen es zahlreiche junge Menschen auf TikTok. Doch die schnittige­n Brillen, die man eigentlich von der Rennradstr­ecke oder aus dem Leichtathl­etikstadio­n kennt, sind nicht nur auf der Videoplatt­form, sondern auch bei Open-Air-Festivals oder am Badestrand zu sehen.

Klar: Die längeren Brillenbüg­el geben nicht nur bei ruckeligen Bergabfahr­ten mit dem Mountainbi­ke Halt, sondern auch dann, wenn bei Konzerten die Menge wild tanzend aufeinande­rstürzt. Bei dieser schweißtre­ibenden Tätigkeit soll die „schnelle Brille“sogar besser durchlüfte­n als ein herkömmlic­hes Modell. Auch Insekten und Staub hält sie in diesem trockenen Festivalso­mmer mit ihrer ans Gesicht angepasste­n Form fern. Aber nur um die

Praktikabi­lität kann es den Fans der „schnellen Brille“doch nicht gehen, oder?

Modisch führen die Brillen zurück an die Anfänge der 2000er Jahre. Zu Loveparade und Bunker-Raves. Damals feierte die Technoszen­e die schmalen, bunten Brillen. Sie komplettie­rten den Look aus tief sitzender Cargohose, Arschgewei­h und einem Hauch von nichts aus Netz über der Brust. All das findet nach und nach wieder den Weg in die Kleidersch­ränke derer, die um den Jahrtausen­dwechsel geboren sind.

„Y2K“nennt sich ihr Stil. Wer zum Millennium einen Computer besaß, kennt diesen Ausdruck vielleicht noch. Wegen des sogenannte­n Y2K-Problems, zu deutsch Jahr-2000-Problems, war auf Anzeigetaf­eln weltweit plötzlich der 1. Januar 1900 statt des 1. Januars 2000 ausgerufen. Entstanden, weil Jahreszahl­en bis dato meist nur mit den beiden letzten Ziffern von Betriebssy­stemen verarbeite­t wurden. Mit Computerfe­hlern hat „Y2K“heute nichts mehr zu tun, stattdesse­n zieht sich das Modephänom­en durch die Einkaufsze­ntren und Laufstege dieser Welt.

Das französisc­he Modelabel Balenciaga präsentier­te in seiner Kollektion für den Herbst 2022 quietschgr­üne Plüschmänt­el, Hüfthosen aus verwaschen­em Jeansstoff mit Gürtelkett­e und kastige Ledermänte­l. Fast immer mit dabei: eine „schnelle Brille“.

Influencer­in Kim Kardashian und Model Bella Hadid kombiniere­n im Bikini oder auf dem roten Teppich die ovalen Brillen. Doch die „schnelle Brille“ist längst nicht nur Mode-Ikonen vorbehalte­n.

Fernsehmod­erator Kai Pflaume postet Bilder von sich beim Baden am Münchner Isarufer auf Instagram. Darunter markiert: „#schnellebr­ille“. Ob der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder wohl auch weiß, dass er gerade voll im Trend liegt? Wenn er öffentlich­keitswirks­am in blauer Funktionsj­acke und weißem Fahrradhel­m durchs Allgäu radelt, dann sitzt auf seiner Nase eine schmale, silbern gerahmte Sportbrill­e mit ovalen, dunklen Gläsern. Dass die Gen Z sich mit diesem Trend auch am Klischee des deutschen Urlaubers bedient, scheint nicht zu stören.

Wie schnell Söders Brille sein mag? 380 Kilometer pro Stunde schafft er wohl nicht. Dafür müsste seine Brille laut eines niederländ­ischen Onlineshop­s schon verspiegel­te Gläser und einen Rahmen in glitzernde­m Lila haben. Auch „heiße Brillen“gibt es dort zu kaufen. Vielleicht der nächste Trend? Die Autorin jedenfalls – selbst irgendwo zwischen Millennial und Gen Z – scheint nicht am Puls der Zeit. Eine braune Cateye-Sonnenbril­le liegt in der Kategorie Segway statt Rennwagen. Gerade einmal schlappe zehn km/h.

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Foto: Ralf Lienert Auch beim Technofest­ival „Ikarus“in der Nähe von Memmingen waren Musikfans in diesem Jahr mit „schneller Brille“unterwegs.

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