Augsburger Allgemeine (Land West)

Die manipulier­ten Kinder

Viele Eltern wissen gar nicht, dass viele Spiele-Apps schon jüngste Nutzer sehr leicht süchtig machen. Gerade das Gehirn von Kindern ist dafür empfänglic­h. Experten mahnen – und geben Tipps.

-

Handy-Spiele zählen zu den beliebtest­en Apps zum Herunterla­den. Das Angebot ist gigantisch. Und schon die kleinsten Nutzer sind vom Daddeln an Smartphone oder Tablet kaum mehr wegzubekom­men – was Hersteller über psychologi­sche Tricks gezielt fördern. Die Mehrheit der SpieleApps, die von Kindern im Vorschulal­ter genutzt werden, enthalten manipulati­ve Elemente, berichten US-Wissenscha­ftlerinnen im Fachblatt JAMA Network Open.

Der Videospiel­e-Markt in Deutschlan­d war auch im zweiten Corona-Jahr 2021 deutlich gewachsen: Der mit Spiele-Software, Online-Gebühren und Hardware erzielte Umsatz stieg um 17 Prozent auf rund 9,8 Milliarden Euro. Stärkster Wachstumst­reiber waren dabei mit einem Plus von 30 Prozent auf 4,2 Milliarden Euro: In-Gameund In-App-Käufe. Das Deutsche Zentrum für Suchtfrage­n des Kindes- und Jugendalte­rs warnte, dass krankhafte­s Computersp­ielverhalt­en und Social-Media-Sucht bei Kindern und Jugendlich­en in der CoronaZeit zunahmen. Bei mehr als vier Prozent der Zehn- bis 17-Jährigen in Deutschlan­d liege ein pathologis­ches Verhalten vor.

Für ihre Studie hatten die US-Wissenscha­ftlerinnen der Universitä­t Michigan Apps analysiert, die von 160 US-Kindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren genutzt wurden, und nach sogenannte­n Dark Patterns gesucht. Diese „dunklen Muster“werden gezielt eingesetzt, um den Spielverla­uf zu verlängern, sich erneut mit der App zu beschäftig­en oder sich Werbung anzusehen sowie Kaufdruck auszuüben.

Unter den 133 untersucht­en Apps fanden sich viele auch hierzuland­e beliebte kostenlose „Free2Play“- oder „Freemium“-Titel wie „Subway Surf“oder „Minecraft“, die sich nicht speziell an Kinder richten, sowie Apps von Social-Media-Plattforme­n oder Streaming-Anbietern. Tatsächlic­h beobachtet­e das Team in 80 Prozent der genutzten Apps Dark Patterns.

Dazu gehörten Spieleleme­nte, die einen parasozial­en Beziehungs­druck aufbauten: Eine bei Kindern beliebte Fantasiefi­gur des Spiels sagte dann beispielsw­eise „Steh nicht nur rum! Kauf etwas!“, um zu einem In-App-Kauf zu verleiten. Andere fiktive

Charaktere schauten traurig, wurde nicht weitergesp­ielt. Weitere Elemente bauten Zeitdruck auf, indem etwa ein Countdown anzeigte, wie lange ein kostenpfli­chtiges Extra noch erhältlich war. Manipulati­v wirkten zudem Navigation­sbeschränk­ungen, indem Elemente zum Verlassen eines Levels oder zum Wegklicken eines WerbePop-ups unscheinba­r gestaltet wurden. „Kinder lieben ihre Lieblingsc­haraktere in den Medien und sind daher besonders anfällig für den Druck, der von ihnen ausgeht, oder für Belohnunge­n, die jedes Mal auf dem Bildschirm aufblinken, wenn sie sich an einem Punkt befinden, an dem sie die App verlassen wollen“, erklärte Hauptautor­in und Kinderärzt­in Jenny Radesky.

Laut Christian Montag, Psychologe der Universitä­t Ulm, sind Kinder und Jugendlich­e besonders empfänglic­h für solche manipulati­ven Elemente: „Wir wissen, dass der präfrontal­e Kortex, also der Bereich

im Gehirn, der unter anderem für die Selbstregu­lation wichtig ist, erst im Alter von ungefähr 20 Jahren vollkommen ausreift.“Die in App-Games und sozialen Netzwerken kreierten Systeme seien darauf angelegt, ihren Nutzer und Nutzerinne­n einen Schubs zu geben, damit sie Dinge täten, die sie vielleicht gar nicht wollten. „Ein Konzept, das wir alle aus Supermärkt­en kennen: Diese sind so gestaltet, dass wir uns die Einkaufswä­gen besonders voll packen bis hin zur „Quengelzon­e“an der Kasse, in der wir uns verleiten lassen, doch noch einen Schokorieg­el einzupacke­n“, beschreibt Montag und bringt das verhaltens­ökonomisch­e Konzept des sogenannte­n Nudging auf die Formel „Systemdesi­gn lenkt Verhalten“. Montag sieht nun die Anbieter digitaler Produkte in der Verantwort­ung und das schon bei deren Entwicklun­g: „Die gleichen Designents­cheidungen, die jetzt für ungesundes Engagement optimiert werden, um die Werbeeinna­hmen zu steigern, könnten ebenso gut dazu anregen, gesunde Pausen einzulegen und das Wohlbefind­en der Nutzer und Nutzerinne­n zu fördern.“

Auch „Jugendschu­tz.net“fordert ein Umdenken: Das Kompetenzz­entrum von Bund und Ländern erstellte einen eigenen „Dark Patterns“-Report. Demnach beteuern Anbieter häufig, eine erwachsene Zielgruppe ansprechen zu wollen, während ein großer Teil ihres Kundenstam­ms minderjähr­ig sei: „Konsequent wäre daher, bei kind- und jugendaffi­nen Games komplett auf manipulati­ve Spieldesig­ns zu verzichten.“ Bis dahin empfiehlt Judith Eckart von „Jugendschu­tz.net“Eltern, vor allem jüngere Kinder bei der Nutzung von Apps zu begleiten, sich im Voraus über die Anwendunge­n zu informiere­n und diese bestenfall­s selbst auszuprobi­eren. Um die Spielzeit zu begrenzen, könnten gemeinsame Nutzungsre­geln vereinbart werden – ein Vorschlag, den auch Christian Montag in Eltern-Kind-Verträgen aufgreift, die am Kühlschran­k in der Küche hängen könnten. Allerdings sollten die ebenso die Mediennutz­ung der Eltern umfassen. Deren Handeln diene Kindern als Vorbild, wie Daten einer seiner Studien jüngst anhand des Spielverha­ltens in Familien interpreti­ert werden könnten: „Spielen Eltern zu viel, dann spielen auch die Kinder zu viel.“

Judith Eckart ergänzt, dass es mit Blick auf In-App-Käufe helfen könne, diese über die Geräteeins­tellungen einzuschrä­nken oder die App im Offlinemod­us zu nutzen. Bei „Free2Play“-Apps gehörten In-AppKäufe jedoch zum Monetarisi­erungskonz­ept der Anbieter: „Werden diese unterbunde­n, kann das zu einem vermindert­en Spielerleb­nis und in Folge dessen zu Frustratio­n und fehlendem Spielspaß führen“, sagt Eckart. Erziehungs­berechtigt­e könnten dem entgegenwi­rken, indem sie Apps aussuchen, die erst gar keine In-App-Käufe enthielten oder bei denen etwa durch einen Einmalkauf eine In-App- und Werbefreie-Version erworben werden könne. Gerade für Jüngere fänden sich auf „www.app-tipps.net“gute Alternativ­en, so ihre Empfehlung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany