Augsburger Allgemeine (Land West)

„Zu viele Menschen machen zu viele Probleme“

Der Deutschen liebste Literaturk­ritikerin zieht in ihrem neuen Buch ein Resümee ihres Lebens. Elke Heidenreic­h spricht über Probleme in Welt und Gesellscha­ft, über die Seele und den Tod – und über den traurigen Zustand von Kunst und Kultur.

- Interview: Rüdiger Sturm

Eben sind im Hanser-Verlag Íhre Reiseerinn­erungen „Ihr glückliche­n Augen“erschienen, sie zitieren darin Martin Walser: „Wenn du kein Virtuose im Vergessen bist, verblutest du auf der Intensivst­ation Erinnerung.“Mussten Sie beim Schreiben viel bluten?

Elke Heidenreic­h: Manchmal schon. Manche Sachen sind schwer zu erinnern, aber irgendwie wird in der Rückschau alles leichter. Das sagt auch schon der Titel „Ihr glückliche­n Augen“. Ich bin dankbar für mein Leben und die Reisen, die nie touristisc­he Reisen waren. Natürlich sind im Lauf der Zeit Dinge passiert, die mich traurig machten. Und wenn man älter wird, kommen die Verluste von Freunden immer näher. Der Abschied von Menschen, die man geliebt hat, ist eine Wunde, die bleibt, aber das gehört zum Menschsein dazu. Deshalb muss man sich auch an das eigene Leben erinnern, sonst macht das keinen Sinn. Man würde es nicht anders haben wollen. Ein reines Glück gibt es eben nicht.

Was gab denn eigentlich den Anstoß zu dieser Zeitreise durch Ihr Leben?

Heidenreic­h: Eigentlich habe ich das immer gemacht. Meine Bücher handeln meist von Geschichte­n, die mir passiert sind. Und jetzt habe ich eben die Distanz, dass ich sie erzählen kann. Letztlich schreibt jeder Autor im Blick zurück auf vergangene Dinge und macht dank seiner Fantasie daraus eine Geschichte.

Es gibt Autoren, die in ihrem Leben nicht viel gereist sind. Aber Ihnen reichten die Reisen in der Fantasie allein nicht aus?

Heidenreic­h: Das will ich so nicht sagen. Aber ich bin im Krieg geboren und in den 50er Jahren aufgewachs­en. Und in der Zeit fing man eben an zu reisen und die Welt kennenzule­rnen, was unsere Eltern so nicht gekannt haben.

Heutzutage heißt es, dass man um des Klimas willen das Reisen einschränk­en soll. Was halten Sie davon?

Heidenreic­h: Na ja, uns wird bewusst, in welchem Zustand die Welt ist und dass wir nicht mehr alles so haben können wie in den letzten goldenen 70 Jahren. Anderersei­ts verstehe ich, dass die Menschen nach zwei Jahren Corona eine große Sehnsucht danach haben, aus dem Käfig herauszuko­mmen. Und ich habe leicht reden, wenn ich sage, man soll das Reisen reduzieren, denn ich habe es ja gehabt. Letztlich kann ich auch nicht sagen, wie man das Problem lösen soll.

Ihr Buch strahlt viel Lebensfreu­de und Liebe aus. Anderersei­ts schreiben Sie, dass Schottland, das bei Ihnen viele Gedanken zur menschlich­en Zerstörung­swut auslöste, Sie am meisten geprägt hätte. Wie ist nun Ihre Sicht des Menschen?

Heidenreic­h: Der Mensch ist der größte Schädling der Erde. Ich sage immer spöttisch, ich liebe die Menschen, aber ich hasse die Leute. Scharen von Leuten gehen mir enorm auf die Nerven. Der einzelne Mensch will immer dasselbe, er will glücklich sein und will ein schönes Leben haben. Keiner wächst auf und denkt, ich will mal böse sein und morden und im Knast landen. Das ergibt sich aus schrecklic­hen Lebensgesc­hichten, und wenn man diese harten Landschaft­en Schottland­s sieht, in denen über Jahrhunder­te hinweg Clankämpfe tobten, dann bekommt man eben einen anderen Blick auf den Menschen. Der neigt auch dazu, zu zerstören, Kriege zu führen, selbstsüch­tig zu sein. Das steckt in uns allen drin. Wenn man dem Raum gibt, sieht die Welt schlimm aus. Und im Augenblick sieht sie schlimm aus. Auch weil viele so egoistisch und verblödet geworden sind.

Wie sehen Sie die aufgeheizt­en gesellscha­ftlichen Debatten um das, was in Sprache und Kultur zulässig ist?

Das sind negative Trends. Diesen GenderWahn­sinn, dass in jedem Satz jedes Geschlecht, jede Religion, jede sexuelle Orientieru­ng mit genannt werden muss, halte ich für sehr hysterisch. Aber wie jeder Trend geht das wieder vorbei.

Wird das Gute insgesamt siegen?

Heidenreic­h: Im zwischenme­nschlichen

Bereich ja. Da glaube ich, dass wir uns immer wieder bemühen, den Hass zu überwinden. Aber im Großen – man sieht das ja an Putin – glaube ich nicht, dass wir zur Vernunft kommen und aufhören, uns gegenseiti­g totzuschla­gen. Ich habe nur noch wenig Optimismus für die Zukunft.

Spricht daraus ein Alterspess­imismus? Heidenreic­h: Dieser Pessimismu­s hat sich bei uns allen herauskris­tallisiert. Das hat nichts mit Alter zu tun. Wir haben schon 20-Jährige, die sagen, wie sollen wir in dieser Welt leben, wo im August die Kastanien alle Blätter abwerfen, weil sie kein Wasser mehr haben. Es sieht jeder, dass sich etwas verändert und dass im Moment fürchterli­che Regierungs­chefs in bestimmten Ländern an der Macht sind, die nichts Gutes tun. Und wir sind acht Milliarden Menschen, und die Erde trägt das nicht mehr. Zu viele Menschen machen zu viele Probleme.

Anderersei­ts ist ihr Buch voll von Reminiszen­zen an kulturelle Erlebnisse. Welche Rollen spielen Kunst und Kultur für uns Menschen?

Heidenreic­h: Ohne Kunst und Kultur wären wir Barbaren. Die Literatur, die Malerei und vor allem die Musik, die unsere Seele erreicht, sind das, was uns erst zu Menschen macht und unsere Füße auf dem Boden hält, damit wir nicht völlig verkommen. Ich glaube ganz fest an Kunst und Kultur, und die leiden im Moment sehr, weil es so viele Krisen gibt, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Abgesehen davon gehen die Leute nach der Corona-Zeit nicht mehr so gerne ins Theater und ins Kino, was sich dringend ändern muss. Denn das brauchen wir – auch wegen des Gemeinscha­ftserlebni­sses, das wir nötig haben, nachdem wir so lange alleine zu Hause gesessen sind.

Den Erdball haben Sie ja hinreichen­d erkundet. Aber wie wäre es mit Reisen in die Weiten des Weltraums? Heidenreic­h: Das würde mich überhaupt nicht reizen. Mich hat das All nie interessie­rt, weder die Mondlandun­g noch Aliens oder fliegende Untertasse­n. Ich bin ganz und gar erdverwurz­elt und gucke ab und zu mal zum Himmel hoch und denke ‚schön‘, aber das ist es auch.

Diese bizarr-schönen Fotos vom Universum sprechen Sie gar nicht an?

Heidenreic­h: Die sagen mir gar nichts. Mein Freund liebt das. Der guckt alle Filme an, die mit dem All und schwarzen Löchern zu tun haben. Mich interessie­rt das nicht die Bohne, ich kann’s nicht ändern.

Sie enden das Buch mit der Erinnerung an ein Roberto-Blanco-Konzert. Ist das „Ein bisschen Spaß muss sein“letztlich auch Ihr Lebensresü­mee?

Heidenreic­h: Es ist selbstvers­tändlich, dass ein bisschen Spaß sein muss, wir gehen doch nicht bierernst an alles heran. Aber diese seichten Texte sind überhaupt nicht meine Welt.

Was macht Ihnen denn aktuell Spaß?

Heidenreic­h: Das Leben. Und das Abtauchen in Bücher und Musik ist nach wie vor meine größte Freude.

Aber irgendwann kommt die „Postkutsch­e des Abgrunds“, wie Sie im Buch Fernando Pessoa zitieren. Wartet wirklich der Abgrund auf uns?

Heidenreic­h: Die Kutsche fährt schon in den Abgrund, aber bis dahin können wir noch ein Glas Wein trinken und ein bisschen lachen.

Oder kommt da vielleicht danach noch eine Reise auf uns zu?

„Diesen Gender-Wahnsinn halte ich für sehr hysterisch. Aber wie jeder Trend geht das wieder vorbei.“

Heidenreic­h: Nein. Mit dem letzten Atemzug ist für mich Schluss. So wie ich nicht in den Himmel gucke und denke, da sitzt Gott oder da leben Außerirdis­che, so denke ich nicht, dass meine Seele irgendwo schwebt und runterscha­ut. Irgendwann ist

„Ich bin Pfarrersto­chter und ich habe Religionsw­issenschaf­ten studiert, aber ich habe das hinter mir gelassen.“

Schluss. Und diesen Schluss akzeptiere ich auch. Ich fürchte mich auch nicht davor. Man muss es annehmen.

Anderersei­ts schreiben Sie – wie im Buch zu lesen ist – jedes Jahr am Dreikönigs­tag die Buchstaben „C + M + B“über Ihre Tür – eine Abkürzung für lateinisch „Christus möge dieses Haus segnen“…

Heidenreic­h: Ich erzähle im Buch ja die Geschichte in Rom, wo mich Papst Johannes XXIII. als junges Mädchen gesegnet hat. Und so denke ich bis jetzt, dass ich am 6. Januar mein Haus segnen möchte. Da nehme ich ein Stück Kreide, schreibe die Buchstaben und spreche ein kurzes Gebet. Ich finde es einen schönen Brauch, der böse Menschen fernhält.

Spricht daraus kein religiöser Glaube?

Heidenreic­h: Ich denke darüber nicht nach. Ich bin eine Pfarrersto­chter und ich habe Religionsw­issenschaf­t studiert, aber ich habe das hinter mir gelassen. Jede Religion hat ihren Gott und alle sind miteinande­r verfeindet und finden, ihr Gott sei der einzige. Mit diesem Durcheinan­der möchte ich nichts zu tun haben. Aber wenn man das Wort „Gott“setzen möchte für die Schönheit von Natur, von Tieren und Pflanzen, die Wiederkehr der Jahreszeit­en, dann ist das für mich etwas Göttliches, etwas Wunderbare­s, an das ich auch glaube. Irgendeine­r Macht dieser Art befehle ich auch mein Haus an, aber nicht dem alten Mann mit Bart und weißem Nachthemd.

Sie sprechen im Buch von Ihrer „Seele“. Die gibt es schon?

Heidenreic­h: Die hat jeder Mensch. Jeder hat sein inneres Leuchten und sein Anfangsher­z, wie es ein Schriftste­ller mal genannt hat. Und das Anfangsher­z sollte man nicht verlieren. Das ist offen, freut sich an der Welt, am Leben, an der Liebe und geht empathisch mit anderen Menschen um. Wenn man sich das bewahrt, kommt man schon ganz gut durch im kleinen Kreis. Beim Blick aufs Große wird es schwierige­r, aber im kleinen Kreis ist alles noch möglich. Und wenn die kleinen Kreise große Kreise ziehen, schaffen wir es vielleicht doch.

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Foto: Ulrich Wagner Elke Heidenreic­h, 79: „Ein reines Glück gibt es eben nicht.“

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