Augsburger Allgemeine (Land West)
Eugen Ruge: Metropol (31)
Nach solchen Gesprächen pflegt er die Durchschriften ihrer beiden Erklärungen durchzugehen: ob sich irgendwelche Widersprüche zwischen den Texten auftun könnten. Aber da sie den Inhalt während Charlottes Besuchen im Krankenhaus sorgfältig abgesprochen haben, stimmen die Erklärungen überein – beinahe zu sehr. Das könnte verdächtig sein, fürchtet Charlotte, und nicht die Tatsache, dass es hier oder da kleine Abweichungen gibt. Andererseits: Ist denn nicht jedes Wort wahr? Warum sollte die Wahrheit von der Wahrheit abweichen?
Später liegt sie im Bett und versucht, die Tscheljuskin weiterzulesen. Die Nordpassage, plötzlich versteht sie es nicht mehr: wieso man die gefährliche Route mit einem Frachter bezwingen will, bevor man dasselbe mit einem Eisbrecher versucht hat. Hat sie etwas überlesen? Versteht sie irgendetwas falsch?
Sie blättert zurück, beginnt noch einmal von vorn. Ihre Augen irren auf den kyrillischen Buchstabenketten umher. Es ist zwecklos. Sie knipst die Nachttischlampe aus. Über ihr die goldenen Sterne. Hin und wieder glühen sie auf – und verlöschen wieder. Sechzehn Sternschnuppen. Sechzehn Wünsche.
Ein Wunsch würde ihr genügen. Sie wünscht sich, dass das hier bald zu Ende sei. Eine neue Arbeit. Vielleicht in einem Verlag? Am liebsten bei der VEGAAR, der Verlagsgenossenschaft Ausländischer
Arbeiter, wo Hildes Mann tätig ist. Jedoch, das entscheidet nicht sie. Das entscheidet die Kaderabteilung der Komintern. Das entscheiden Leute wie Erna Mertens.
Oder bedeutet es: sechzehn Tage?
Heute wäre der dritte. Noch dreizehn Tage Ungewissheit. Keine schöne Vorstellung.
Die Ölsardinen sind gegessen, die Wurst ist aufgebraucht – was davon übrig war. Plötzlich ist der November da.
Die ersten Schneeflocken fallen und tauen wieder. Die Stadt bereitet sich auf den 19. Jahrestag der Oktoberrevolution vor, nach dem neuen Kalender der 7. November.
Auf dem Roten Platz wird die Tribüne aufgebaut. Absperrungen werden vorbereitet, Transparente aufgestellt. Überall in der Stadt lärmen Lautsprecher. Rundfunkansprachen und Aufrufe werden übertragen.
Revolutionäre Lieder erklingen und immer wieder, wie eine Hymne, auch jenes Lied aus dem Film, den sie immer noch nicht gesehen haben:
Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt,
denn es gibt kein andres Land auf Erden,
wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!
Inzwischen hat Charlotte mitbekommen, dass der Kameramann des Films hier wohnt: Wladimir Semjonowitsch Nilsen, ein junger Mann, aber schon berühmt. Es heißt, er sei befreundet mit Pudowkin und sogar mit Eisenstein. Er und seine Freunde waren die lärmenden Russen beim Frühstück.
Was sie noch herausbekommen hat: Der grimmige graue Herr mit gezwirbeltem Schnauzer und Lenin-Orden, der ein paar Zimmer weiter in Nummer 433 wohnt, ist niemand anders als Matwej Konstantinowitsch Muranow, ehemals Mitglied des Revolutionären Militärkomitees, ebenjenes Komitees, das - nach früherer Darstellung – die Oktoberrevolution organisiert hat. Dass ein Altbolschewik und Träger des Lenin-Ordens gleich nebenan wohnt, empfindet Charlotte als gutes Zeichen. Dass der Mann allerdings unmittelbar mit Trotzki bekannt war, welcher Vorsitzender jenes Komitees gewesen ist, scheint das Positive aufzuwiegen. Aber war nicht auch Hilde irgendwie mit Trotzki bekannt? Und Abramow-Mirow? Sogar Stalin war ja im Grunde mit Trotzki bekannt. Und eigentlich auch mit Sinowjew, mit Kamenew, mit Smirnow… Plötzlich ist ihr vollkommen schleierhaft, wieso ausgerechnet ihnen vorgeworfen wird, mit jemandem wie Alexander Emel bekannt gewesen zu sein.
Mehr als von dem grimmigstummen Muranow wird das Leben in ihrem Flügel allerdings von der Großfamilie beherrscht, die hier anscheinend mehrere Zimmer belegt hat, mit Großeltern, Tanten und Kindern – sowie jenem stattlichen, knapp vierzigjährigen Mann von georgischem oder jedenfalls südlichem Äußeren, den Charlotte eines Abends mit seiner Aktentasche aus einem schwarzen Dienstwagen steigen sieht. Es handelt sich um das Politbüromitglied Jewgeni Iljitsch Weger. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass jene schlanke, ganz unsowjetisch aussehende Schönheit zu ihm gehört, die ihren Kindern hin und wieder französische Worte zuwirft?
Und noch jemand wohnt auf der Etage. Eines Morgens entdeckt Charlotte auf dem Flur den Genossen Fainstein, einst Vorgesetzter von Isa Koigen in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Er steht, sie traut ihren Augen kaum, mit einem halbvollen Nachttopf vor der Gemeinschaftstoilette, wo um diese Zeit reger Betrieb herrscht. Tatsächlich scheint es hier auch Zimmer ohne Bad zu geben. Dass ausgerechnet Fainstein, ein alter, verdienter Genosse, ein solches bewohnt, ist verwirrend. 32. Fortsetzung folgt