Augsburger Allgemeine (Land West)
Das aufwühlendste Jahr seines Lebens
2022 kam so vieles anders als gedacht. So erging es auch Wolfgang Gensberger aus Neuburg. Eine Geschichte über eine Hilfsaktion, aus der Großes entstanden ist, ein Leben mit drei ukrainischen Familien unter einem Dach und die Krise, die auch den Unternehm
Wolfgang Gensberger sitzt am Schreibtisch, hinter ihm zwei Kisten mit Lebensmitteln und Toilettenpapier, die eben noch jemand gebracht hat, vor ihm das Schreiben des Gasanbieters mit der Kündigung. „Wieder so was“, sagt er. Doch Gensberger kommt nicht weiter, das Handy piepst, wieder einmal. Eine Nachricht von Maryanna, es geht um den Transporter, der auf dem Weg an die polnisch-ukrainische Grenze ist. „Acht Krankenhausbetten, die letzte Lieferung für dieses Jahr“, erklärt Gensberger. Er schiebt die Lesebrille in das grau melierte Haar und wischt sich kurz über die Augen. So, als könnte er es manchmal selbst nicht glauben. So, als müsste er sich noch einmal klarmachen, was für ein Jahr das war.
2022 – ein verrücktes Jahr? Ein irres Jahr? Gensberger, 52, hält einen Moment lang inne. „Nein“, sagt er. „Herausfordernd war es. Herausfordernd ohne Ende.“
Wer Gensbergers Geschichte verstehen will, muss die Zeit zurückdrehen. Zurück zu den Plänen, die der Neuburger für 2022 eigentlich hatte. Gensberger führt hier in Neuburg eine Baufirma mit zwölf Mitarbeitern. Er deutet auf die andere Straßenseite, zu dem beigefarbenen Haus, das er und seine Frau hier im Gewerbegebiet gekauft hatten. „Wir waren mitten im Umbau.“Ein Anbau wurde gemacht, im bestehenden Teil Wände versetzt; die Bank riet zu einem flexiblen Zinssatz. Auch so eine Sache, die er nun anders machen würde. „Aber war doch alles super zu der Zeit“, meint Gensberger. „Wer hätte denn gedacht, dass es zu einem Krieg kommt?“
Wenn man so will, war 2022 für viele genau das. Ein Jahr, in dem vieles anders kam als gedacht, in dem Pläne über den Haufen geworfen und Wirtschaftsprognosen obsolet wurden. Stattdessen: Ukraine-Krieg, Energiekrise, Rekordinflation.
Es ist der 24. Februar, als Putin eine „militärische Sonderoperation“in der Ukraine ausruft – und damit de facto den Krieg erklärt. Noch am selben Tag fallen russische Streitkräfte mit Panzern und anderen Militärfahrzeugen von Norden, Osten und Süden her in der Ukraine ein. Wolfgang Gensberger hat das Datum genau im Kopf. Und auch, dass er, wie so viele, vor dem Fernseher saß, gebannt, geschockt. Gensberger scrollt sich durch die Nachrichten auf seinem Handy, rekapituliert, wie das so war.
Zwei Tage darauf meldet sich sein Freund Markus Langer aus Erding, bekannt als Comedian Sepp Bumsinger, und fragt nach einem Transporter für eine Hilfslieferung in die Ukraine, die er über seinen Verein Helferschwein organisieren will. Gensbergers Frau Jana, die selbst Wurzeln in die Ukraine hat, sagt: „Das machen wir größer.“Ihr Mann startet ein Aufruf via Facebook und im Radio, bittet um Hilfsgüter für die Menschen in der Ukraine, um einen zweiten Transporter zu füllen.
Was dann passiert, hat er so nicht erwartet. „Dann ist es förmlich über uns hereingebrochen. Von da an war hier Land unter.“Gensberger wischt durch die Fotos auf seinem Handy. „Da, die erste Kiste, am 27. Februar, 8.54 Uhr.“„Da, der ganze Parkplatz, der voller Kisten steht. Und drei Meter hoch stapeln sich die Kisten im Büro.“Und dann die anderen Geschichten, die geblieben sind. Der Getränkehersteller, der vier Paletten Wasser vorbeibrachte. Der Autovermieter,
der die Fahrzeuge kostenlos zur Verfügung stellte. Der Rewe-Leiter, der einen kompletten Kleinbus voller Lebensmittel spendierte. Oder der befreundete Großbäcker, der abends um halb zehn anrief, Gensberger liegt da gerade in der Badewanne. „Noch in der Nacht hat er die Produktion umgestellt und ließ es Linie mit 1000 Broten fahren, mit Konservierungsstoffen, alle einzeln verpackt. Die Mitarbeiter haben alle umsonst in der Zusatzschicht gearbeitet.“Jana Gensberger zeigt ein Foto auf dem Handy, wie zum Beweis, dass das alles wirklich passiert ist.
Es sind Erinnerungsfetzen, die den Gensbergers aus dieser Zeit geblieben sind. Menschen vor der Tür, die einfach reden wollten. Die weinende alte Frau, die sie getröstet haben. Das Handy, das ununterbrochen klingelte – „bis zu 300 Mal am Tag“. „Wir waren wie unter Drogen“, erinnert sich Wolfgang Gensberger. Kisten schleppen, Fahrzeuge beschaffen, Fahrer organisieren, telefonieren, telefonieren, telefonieren. „Ich hatte irgendwann keine Stimme mehr.“Seine Frau hat in diesen Tagen einfach unentwegt Tee gekocht.
Der Plan mit den beiden Transportern ist so nicht aufgegangen. Am Schluss waren es 38 Transporter und Lastwagen, die von Neuburg aus an die polnisch-ukrainische
Grenze nach Przemysl starteten. Eine beschwerliche Reise. 1200 Kilometer Fahrt einfach, für die Fahrer stundenlanges Warten an der Grenze, weil der Lastwagen aus der Ukraine, der die Waren abholen soll, nicht kam. „Für die Helfer war das ein Horrortrip“, sagt Gensberger. „Schon, weil dass damals noch völlig unorganisiert war.“
In den Tagen darauf knüpft Gensberger Kontakt zum zweiten Bürgermeister von
Lwiw und zu Maryanna, die für die EU tätig ist. Maryanna organisiert ein Warenlager, das Gensbergers Leute anfahren können, Helfer, die vor Ort sind zum Abladen. Und Gensberger sammelt Spenden und besorgt, was die Menschen im Kriegsgebiet brauchen. Schnell ist das keine Kleidung mehr, sondern es sind Lebensmittel, medizinische Ausrüstung, Stromaggregate und Wasserpumpen. Nur bei den kugelsicheren Westen musste er passen. „Ich hab’s versucht“, sagt er. „Aber so etwas kriegt man in Deutschland einfach nicht.“
Wie viele Transporte Gensberger in die Ukraine geschickt hat? Der 52-Jährige zuckt mit den Schultern, er weiß es nicht. Vielleicht 15, vielleicht 20. Es sind nicht die Zahlen, die geblieben sind, sondern die Geschichten von Menschen. Wie die von der Frau mit dem schwerst behinderten Sohn, die in einem ausgebombten Hochhaus festsaßen. Der zweite Bürgermeister von Lwiw habe sie nach Polen bringen lassen, erzählt Gensberger, in Krakau holte einer seiner Mitarbeiter sie ab und brachte sie nach Neuburg. Eine Bekannte räumte extra ihr Yogastudio, um Platz zu schaffen.
Oder die Geschichte von Olga Volosianko. Gensberger hatte eine Website für die von ihm gegründete „Ukraine-Hilfe Bayern“anlegen lassen. Es ist der 14. März, als Olga Volosianko auf der Website landet und eine Handynummer entdeckt. Die Frau ist mit ihren drei Kindern aus IwanoFrankiwsk südlich von Lwiw geflohen. 37 Stunden standen sie an der Grenze nach Polen. Dort angekommen überlegt die Mutter, wo sie in Deutschland unterkommen kann. Sie schreibt Gensberger an, setzt sich in einen Zug nach Ingolstadt. In dem Haus gegenüber der Baufirma, das Gensberger zu dieser Zeit saniert, wird auf die Schnelle eine Wohnung fertig gemacht. Als Olga Volosianko mit ihren Söhnen Sascha und Jeremia
und Tochter Alisa ankommt, hat jeder von ihnen nur einen Rucksack dabei. Mittlerweile haben sie sich ein Leben aufgebaut, Olga und die Tochter arbeiten in einer Knödelfabrik, die Söhne gehen zur Schule.
Inzwischen ist in das Geschäftshaus, das Gensberger gekauft und kurzerhand zum Wohngebäude umfunktioniert hat, noch mehr Leben eingekehrt. Im untersten Stock wohnt Viktoria, eine junge Frau mit ihrer gehbehinderten Mutter, im Stockwerk darüber Iryna mit ihren beiden Söhnen. Mithilfe von Spenden hat Gensberger Waschmaschinen und Schränke für die Familien organisiert, Teller, Tassen und Besteck gekauft. Er hat ihnen bei Behördengängen am Landratsamt geholfen, „das funktioniert ohnehin super in Neuburg.“
Trotzdem gab es Zeiten, in denen all das Gensberger schwer zugesetzt hat. Die Schicksale der Familien. Das Leben, das sie zurückgelassen haben. Die Ungewissheit, wie es weitergeht. „Wir wohnen im selben Haus. Da kriegt man die Sorgen mit“, erzählt der 52-Jährige. „Oft sind mir einfach nur die Tränen runtergelaufen.“Seine Frau ließ an vielen Abenden Relaxmusik auf dem Handy laufen, um abzuschalten.
Gensbergers Ukraine-Hilfe hat sich verändert. Hilfstransporte wie die Betten, die in diesen Tagen nach Lwiw gebracht werden, gibt es nach wie vor. Aber sie sind weniger geworden. Spenden kommen nur noch, wenn er einen Aufruf startet; die Übernachtungskosten der Fahrer bei den Transporten zahlt Gensberger aus seiner Tasche. Im Sommer, sagt er, wurden die Menschen irgendwann müde, müde vom Krieg. „Am Anfang wollte jeder helfen. Da ist fast so etwas wie ein Wettbewerb entstanden. Jetzt schauen die Leute auf sich selbst.“Kein Wunder, da die Folgen des Kriegs auch in Deutschland angekommen sind. Da das Leben immer teurer wird. Es reicht ein Blick in die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts: Wer Lebensmittel einkauft, zahlt gut 20 Prozent mehr als noch vor einem Jahr, Strom kostet gut 27 Prozent mehr, bei Heizöl sind es 55 Prozent mehr. Erdgas hat sich mehr als verdoppelt.
„Uns hat das brutal getroffen“, sagt Gensberger. Am Schreibtisch vor ihm liegen Angebote und Rechnungen – Papier, das belegt, das vieles anders kam, als es kalkuliert war. Beim Trockenbaumaterial etwa gab es in den schlimmsten Phasen jede Woche zwei Preiserhöhungen, erzählt der Unternehmer. Jetzt ist es doppelt so teuer wie noch vor einem Jahr. Die Angebote aber, die er abgegeben hatte, bezogen sich auf die alten Preise. Bei bestimmten Bauprojekten, „da wusste ich einfach, dass ich Geld mitbringen muss“. Andere Angebote wiederum waren hinfällig, weil die Kunden ihre Aufträge zurückgezogen haben, die Ware aber war trotzdem bestellt. Bei manchen Projekten haben die Auftraggeber nicht bezahlt. Dann die deutlich höheren Dieselpreise. „Und es war ja auch Corona, ständig waren Leute krank“, sagt Gensberger. „Ich hab in diesem Jahr sicher keinen Gewinn gemacht.“Gensberger hat die nötige Gelassenheit, um zu wissen, dass sich bestimmte Dinge nicht ändern lassen. „So ist das eben im Leben.“
2022 – was war das für ein Jahr? „Herausfordernd“, sagt Gensberger noch einmal. Aber dass für ihn das Positive überwiegt. „Ich geh mit einem guten Gefühl ins neue Jahr. Wir haben das Maximale getan.“Eines aber wünscht er sich: „Dass dieser Krieg ein Ende nimmt.“
„Am Anfang wollte jeder helfen. Jetzt schauen die Leute auf sich selbst.“
Wolfgang Gensberger