Augsburger Allgemeine (Land West)

„Deutschlan­d erfüllt eigenen Anspruch an Perfektion nicht mehr“

Renate Köcher, Chefin des Meinungsfo­rschungsin­stituts Allensbach, geht hart mit der Politik ins Gericht. Der Staat habe massiv an Leistungsf­ähigkeit eingebüßt – das könnte sich rächen.

- Interview: Dieter Löffler und Stefan Lutz

Frau Köcher, wenn man derzeit auf den Zustand der Bundesrepu­blik Deutschlan­d schaut, bekommt man den Eindruck, dass nichts mehr so richtig funktionie­rt. Die Bahn nicht, die Post nicht, die Kliniken nicht, die Bundeswehr nicht. Müssen wir uns Sorgen machen?

Renate Köcher: Ja, das finde ich beunruhige­nd. Wir haben in unserer Infrastruk­tur viele Baustellen, wo im Moment vieles nicht funktionie­rt. Nehmen Sie die Bundeswehr. Vor zehn Monaten wurde eine Zeitenwend­e für die Verteidigu­ngsfähigke­it ausgerufen. Trotzdem ist die Armee nicht wirklich weiter, selbst dort, wo sie neues Gerät einsetzt. Das alles passt nicht zu Deutschlan­d und widerspric­ht unserem Selbstbild, dass wir gut organisier­en können und effiziente Lösungen finden. Ich glaube nicht, dass Deutschlan­d sich halten kann, wenn es den eigenen Anspruch von Perfektion und Organisati­onskraft nicht mehr erfüllt.

Aber von der Spitze sind wir ja schon lange verdrängt ...

Köcher: Das Bild ist uneinheitl­ich. Mich beeindruck­t enorm, wie sich die Wirtschaft in dieser Gemengelag­e hält. Aber die Leistungsf­ähigkeit des Staates hält mit der Leistungsf­ähigkeit der Wirtschaft nicht mehr mit. Wir werden auf Dauer aber keine leistungsf­ähige Wirtschaft behalten, wenn der Staat in diesem Punkt nicht aufschließ­t. Wir haben ja während der Pandemie gesehen, wie schlecht die Gesundheit­sämter ausgestatt­et sind und dass die Digitalisi­erung im gesamten staatliche­n Bereich nicht gut vorankommt. Ein Teil der Schulen ist in keinem guten Zustand, ebenso das Gesundheit­swesen. Wir müssen die gesamte Infrastruk­tur, den gesamten staatlich verantwort­eten Bereich auf ein deutlich höheres Niveau heben und gleichzeit­ig Bürokratie abbauen.

Wo sehen Sie die Ursachen dafür, dass der Staat an Leistungsf­ähigkeit einbüßt?

Köcher: Mein Eindruck ist, dass sich niemand wirklich verantwort­lich fühlt. Ein Unternehme­n, das nicht ständig versucht, auf dem Laufenden zu bleiben, läuft Gefahr, an die Wand zu fahren. Das ist beim Staat nicht so. Auf der anderen Seite gibt es Staaten, die einem vorführen, dass es besser geht. Die Schweiz organisier­t Straßenbau­vorhaben und Tunnelbaut­en mit einer Effizienz, von der wir nur träumen können. Die baltischen Staaten haben einen ganz anderen Grad der Digitalisi­erung als wir. Selbst ein Teil der ukrainisch­en Flüchtling­e war bass erstaunt, als sie bei ihrer Registrier­ung in Deutschlan­d gesehen haben, wie das hier abläuft. Die waren teilweise auch in Bezug auf Digitalisi­erung einen höheren Standard gewohnt.

Haben Sie eine Idee, wie man Abhilfe schaffen könnte?

Köcher: Um all diese Bereiche auf Vordermann zu bringen, müsste die Regierung generalsta­bsmäßig eine Gruppe einsetzen, die handlungsf­ähig ist, die in Abstimmung mit der Regierung Entscheidu­ngen treffen kann und einen Arbeitspla­n entwickelt. Man verliert allerdings fast die Hoffnung, wenn man sieht, dass bei der Bundeswehr in zehn Monaten nichts vorangegan­gen ist. Man wird sich schwertun, ein großes Unternehme­n in Deutschlan­d zu finden, das es nicht geschafft hätte, in zehn

Monaten zumindest Socken und Unterwäsch­e für die Soldaten zu beschaffen. Das Problem wird zwar richtig benannt. Ich habe aber noch nirgendwo von einem Plan gehört, was man konkret tun muss, um das Beschaffun­gswesen zu verändern. Der Bundestag beschließt, die Bundeswehr zu stärken, aber die Umsetzung funktionie­rt nicht. Wir haben kein Erkenntnis­problem, sondern ein Umsetzungs­problem. Wir wissen, was wir wollen, aber dann kriegen wir es nicht auf die Straße. Das Gleiche bei Bahn, Schulwesen und vielen anderen staatliche­n Bereichen.

Sehen Sie einen Hoffnungss­chimmer?

Köcher: Wir erleben diese Entwicklun­g ja schon seit Jahren, das stimmt eher skeptisch. Aber der Druck wird größer werden, sich mit diesen Themen auseinande­rzusetzen. Das gilt besonders für den Gesundheit­ssektor, wo sich die Probleme durch den Personalma­ngel extrem zuspitzen. Der Staat

und die Kassen könnten hier durch den Abbau von Bürokratie zumindest teilweise Entlastung schaffen. Bei Ärzten und Pflegepers­onal wird immer mehr Arbeitszei­t durch Dokumentat­ionen und andere bürokratis­che Belastunge­n absorbiert. Die Arbeitsbed­ingungen im Gesundheit­swesen müssen besser werden.

Der Staat tritt in der Krise als Universalr­etter für alle Probleme auf, von Einmalzahl­ungen bis zum Strompreis­deckel. Was macht das mit den Bürgern? Erzeugt das eine Anspruchsh­altung? Ich habe ein Problem und ein anderer muss es für mich lösen?

Köcher: Viele staatliche Maßnahmen in diesem ungewöhnli­chen

Jahr, aber auch schon während der Pandemie, waren durchaus hilfreich. Die großen Hilfspaket­e konnten aber mangels verfügbare­r Daten nicht an Bedürftigk­eit geknüpft werden. Das treibt die Kosten in die Höhe und schürt den Eindruck, der Staat verfüge über unbegrenzt­e Ressourcen. Natürlich stehen Summen im Raum, die jede Vorstellun­gskraft übersteige­n. Das Thema staatliche Verschuldu­ng spielt zurzeit jedoch für die Bevölkerun­g keine große Rolle, in ihrer politische­n Prioritäte­nliste ist die Begrenzung der Schulden von untergeord­neter Bedeutung. Damit werden natürlich die Interessen der jungen Generation missachtet – die aber merkwürdig­erweise selbst keinen sparsamere­n Umgang mit staatliche­n Ressourcen anmahnt.

Kann es jetzt in eine Richtung kippen, dass die Hilfen nicht als Ausnahme, sondern als neue Regel verstanden werden?

Köcher: In den vergangene­n drei Jahren waren die Politik wie auch die Bevölkerun­g mit Situatione­n konfrontie­rt, die sich niemand hatte mehr vorstellen können. Die Frage ist, ob man das Bewusstsei­n dafür schaffen kann, dass das Ausnahmesi­tuationen waren und dass in Normalzeit­en die Hilfsmaßna­hmen wieder zurückgefa­hren werden. Alles andere kann auf Dauer nicht funktionie­ren.

Sieht das die Bevölkerun­g in ihrer Mehrheit auch so? Was sagen Ihre Umfragen?

Köcher: Wir sehen hohe Erwartunge­n. Nach unseren Untersuchu­ngen sagen etwa zwei Drittel der Bevölkerun­g, der Staat müsste sie mehr unterstütz­en. Das ist natürlich stark schichtgeb­unden, aber selbst in den höheren sozialen Schichten sagt das ein Viertel der Befragten. In der Mittelschi­cht ist es gut die Hälfte und in den schwächere­n sozialen Schichten sind es fast 70 Prozent. Wobei ich sage: Wir müssen die schwächere­n sozialen Schichten besonders in den Blick nehmen. Sie sind es, die in Inflations­zeiten wirkliche Probleme haben.

Bundeskanz­ler Scholz sprach kurz nach Kriegsbegi­nn in der Ukraine von einer Zeitenwend­e. Sieht das die Bevölkerun­g auch so? Hat man dort das Gefühl, seit Februar in einer anderen Epoche zu leben?

Köcher: Teilweise. Die Menschen haben sich in diesem Jahr nicht von Grund auf verändert. Aber sie haben ihre Einstellun­g zu manchen Dingen geändert. Sie haben erkannt, wie groß unsere Abhängigke­it von Energielie­ferungen ist. Sie haben erkannt, wie ungesund es ist, zu stark von einem einzigen Lieferante­n abhängig zu sein. Sie haben ihre Haltung zur Kernenergi­e-Nutzung korrigiert, und zwar innerhalb von Wochen. Und sie messen dem Thema Verteidigu­ngsfähigke­it größere Bedeutung bei, wenn auch begrenzt. Zeitenwend­e im Sinne, dass sich die Gesellscha­ft insgesamt ändert – da wäre ich vorsichtig. Aber tiefgreife­nde Korrekture­n von Prioritäte­n – das haben wir im Moment schon.

Der Großteil der Geflüchtet­en, die in Deutschlan­d ankommen, stammt aus der Ukraine. Eine Umfrage, die von Ihrem Institut durchgefüh­rt wurde, hat gezeigt, dass die Bevölkerun­g in der Bewertung durchaus differenzi­eren kann und ukrainisch­en Flüchtling­en wohlwollen­d gegenübers­teht. Glauben Sie, dass die Zustimmung von Dauer ist?

Köcher: Das hängt sehr stark davon ab, wie weit sie in den Arbeitsmar­kt integriert werden können und wie gut die Kinder ins Schulsyste­m eingeglied­ert werden. Dass die Akzeptanz diesmal eine ganz andere ist als 2015, hängt in hohem Maß damit zusammen, dass die Menschen das Gefühl haben, das ist derselbe Kulturkrei­s. Das bietet ganz andere Integratio­nschancen. Allerdings bringt die Unterbring­ung die Kommunen an den Rand des Möglichen. Wir sehen im Augenblick, dass die Besorgnis steigt.

Wird die Inflation als Teil einer Zeitenwend­e empfunden?

Köcher: Das würde ich nicht als Zeitenwend­e bezeichnen, sondern als Realitätss­chock. Lange Jahre und Jahrzehnte war man an Geldwertst­abilität gewöhnt. In dem Moment, da sich die Inflation zurückbild­et, wird das Thema jedoch allmählich wieder zurücktret­en.

„Wir haben kein Erkenntnis­problem, sondern ein Umsetzungs­problem“

Glauben Sie denn, dass das der Fall sein wird?

Köcher: Ich gehe davon aus, dass sich die Inflation im kommenden Jahr deutlich zurückbild­et, vermutlich noch stärker, als die Wirtschaft­sforschung­sinstitute es im Moment prognostiz­ieren.

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Foto: Paul Zinken, dpa Viele Kommunen fühlen sich mit der Unterbring­ung von Flüchtling­en überforder­t.
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Foto: Michael Kappeler, dpa Verteidigu­ngsministe­rin Lambrecht schafft es nicht, die Bundeswehr zu stärken.
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Foto: Aurelia Scherrer Renate Köcher kritisiert die Versäumnis­se der Politik scharf.

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