Augsburger Allgemeine (Land West)
„Deutschland erfüllt eigenen Anspruch an Perfektion nicht mehr“
Renate Köcher, Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, geht hart mit der Politik ins Gericht. Der Staat habe massiv an Leistungsfähigkeit eingebüßt – das könnte sich rächen.
Frau Köcher, wenn man derzeit auf den Zustand der Bundesrepublik Deutschland schaut, bekommt man den Eindruck, dass nichts mehr so richtig funktioniert. Die Bahn nicht, die Post nicht, die Kliniken nicht, die Bundeswehr nicht. Müssen wir uns Sorgen machen?
Renate Köcher: Ja, das finde ich beunruhigend. Wir haben in unserer Infrastruktur viele Baustellen, wo im Moment vieles nicht funktioniert. Nehmen Sie die Bundeswehr. Vor zehn Monaten wurde eine Zeitenwende für die Verteidigungsfähigkeit ausgerufen. Trotzdem ist die Armee nicht wirklich weiter, selbst dort, wo sie neues Gerät einsetzt. Das alles passt nicht zu Deutschland und widerspricht unserem Selbstbild, dass wir gut organisieren können und effiziente Lösungen finden. Ich glaube nicht, dass Deutschland sich halten kann, wenn es den eigenen Anspruch von Perfektion und Organisationskraft nicht mehr erfüllt.
Aber von der Spitze sind wir ja schon lange verdrängt ...
Köcher: Das Bild ist uneinheitlich. Mich beeindruckt enorm, wie sich die Wirtschaft in dieser Gemengelage hält. Aber die Leistungsfähigkeit des Staates hält mit der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht mehr mit. Wir werden auf Dauer aber keine leistungsfähige Wirtschaft behalten, wenn der Staat in diesem Punkt nicht aufschließt. Wir haben ja während der Pandemie gesehen, wie schlecht die Gesundheitsämter ausgestattet sind und dass die Digitalisierung im gesamten staatlichen Bereich nicht gut vorankommt. Ein Teil der Schulen ist in keinem guten Zustand, ebenso das Gesundheitswesen. Wir müssen die gesamte Infrastruktur, den gesamten staatlich verantworteten Bereich auf ein deutlich höheres Niveau heben und gleichzeitig Bürokratie abbauen.
Wo sehen Sie die Ursachen dafür, dass der Staat an Leistungsfähigkeit einbüßt?
Köcher: Mein Eindruck ist, dass sich niemand wirklich verantwortlich fühlt. Ein Unternehmen, das nicht ständig versucht, auf dem Laufenden zu bleiben, läuft Gefahr, an die Wand zu fahren. Das ist beim Staat nicht so. Auf der anderen Seite gibt es Staaten, die einem vorführen, dass es besser geht. Die Schweiz organisiert Straßenbauvorhaben und Tunnelbauten mit einer Effizienz, von der wir nur träumen können. Die baltischen Staaten haben einen ganz anderen Grad der Digitalisierung als wir. Selbst ein Teil der ukrainischen Flüchtlinge war bass erstaunt, als sie bei ihrer Registrierung in Deutschland gesehen haben, wie das hier abläuft. Die waren teilweise auch in Bezug auf Digitalisierung einen höheren Standard gewohnt.
Haben Sie eine Idee, wie man Abhilfe schaffen könnte?
Köcher: Um all diese Bereiche auf Vordermann zu bringen, müsste die Regierung generalstabsmäßig eine Gruppe einsetzen, die handlungsfähig ist, die in Abstimmung mit der Regierung Entscheidungen treffen kann und einen Arbeitsplan entwickelt. Man verliert allerdings fast die Hoffnung, wenn man sieht, dass bei der Bundeswehr in zehn Monaten nichts vorangegangen ist. Man wird sich schwertun, ein großes Unternehmen in Deutschland zu finden, das es nicht geschafft hätte, in zehn
Monaten zumindest Socken und Unterwäsche für die Soldaten zu beschaffen. Das Problem wird zwar richtig benannt. Ich habe aber noch nirgendwo von einem Plan gehört, was man konkret tun muss, um das Beschaffungswesen zu verändern. Der Bundestag beschließt, die Bundeswehr zu stärken, aber die Umsetzung funktioniert nicht. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir wissen, was wir wollen, aber dann kriegen wir es nicht auf die Straße. Das Gleiche bei Bahn, Schulwesen und vielen anderen staatlichen Bereichen.
Sehen Sie einen Hoffnungsschimmer?
Köcher: Wir erleben diese Entwicklung ja schon seit Jahren, das stimmt eher skeptisch. Aber der Druck wird größer werden, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Das gilt besonders für den Gesundheitssektor, wo sich die Probleme durch den Personalmangel extrem zuspitzen. Der Staat
und die Kassen könnten hier durch den Abbau von Bürokratie zumindest teilweise Entlastung schaffen. Bei Ärzten und Pflegepersonal wird immer mehr Arbeitszeit durch Dokumentationen und andere bürokratische Belastungen absorbiert. Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen müssen besser werden.
Der Staat tritt in der Krise als Universalretter für alle Probleme auf, von Einmalzahlungen bis zum Strompreisdeckel. Was macht das mit den Bürgern? Erzeugt das eine Anspruchshaltung? Ich habe ein Problem und ein anderer muss es für mich lösen?
Köcher: Viele staatliche Maßnahmen in diesem ungewöhnlichen
Jahr, aber auch schon während der Pandemie, waren durchaus hilfreich. Die großen Hilfspakete konnten aber mangels verfügbarer Daten nicht an Bedürftigkeit geknüpft werden. Das treibt die Kosten in die Höhe und schürt den Eindruck, der Staat verfüge über unbegrenzte Ressourcen. Natürlich stehen Summen im Raum, die jede Vorstellungskraft übersteigen. Das Thema staatliche Verschuldung spielt zurzeit jedoch für die Bevölkerung keine große Rolle, in ihrer politischen Prioritätenliste ist die Begrenzung der Schulden von untergeordneter Bedeutung. Damit werden natürlich die Interessen der jungen Generation missachtet – die aber merkwürdigerweise selbst keinen sparsameren Umgang mit staatlichen Ressourcen anmahnt.
Kann es jetzt in eine Richtung kippen, dass die Hilfen nicht als Ausnahme, sondern als neue Regel verstanden werden?
Köcher: In den vergangenen drei Jahren waren die Politik wie auch die Bevölkerung mit Situationen konfrontiert, die sich niemand hatte mehr vorstellen können. Die Frage ist, ob man das Bewusstsein dafür schaffen kann, dass das Ausnahmesituationen waren und dass in Normalzeiten die Hilfsmaßnahmen wieder zurückgefahren werden. Alles andere kann auf Dauer nicht funktionieren.
Sieht das die Bevölkerung in ihrer Mehrheit auch so? Was sagen Ihre Umfragen?
Köcher: Wir sehen hohe Erwartungen. Nach unseren Untersuchungen sagen etwa zwei Drittel der Bevölkerung, der Staat müsste sie mehr unterstützen. Das ist natürlich stark schichtgebunden, aber selbst in den höheren sozialen Schichten sagt das ein Viertel der Befragten. In der Mittelschicht ist es gut die Hälfte und in den schwächeren sozialen Schichten sind es fast 70 Prozent. Wobei ich sage: Wir müssen die schwächeren sozialen Schichten besonders in den Blick nehmen. Sie sind es, die in Inflationszeiten wirkliche Probleme haben.
Bundeskanzler Scholz sprach kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine von einer Zeitenwende. Sieht das die Bevölkerung auch so? Hat man dort das Gefühl, seit Februar in einer anderen Epoche zu leben?
Köcher: Teilweise. Die Menschen haben sich in diesem Jahr nicht von Grund auf verändert. Aber sie haben ihre Einstellung zu manchen Dingen geändert. Sie haben erkannt, wie groß unsere Abhängigkeit von Energielieferungen ist. Sie haben erkannt, wie ungesund es ist, zu stark von einem einzigen Lieferanten abhängig zu sein. Sie haben ihre Haltung zur Kernenergie-Nutzung korrigiert, und zwar innerhalb von Wochen. Und sie messen dem Thema Verteidigungsfähigkeit größere Bedeutung bei, wenn auch begrenzt. Zeitenwende im Sinne, dass sich die Gesellschaft insgesamt ändert – da wäre ich vorsichtig. Aber tiefgreifende Korrekturen von Prioritäten – das haben wir im Moment schon.
Der Großteil der Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, stammt aus der Ukraine. Eine Umfrage, die von Ihrem Institut durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass die Bevölkerung in der Bewertung durchaus differenzieren kann und ukrainischen Flüchtlingen wohlwollend gegenübersteht. Glauben Sie, dass die Zustimmung von Dauer ist?
Köcher: Das hängt sehr stark davon ab, wie weit sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können und wie gut die Kinder ins Schulsystem eingegliedert werden. Dass die Akzeptanz diesmal eine ganz andere ist als 2015, hängt in hohem Maß damit zusammen, dass die Menschen das Gefühl haben, das ist derselbe Kulturkreis. Das bietet ganz andere Integrationschancen. Allerdings bringt die Unterbringung die Kommunen an den Rand des Möglichen. Wir sehen im Augenblick, dass die Besorgnis steigt.
Wird die Inflation als Teil einer Zeitenwende empfunden?
Köcher: Das würde ich nicht als Zeitenwende bezeichnen, sondern als Realitätsschock. Lange Jahre und Jahrzehnte war man an Geldwertstabilität gewöhnt. In dem Moment, da sich die Inflation zurückbildet, wird das Thema jedoch allmählich wieder zurücktreten.
„Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“
Glauben Sie denn, dass das der Fall sein wird?
Köcher: Ich gehe davon aus, dass sich die Inflation im kommenden Jahr deutlich zurückbildet, vermutlich noch stärker, als die Wirtschaftsforschungsinstitute es im Moment prognostizieren.