Augsburger Allgemeine (Land West)

Nach der Krise ist vor der Krise: Der Kosovo-Teufelskre­is

Die Blockaden fallen, doch keines der Probleme, die den Dauerkonfl­ikt regelmäßig eskalieren lassen, ist gelöst. Der serbische Präsident Vucic heizt die Spannungen regelmäßig gezielt an. Jetzt liegt ein EU-Plan zu Befriedung auf dem Tisch. Eine Analyse.

- Von Simon Kaminski

Das Aufatmen war spürbar: Militante Serben beendeten die Blockade von Verkehrsad­ern, während die Regierung Kosovos Grenzüberg­änge nach Serbien wieder öffnete. Doch bei aller Erleichter­ung darüber, dass die jüngste Eskalation­sspirale gestoppt zu sein scheint – keines der Probleme rund um den Kosovo ist gelöst.

Warum kommt die Region seit mehr als 20 Jahren nicht zur Ruhe? Offene Rechnungen, Nationalis­mus, gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen – der Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien kocht in Wellen hoch, meist internatio­nal nur wenig beachtet. Dafür, dass das diesmal anders ist, sorgte nicht zuletzt der serbische Verteidigu­ngsministe­rs Milos Vucevic mit seinen markigen Worten in der vergangene­n Woche. 5000 Spezialkrä­fte der serbischen Armee würden „in Kampfberei­tschaft versetzt“, sagte Vucevic, um martialisc­h hinzufügen: „Sie werden unsere stärkste Faust sein und die schlechten Ziele derjenigen, die unser Land nicht mögen, in Stücke zerschlage­n.“

Worte, die eine neue Dimension der Auseinande­rsetzungen befürchten ließen. Zuvor hatte sich die Situation bereits hochgescha­ukelt. Serben im Norden des Kosovo hatten in den letzten Wochen zahlreiche Barrikaden errichtet. Schon sprachen Politiker und Medien davon, dass neben dem UkraineKri­eg ein weiterer militärisc­her Konflikt in Europa drohen könnte.

Der Balkan-Experte Florian Bieber von der Universitä­t Graz hielt dieses Szenario bereits vor der sich anbahnende­n Entspannun­g der Lage in einem ARD-Interview für nahezu ausgeschlo­ssen. Nicht nur, weil 4000 Nato-Soldaten im Kosovo stationier­t sind. Auch, weil weder der serbische Präsident Aleksandar Vucic noch der kosovarisc­he Ministerpr­äsident Albin Kurti ein Interesse daran haben, in einen offenen Konflikt zu schlittern.

Das heute nahezu ausschließ­lich von Albanern bewohnte Kosovo gehörte zu Serbien, bevor es 2008 unabhängig wurde – gegen den Willen Belgrads, das das Territoriu­m weiterhin für sich reklamiert­e. Die Wunden der Vergangenh­eit sind längst nicht verheilt. 1998/99 führten serbische Truppen Krieg gegen die kosovarisc­hen Unabhängig­keitskämpf­er der UCK, dabei wurden Zivilisten getötet und vertrieben. Schließlic­h griff die Nato im Frühjahr 1999 ein – Kampfjets bombardier­ten Serbien und Montenegro, das damalige Rest-Jugoslawie­n. Serbische Sicherheit­skräfte und die serbische Verwaltung mussten sich aus dem Kosovo zurückzieh­en. Bis 2008 wurde das heutige Staatsgebi­et von den Vereinten Nationen verwaltet.

Vucic’ Hebel zur Destabilis­ierung des jungen Staates Kosovo, der internatio­nal längst nicht von allen Ländern anerkannt wird, ist das Gebiet nördlich der geteilten Stadt Mitrovica an der Grenze zu Serbien. Dort wohnen rund 50.000 ethnische Serben.

Vucic tut alles, um die Bewohner des Gebiets gegen die kosovarisc­he Regierung in der Hauptstadt Pristina aufzubring­en. Der serbische Präsident hat zu diesem Zweck eine Politik des Wechsels von „Eskalation und Deeskalati­on bis zur Perfektion“entwickelt, wie René Schlee, der das Büro der

Friedrich-Ebert-Stiftung in Pristina leitet, im Deutschlan­dfunk erklärte. So seien auch die jüngsten Provokatio­nen in erster Linie eine „politische Show von Vucic“gewesen.

Dennoch kommt der Abbau der Blockaden zur rechten Zeit. Schließlic­h hatte Kurti bereits angekündig­t, dass die Kosovo-Polizei die Straßenspe­rren der Serben beenden werde, wenn die seit über 20 Jahren stationier­ten KFOR-Truppen der Nato nicht eingreifen würden – in diesem Fall hätte es durchaus zu Schießerei­en zwischen Polizeikrä­ften und bewaffnete­n Serben kommen können.

Genau dies wollen EU und Nato unter allen Umständen vermeiden. Es war schließlic­h ein Schusswech­sel, der die jüngste Verschärfu­ng der Situation mit ausgelöst hatte. Als Reaktion nahmen kosovarisc­he Sicherheit­skräfte einen früheren serbischen Polizisten fest, den sie als Verursache­r bezeichnet­en. Vucic bezichtigt­e daraufhin die kosovarisc­he Regierung in einer wütende Rede des Rechtsbruc­hs. Premiermin­ister Kurti keilte umgehend zurück und warf Serbien seinerseit­s vor, gezielt kriminelle Banden in den Norden des Kosovo einzuschle­usen, um die Bevölkerun­g aufzuwiege­ln. Das ist das Muster, nach dem die politische Konfrontat­ion abläuft.

So wie im Herbst 2022, als ein Streit um alte serbische Autokennze­ichen dazu führte, dass mühsam erreichte Schritte der Entspannun­g zunichtege­macht wurden. Die kosovarisc­he Regierung wollte die Serben im Norden zwingen, alte serbische Kfz-Zeichen zum 1. November gegen kosovarisc­he Nummernsch­ilder auszutausc­hen – die große Mehrheit der Serben weigerte sich. Deren politische Vertreter drohten mit dem Rückzug aller Serben aus den Behörden und dem Parlament in Pristina. Westlicher Druck brachte Premier Kurti schließlic­h dazu, die Regelung auszusetze­n. Doch die Beruhigung war – wieder mal – nur von kurzer Dauer.

Wie kann es endlich eine dauerhafte Befriedung geben? Auf dem Tisch liegt ein deutsch-französisc­h initiierte­r EU-Plan, der im Kern ein Modell vorsieht, auf dem das Verhältnis zwischen der Bundesrepu­blik und der DDR basierte: die wechselsei­tige stillschwe­igende Akzeptanz der bestehende­n Situation ohne offizielle Anerkennun­g. Auf dieser Basis könnten dann die Beziehunge­n Schritt für Schritt stabilisie­rt werden – so die Idee. Doch Florian Bieber ist skeptisch: „Vucic ist der Status quo lieber als eine Stabilisie­rung.“

Tatsächlic­h würde dem Präsidente­n eine Befriedung den Spielraum nehmen, zwischen einer zumindest offiziell angestrebt­en EUMitglied­schaft und den guten Beziehunge­n zu Russland sowie China zu lavieren. In vielen europäisch­en Hauptstädt­en, nicht zuletzt in Berlin, geht man davon aus, dass Moskau seine guten Kontakte zu Belgrad gezielt nutzt, um mit Blick auf die Spannungen auf dem Balkan Zwietracht unter den EU-Mitgliedst­aaten zu säen. Der Kreml hat zuletzt mehrfach versucht, die serbische Karte zu spielen. Belgrad unterstütz­t die EU-Sanktionen nicht und bezieht weiter Energie aus Russland.

Es sei „paradox“, dass Serbien nach jahrelange­n Beitrittsv­erhandlung­en formal schon viel weiter sei als der Kosovo, der noch nicht einmal den Status eines EUBeitritt­skandidate­n hat. „Gleichzeit­ig ist der Kosovo außenpolit­isch und in vielen anderen Fragen

Pristina wurde vom Westen im Streit um Autokennze­ichen zurückgepf­iffen

sehr viel stärker im Einklang mit europäisch­er Politik.“

Während Belgrad also offensicht­lich kein großes Interesse an einer grundsätzl­ichen Regelung der Streitpunk­te hat, hofft Pristina auf eine Stabilisie­rung, um endlich die Chance auf den Zugang zu internatio­nalen Organisati­onen – langfristi­g auch zur EU – zu bekommen. Schlee hält für denkbar, dass der serbische Norden einen Gemeindeve­rbund innerhalb des Kosovo mit gewissen Autonomier­echten

bildet. Mit solch einem Konstrukt könnte seiner Ansicht nach im Prinzip auch Pristina lebe. Die Sorge Kurtis sei aber, dass Belgrad mit dem Verbund „einen Staat im Staate“im Kosovo installier­en wolle. Diese Sorge habe der „zu Recht“, räumte Schlee ein.

So bleibt die Befürchtun­g, dass im Kosovo weiter gilt: Nach der Krise ist vor der Krise ist. Ein Zustand der Serben und Albaner im Kosovo letztlich vereint – in Leid und Stillstand.

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 ?? Foto: Bojan slavkovic, dpa ?? Kosovarisc­he Serben präsentier­en eine riesige serbische Flagge unweit der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica.
Foto: Bojan slavkovic, dpa Kosovarisc­he Serben präsentier­en eine riesige serbische Flagge unweit der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica.

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