Augsburger Allgemeine (Land West)
„Wenn Preise steigen, wächst die Angst“
Schwindelerregende Brotpreise und politische Radikalisierung: Autorin Jutta Hoffritz hat ein Buch über das Jahr 1923 geschrieben. Wie sie auf 2023 blickt und was sich aus der Vergangenheit lernen lässt.
Frau Hoffritz, die 1920er Jahre erleben einen Hype – nicht nur durch Serien wie Babylon Berlin. Wie erklären Sie sich diese Begeisterung 100 Jahre später?
Hoffritz: Unser Bild der Goldenen Zwanziger ist manchmal etwas verklärt. Rauschhafte Feste, wilde Tanzabend, schillernde Kleider. All das gab es. Es war eine Zeit voller Kreativität und Liberalität, aber auch der bittersten Not. Die Welt lag in Schutt und Asche. Es herrschte ein fast schon barockes Lebensgefühl. Die Menschen waren sich ihrer Vergänglichkeit bewusst und verspürten dennoch oder gerade deshalb eine enorme Lebensfreude. Es war eine äußert spannende und für die deutsche Geschichte bedeutende Zeit.
Sie haben ein Buch über das Jahr 1923 geschrieben. Warum?
Hoffritz: Meine Großmutter hat dieses Jahr selbst miterlebt. Sie war damals 18 Jahre alt und machte eine Ausbildung zur Handarbeitslehrerin. Im Herbst 1923 sendete sie ein Telegramm an ihre Eltern mit der Bitte: „Schickt mir eine Billion oder ich hau in den Sack.“Dieser Satz überdauerte. Wenn meine Großmutter später in ihrer alten gusseisernen Pfanne Reiberdatschi machte, erzählte sie oft Geschichten aus ihrer Jugend. Wie im Ersten Weltkrieg die kupfernen Kochgeschirre eingeschmolzen wurden, weil Rohstoffe knapp waren. Wie die deutschen Frauen im Austausch Eisenpfannen mit patriotischen Sprüchen drauf bekamen. Und wie danach das Leben teurer und teurer wurde.
Sie wurden also schon als Kind für diese Zeit sensibilisiert?
Hoffritz: Sicherlich. Auch wenn ich mir damals nicht viel unter einer Billion vorstellen konnte. Die großen Zusammenhänge verstand ich erst im Volkswirtschaftsstudium.
Was waren damals die Ursachen für die hohe Inflation?
Hoffritz: Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg pleite. Die im Versailler Friedensvertrag festgelegten Reparationen konnten oder wollten nicht bezahlt werden. Als Franzosen und Belgier das Ruhrgebiet im Januar 1923 besetzten, um Druck aufzubauen, rief die
Regierung zum passiven Widerstand auf. Millionen Arbeiter streikten und erhielten ihren Lohn vom Staat. Die Industrie kam zum Erliegen. Kohle, Stahl und andere Güter wurden knapp, gleichzeitig lief die Notenpresse auf Hochtouren. Die Folge: Die Preise stiegen ins Unermessliche. Vor Kriegsbeginn 1914 kostete ein Laib Brot 32 Pfennig. Im Januar 1923 waren es 250 Mark, zum Jahresende 200 Milliarden Mark. Das war die Zeit, in der meine Großmutter das Telegramm sendete. Die Inflation damals war die Schlimmste, die Deutschland je erlebt hat.
Die Preissteigerung in Deutschland ist momentan so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr. Die Inflationsrate liegt bei 10 Prozent. Sehen Sie Parallelen zu den Entwicklungen von damals?
Hoffritz: Mit direkten Vergleichen wäre ich vorsichtig. Die hohe Inflation ist besorgniserregend. Aber, und das muss man deutlich sagen, wir sind weit entfernt von einer Hyperinflation wie 1923. Ein Blick in die Vergangenheit hilft jedoch, gegenwärtige Tendenzen zu verstehen und besser darauf zu reagieren.
Anders als der damalige Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, der als eingefleischter Patriot auch politische Ziele verfolgte, haben die Verantwortlichen heute verstanden, dass Geldpolitik nüchtern betrachtet und sorgfältig umgesetzt werden muss – unabhängig von individuellen Zielen.
Trotzdem ist die Angst vor einer steigenden Inflation groß.
Hoffritz: Ja, die Inflation hat die Deutschen zeitweise stärker verunsichert als die Corona-Pandemie oder die Angst vor dem Krieg. Die Zustände von 1923 haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. In Ländern wie Italien oder Frankreich gab es dieses Inflationstrauma nicht oder zumindest nicht so stark. Deshalb ist dort auch die Einstellung zur Geldpolitik eine andere.
Wurden oder werden die richtigen Maßnahmen ergriffen, um die aktuelle Inflation einzudämmen?
Hoffritz: Als der ehemalige Notenbankchef Mario Draghi 2012 entschied, die ohnehin lockere Geldpolitik weiter zu lockern, war ich etwas erschrocken. Aber angesichts der aktuell steigenden Inflationsrate haben die Notenbänkler jetzt reagiert und die Geldmenge verknappt. Dass der Staat einen Teil der Heizkosten übernimmt, ist ebenfalls eine hilfreiche Maßnahme. Denn sie vermittelt Sicherheit. Ob die Signale letztendlich stark genug sind, wird sich zeigen.
Der Hitlerputsch 1923 scheiterte, doch der Antisemitismus war bereits allgegenwärtig. Zehn Jahre später waren die Nationalsozialisten an der Macht. Inwieweit hat das Jahr zu einer Radikalisierung der Gesellschaft beigetragen?
Hoffritz: Ökonomische Krisen sind immer ein Nährboden für radikales Gedankengut. Wenn die Preise steigen, wächst die Angst. Die Menschen suchen nach Sündenböcken. Die großen Zusammenhänge werden oft nicht erkannt, denn Geldpolitik ist komplex und schwer zu verstehen. Das kann gefährlich werden. Damals wurde Jüdinnen und Juden die Schuld gegeben. Heute wird schnell mal auf Spekulanten, gierige Vermieter oder Geflüchtete geschimpft, obwohl die wahren Gründe woanders liegen.
Hanau, Halle, Kassel – die Gewalttaten von rechts häufen sich. Die AfD sitzt seit 2017 im Bundestag. Vor wenigen Wochen wurde eine militante Reichsbürger-Gruppe ausgehoben. Wie beurteilen Sie diesen Rechtsruck?
Hoffritz: Dem Wahnsinn sind keine Grenzen gesetzt – auch heute nicht. Die zunehmende Radikalisierung macht mir Sorgen. Dass eine Gruppe von Rechtsextremisten einen Umsturz mit Waffengewalt plant, lässt einen erschaudern. Aber es ist auch eine Warnung davor, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Sie muss verteidigt werden. Der Blick in die Vergangenheit hilft, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wirtschaftliche Schieflagen die Radikalisierung einer Gesellschaft befeuern, weshalb mit Bedacht darauf reagiert werden sollte.
Blicken Sie trotz Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation optimistisch in das kommende Jahr?
Hoffritz: Niemand weiß, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird oder wie sich die Energiekrise entwickelt. Solche exogenen Schocks, also Ereignisse mit massiven Folgen für die Wirtschaft, lassen sich nicht vorhersehen. Was die Inflation angeht, bin ich relativ beruhigt. Die Zentralbanken haben die Stoßrichtung geändert und die Politik versucht gegenzusteuern. Gut möglich, dass die Inflation weiter anhält. Das ist keine schöne Entwicklung, denn sie macht uns ärmer. Aber problematisch würde es erst, wenn das Land auf eine Hyperinflation zusteuert. Man darf trotz oder vielleicht wegen der Erfahrung aus 1923 optimistisch sein. Denn die Verantwortlichen haben daraus gelernt und reagieren heute anders als damals.