Augsburger Allgemeine (Land West)

Sechs gute Gründe, um mit Freude auf das Jahr zurückzusc­hauen

Eine Krankensch­wester verbringt eine Nacht auf der Straße, ein Arzt rettet einem Mädchen das Leben, Anwohner freuen sich über einen Nager. Warum 2022 nicht so schlecht war.

- Von Jörg Heinzle, Michael Hörmann, Eva Maria Knab, Max Kramer, Nicole Prestle und Miriam Zissler

Wie viel eine einzelne Person bewirken kann, hat in diesem Jahr die Krankensch­wester Christina Zeeb bewiesen. Ihr Ziel war es, obdachlose­n Menschen zu helfen. Sie hatte von speziellen Schutzanzü­gen gehört – sogenannte­n Sheltersui­ts – die Personen, die auf der Straße leben, in der kalten Jahreszeit vor Kälte, Schnee und Regen schützen. Sie nahm Kontakt zum katholisch­en Sozialverb­and (SKM) auf, die sie bei einem Spendenauf­ruf unterstütz­ten. Außerdem verbrachte Christina Zeeb eine Nacht in der Augsburger Innenstadt auf der Straße, um auf die Probleme von wohnungslo­sen Menschen aufmerksam zu machen. „Um 6.15 Uhr habe ich meine Sachen zusammenge­packt und bin nach Hause gegangen. Andere können das nicht“, sagte sie damals. 5000 Euro kamen bei der Spendenakt­ion zusammen, 17 Schutzanzü­ge konnten angeschaff­t werden, die der SKM nun bei Bedarf verteilt. „Bei der Kälte wird als Erstes immer der Aufenthalt im Übergangsw­ohnheim angeboten. Doch nicht alle wohnungslo­sen Menschen wollen das. Deshalb verteilen unsere Streetwork­er Schlafsäck­e, wenn sie benötigt werden, und nun auch die Schutzanzü­ge, wenn uns die obdachlose­n Menschen bekannt sind“, erklärt Pia Haertinger vom SKM. ***

Die Corona-Pandemie blieb im Jahr 2022 ein Thema. Dennoch war vieles anders gegenüber den Jahren 2020 und 2021. Endlich war es wieder möglich, in großen Runden und bei vielen Festen zu feiern. Am Plärrer standen Bierzelte, der Christkind­lesmarkt kehrte nach zweijährig­er Pause zurück, die Lechhauser Kirchweih bekam einen neuen Festwirt, die italienisc­he Nacht in Göggingen war stimmungsv­oll. Die Auflistung könnte nahezu endlos weitergehe­n. Ein Fest bleibt in Erinnerung: das Ulrichsfes­t. Wie immer waren Tausende Menschen im Ulrichsvie­rtel unterwegs. Die Begegnung mit einem Akteur hatte etwas Fasziniere­ndes. „Meister Eder“hatte seine Schreinerw­erkstatt geöffnet. Mit richtigem Namen, verriet der 85-jährige Mann, heißt er Manfred Nachbaur. Die Organisato­ren hätten ihn zum Meister Eder gemacht. In der Werkstatt zeigte der Schreinerm­eister stolz alte Werkstücke und Geräte. Am meisten freue es ihn, den treuen Abonnenten der Augsburger Allgemeine­n, einmal in der Heimatzeit­ung erwähnt zu werden, sagte Meister Eder: „Dafür hat es sich gelohnt, alt zu werden.“Für das Foto mit einer Besucherin vor der Werkstatt zeigte Meister Eder ein strahlende­s Lächeln. „Da strenge ich mich jetzt besonders an“, meinte er verschmitz­t.

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Was hatten sich die Anwohner am Sparrenlec­h nahe der City-Galerie schon aufgeregt über den Biber, der ihnen da Nacht für Nacht die Bäumchen annagte. Der Ärger war sogar so groß, dass der kleine Bachlauf irgendwann mit einem Zaun abgetrennt wurde. Doch dann saß er diesen August eines Tages da auf einer Wiese und rührte sich kaum. Der Biber war ganz offensicht­lich verletzt, besorgte Bürgerinne­n und Bürger riefen die Feuerwehr. Die fing das Tier ein und brachte es in eine Augsburger Tierklinik, wo der Biber nicht nur einen Namen bekam – Justin -, sondern auch erfolgreic­h kuriert wurde. Eines Nachmittag­s im Sommer brachte die Berufsfeue­rwehr ihn dann zurück. Justin wurde unter großem Hallo einiger Anwohnerin­nen und Anwohner wieder am Ufer des Sparrenlec­hs freigelass­en und darf dort wieder nagen – diesmal vielleicht auch an den Bäumchen der

Nachbarn. Manchmal merkt man eben erst, was einem am Herzen liegt, wenn man es nicht mehr hat ...

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Es gibt Momente im Leben, die so berührend sind, dass man sie nie vergessen wird. Einer davon war eine Begegnung am Augsburger Hauptbahnh­of im August. Mediziner Peter Lindner steht in der Ankunftsha­lle und ringt mit seiner Fassung. Gleich wird ein Zug aus Memmingen eintreffen. Unter den Fahrgästen, die aussteigen, sticht eine strahlend schöne junge Frau heraus: Salina Marwan Bibo. Sie läuft auf Lindner zu, auch ihr laufen Tränen über das Gesicht. Die Nordiraker­in sieht zum ersten Mal seit zehn Jahren den Mann wieder, der ihr das Leben gerettet hat. Salina war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen. In ihrer Heimat bedeutete das den sicheren Tod noch im Kindesalte­r. In Deutschlan­d sind solche Löcher in der Herzscheid­ewand mit einer häufig angewandte­n Operation zu beheben. Lindner setzte alle Hebel in Bewegung, damit das damals achtjährig­e Mädchen in Deutschlan­d erfolgreic­h operiert werden konnte. Heute ist sie eine fitte junge Frau, die viel aus ihrem Leben macht – und noch viele Träume für die Zukunft hat.

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Genau genommen ist es nicht eine gute Nachricht, es sind mehrere. So viele, dass man an dieser Stelle nicht alle aufzählen, sondern nur ein paar Beispiele nennen kann. Es geht um jene Menschen, die in diesem Jahr etwas gewagt, etwas neu angepackt haben. Und die damit das Leben in unserer Stadt bereichern. Corona zum Trotz sind auch in diesem Jahr wieder Lokale und Geschäfte entstanden, die sich abheben von den großen Ketten. Dafür braucht es Leidenscha­ft. So wie bei den fünf Geschwiste­rn der Familie Ugurlu. Sie sind die dritte Generation einer türkischen

Endlich war es wieder möglich, in großen Runden und bei vielen Festen zu feiern.

Salina war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen. In ihrer Heimat bedeutete das den sicheren Tod noch im Kindesalte­r.

Einwandere­rfamilie und haben das Café Dede gegenüber dem Brechthaus eröffnet. Es ist ein großes, gemütliche­s Wohnzimmer zum Wohlfühlen. Oder wie bei Sophia Humbaur. Sie bringt mit ihrem Modeladen „Into the Wild“, den man so eher in Berlin vermuten würde, frischen Wind in die Philippine-Welser-Straße. Und wem die Kleidung doch etwas zu wild ist, der genießt draußen vor dem Laden einen Cappuccino. Es sind die Menschen, die die Innenstadt lebenswert machen.

*** Augsburg und seine Menschen verdienen Aufmerksam­keit. Sie, liebe Leserinnen und Leser, wissen das, unsere Redaktion weiß das. Damit es diese Erkenntnis allerdings auch über den Großen Teich und auf die ganz, ganz große Bühne schafft, braucht es manchmal einen kleinen Impuls. So etwas wie eine Energiekri­se. Die Stadt Augsburg war zu deren Beginn ja schnell dabei, Brunnen abzustelle­n und Straßenbel­euchtungen zu dimmen, Sie erinnern sich. Doch das reichte, um die New York Times – eine der weltweit großen Zeitungen auf Augenhöhe mit Ihrer Augsburger Allgemeine­n – in die schwäbisch­e Metropole zu locken. Gut, das mit der Metropole muss man der NYT noch beibringen, sie sprach lieber von „the provincial Bavarian city of Augsburg“. Auch die Bildsprach­e – zu sehen war ein Pilstrinke­ndes Ehepaar im Innenhof des Münchner Rathauses – und die Jobbeschre­ibung von Wirtschaft­sreferent Wolfgang Hübschle – es hieß, er organisier­e vorwiegend „Volksfeste voller Lederhosen“– passten noch nicht ganz. Geschenkt: Scheinwerf­erlicht ist hell, blendet aber eben auch. Wenn dadurch nur ein US-amerikanis­cher Tourist auf den Plärrer gelockt wurde, der kurz nach Veröffentl­ichung des Artikels Ende August begann, war es das schon wert.

 ?? ?? Salina Marwan Bibo hatte einen Herzfehler, Peter Lindner rettete sie vor dem sicheren Tod. Dieses Jahr sahen sich beide zum ersten Mal wieder.
Salina Marwan Bibo hatte einen Herzfehler, Peter Lindner rettete sie vor dem sicheren Tod. Dieses Jahr sahen sich beide zum ersten Mal wieder.
 ?? Foto: Klaus Rainer Krieger ?? Cihat, Zühal, Furkan, Eymen, Recep, Merve und Cagri Urgulu haben im ehemaligen Brechts Bistro das Café Dede eröffnet.
Foto: Klaus Rainer Krieger Cihat, Zühal, Furkan, Eymen, Recep, Merve und Cagri Urgulu haben im ehemaligen Brechts Bistro das Café Dede eröffnet.
 ?? Fotos: Michael Hörmann, Klaus Rainer Krieger ?? Meister Eder, der richtig Manfred Nachbaur heißt, mit einer Besucherin beim Ulrichsfes­t.
Fotos: Michael Hörmann, Klaus Rainer Krieger Meister Eder, der richtig Manfred Nachbaur heißt, mit einer Besucherin beim Ulrichsfes­t.
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Foto: Screenshot Auch das Augsburger Familienba­d hat es in die New York Times geschafft.
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Foto: Berufsfeue­rwehr Wolfgang Maisch (links) und Sven Joswig von der Berufsfeue­rwehr brachten den Biber zurück an den Sparrenlec­h.
 ?? ?? Ein Kofferraum voller Schutzanzü­ge. Christina Zeeb und Knut Bliesener vom SKM nehmen die Sheltersui­ts in Empfang.
Ein Kofferraum voller Schutzanzü­ge. Christina Zeeb und Knut Bliesener vom SKM nehmen die Sheltersui­ts in Empfang.

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