Augsburger Allgemeine (Land West)
Lassen Sie uns trotzdem über 2022 reden
Wer will schon freiwillig auf dieses irre, dieses düstere Jahr zurückblicken? Dabei lohnt sich das. Weil es zwischen all den schlechten auch gute Nachrichten gibt.
Kann gut sein, dass Sie sich gerade fragen, warum um alles in der Welt Sie jetzt auch noch einen Rückblick auf dieses verfluchte Jahr lesen sollten. Schließlich wollen die meisten 2022 nur endlich vergessen, mit all seinen schlechten Nachrichten, mit all den Sorgen, die es uns hinterlässt. Es wird Sie allenfalls schwach trösten, aber auch für Journalisten waren solche Jahresrückblicke schon mal dankbarer.
Ein bisschen Herz, ein bisschen Schmerz, Royals und Sport, was zum Lachen, was zum Weinen – und am Ende war es ja doch irgendwie ganz nett gewesen. Schampus, Marzipanschwein und weiter geht’s. So, und nun stehen wir also sprachlos (immer schlecht für jemanden, der berufsbedingt Worte für alles finden sollte) vor diesem Jahr 2022 und wissen auch nicht so recht.
Sind wir unter dem Strich doch ganz gut durchgekommen? Oder steht das Schlimmste noch bevor? Was bedeutet denn nun diese Zeitenwende für uns alle? Und noch wichtiger: Wird es irgendwann auch wieder normal? Wahrscheinlich müssen wir als Erstes klären, was das überhaupt sein soll: normal. Für uns Menschen ist ja das normal, woran wir uns gewöhnt haben. In der Corona-Zeit war oft von der „neuen Normalität“die Rede. Dabei war es eben ganz und gar nicht normal, dass Familien sich nicht mehr treffen konnten, dass kein Lächeln mehr durch die Maske drang, man Kolleginnen und Kollegen nur noch am Bildschirm oder hinter einer windschiefen Plexiglasscheibe sah. Eine neue Normalität, in der Kinder sich entscheiden mussten, mit welchen von ihren Freundinnen und Freunden
sie noch spielen und welche leider keine Kontaktpersonen mehr sein durften, konnte nie normal sein.
Es ist immer leicht, nachher alles schon vorher gewusst zu haben. Aber dass man auf einer Parkbank kein Buch lesen durfte und ein abendlicher Spaziergang mit dem Hund erlaubt, mit der Oma aber verboten war, wirkte schon damals absurd. Vor einem Jahr um diese Zeit haben wir uns gefragt, ob das ewig so weitergehen soll. Und weil selbst ein Jahr wie dieses seine guten Seiten haben darf, hat Corona für viele Menschen tatsächlich den großen Schrecken verloren. Ja, wir stecken uns immer noch an und das Virus ist im Alltag präsent. Es stellt uns noch immer vor Herausforderungen, wenn sich zu viele gleichzeitig anstecken. Wir wissen noch viel zu wenig über Langzeitfolgen. Aber für die meisten ist Corona heute glücklicherweise keine Frage mehr von Leben und Tod. Und doch: Vieles, was die Pandemie angerichtet hat, werden wir noch lange spüren.
Kinder, denen unbeschwerte Jahre gestohlen wurden. Alte Menschen, die auf den letzten Metern ihres Lebens alleine waren. Freundschaften, die sich nicht von der erzwungenen Trennung erholt haben – oder im Streit um die Corona-Politik zerbrochen sind. Pflegekräfte, die nach Jahren im Krisenmodus einfach nur müde sind. Ein ausgezehrtes Gesundheitssystem, das auch in diesen Wochen wieder an Grenzen stößt. Eine Gesellschaft, die sich anstrengen muss, um Gräben zuzuschütten. Alles nicht einfach. Alles nicht vergessen. Trotzdem haben wir guten Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen.
Wir haben uns die alte Normalität Stück für Stück zurückerobert. Wir haben wieder zusammen gelacht, zusammen gefeiert, sind auf Reisen gegangen und auf
Konzerte, wir haben neu zu schätzen gelernt, dass Menschen Menschen brauchen, um glücklich zu sein – und um die Abwehrkräfte gegen Hass und Spaltung zu stärken. Corona hat das Land auf eine harte Probe gestellt, die es vielleicht nicht sehr gut, aber doch einigermaßen befriedigend bestanden hat. Das Problem ist nur, dass der gerade erst verblassende Schrecken einem neuen gewichen ist.
Das Jahr begann am 24. Februar. In den Wochen zuvor hatte Russland Zehntausende Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen. Die Welt schaute fassungslos zu. Spitzenpolitiker reisten nach Moskau und Kiew. Krisendiplomatie, wie wir sie oft gesehen haben, seitdem Wladimir Putin 2014 entschieden hatte, dass die ukrainische Halbinsel Krim fortan russisch zu sein hat. Der Kreml-Chef hat sich vor den Augen der Welt radikalisiert, lebte seinen Großmachtwahn irgendwann unverhohlen aus. Und so konnte man sich kaum vorstellen, dass Putin seine Truppen einfach wieder nach Hause schicken würde. Doch noch weniger konnte man sich vorstellen, dass er Europa tatsächlich in einen neuen Krieg bomben würde. Der Frieden war so selbstverständlich geworden. Normal eben.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien die unversöhnliche Spaltung endgültig zu vergehen. Von der „Friedensdividende“ war die Rede. Doch wo bekommt man heute noch Zinsen? Nichts ist für die Ewigkeit. Erst recht nicht der Frieden. Als die russischen Soldaten an jenem 24. Februar die Ukraine überfallen, beginnt ein Albtraum, aus dem die Welt bis heute nicht erwacht ist. Dabei sieht es zunächst so aus, als hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht den Hauch einer Chance, dem Angriff des übermächtigen Nachbarn länger als ein paar Tage, vielleicht Wochen standzuhalten. Doch nicht nur der Despot in Moskau, sondern auch der Westen hat den Freiheitswillen der Menschen in der Ukraine unterschätzt – und die Standhaftigkeit ihres Präsidenten.
Wolodymyr Selenskyj war Schauspieler und Komiker, bevor er Staatsoberhaupt wurde. Einer dieser Typen, die keiner ernst nimmt, bis es ernst wird. Doch als die ersten Raketen in Kiew einschlagen, als man stündlich damit rechnen muss, dass die Hauptstadt fällt, und mit ihr das ganze Land, als Experten jede militärische Hilfe des Westens als vergeblich abtun, wird Selenskyj zum Anführer.
Ausgerechnet der Präsident eines Landes, das so lange von Krisen, Korruption und Machtkämpfen zersetzt wurde, muss die Welt daran erinnern, dass es sich für Freiheit und Demokratie, ja für westliche Werte zu kämpfen lohnt. Und ausgerechnet in Europa, wo man diese Werte so feierlich vor sich herträgt, will zunächst offenbar kaum jemand mitkämpfen. Man zeigt sich hilfsbereit, klar. Aber niemand möchte in diesen Krieg hineingezogen werden. Dabei stellt sich diese Frage in Wahrheit gar nicht. Denn schon bald wird klar, dass der russische Angriff auf die Ukraine so oder so die Welt verändern wird. Dass wir alle in diesen Krieg hineingezogen werden.
Wir haben uns die alte Normalität Stück für Stück zurückerobert.
Wie schon zu Beginn der Pandemie erleben wir, was Globalisierung bedeutet. Wie bei Corona scheinen Politikerinnen und Politiker völlig überrascht davon, dass es eben doch nicht egal ist, ob in China ein Sack Reis umfällt. Die neue Bundesregierung jedenfalls agiert fortan als Feuerwehrtruppe, die von einem Brandherd zum anderen hetzt. Ein echter Plan fehlt, ein eingespieltes Team sind SPD, Grüne und FDP ohnehin nicht, und manche Ministerin, mancher Minister erweist sich eher als Brandbeschleuniger. Dass die Opposition bisweilen lieber zündelt als einen Eimer in die Hand zu nehmen, macht die Sache nicht besser. Und während die Ukrainerinnen und Ukrainer im Luftschutzbunker um ihr Leben bangen, streitet man sich in Deutschland darüber, wie lange man duschen darf. Luxusprobleme? Nicht nur.
Die Jahrzehnte des ständigen Wachstums, des selbstverständlichen Wohlstands gehen zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit. Und das liegt nur vordergründig daran, dass Wladimir Putin größenwahnsinnig geworden ist. Deutschland hat es sich zu lange zu bequem eingerichtet, hat vor allem aufs Geld geschaut und ist den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Doch jetzt kommt kein billiges Gas mehr aus Russland und es wird ungemütlich, nicht nur im runtergekühlten Wohnzimmer. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass nicht alles so bleiben kann, wie es in Wahrheit längst nicht mehr ist.
Ausgerechnet der irrlichternde damalige britische Premier Boris Johnson und der angezählte US-Präsident Joe Biden gehen in der Anfangsphase des Krieges voran, während Bundeskanzler Olaf Scholz sich wochenlang mit der Frage aufhält, wann, ob und mit wem er nach Kiew reisen soll. Damit es da nicht zu Missverständnissen kommt: Deutschland hilft – mit viel Geld, mit der Aufnahme von hunderttausenden Kindern, Frauen und Alten, die aus der Ukraine fliehen müssen. Und nach langem Zögern auch mit schweren Waffen. Aber insgeheim scheinen viele Deutsche, genau wie ihre Regierung, zu hoffen, dass sich schon irgendjemand anders um diesen Krieg kümmern wird. Wie früher. Nur ist dieses Früher eben von gestern.
Und doch kann dieses Jahr auch Mut machen. Denn es hat gezeigt, was möglich ist, wenn die freie Welt zusammenhält. Mehr als 300 Tage nach Kriegsbeginn stemmt sich die Ukraine dem Aggressor noch immer mit aller Macht entgegen, konnte die gegnerischen Truppen sogar an einigen Stellen zurückdrängen und ganze Landstriche befreien. Dank der Unerschrockenheit
der Bevölkerung, dank eines Präsidenten, der vom Clown zum Krieger geworden und dabei trotzdem Mensch geblieben ist. Aber eben auch dank der massiven militärischen Unterstützung aus dem Westen. Überhaupt kann 2022 durchaus als ein Jahr in Erinnerung bleiben, in dem sich Demokratinnen und Demokraten weltweit gewehrt haben. In Brasilien wird der Rechtspopulist Jair Bolsonaro abgewählt, viele Amerikaner haben offenbar endgültig genug von Donald Trump und Frankreich macht Marine Le Pen eben nicht zur Präsidentin. Im Iran und in China gehen Menschen massenhaft auf die Straßen, weil sie sich nicht mehr unterdrücken lassen wollen.
Auch Wladimir Putin hat nicht damit gerechnet, dass die freie Welt sich gegen ihn verbünden würde, und nun scheint er in Panik zu geraten. Das ist die gute Nachricht nach zehn Monaten Krieg. Und zugleich die schlechte. Denn dass der einsame Despot seinen Plan, die Ukraine zu unterwerfen, aufgeben wird, ist trotz aller Rückschläge nicht zu erwarten, selbst wenn Russland inzwischen international isoliert ist. Man fragt sich natürlich, wozu er noch bereit ist in seinem Wahn und ob – im Falle seines Sturzes – womöglich noch radikalere Kräfte nach der Macht in Moskau greifen.
Und dann stirbt auch noch die Queen. Es gibt einen wunderbaren Roman des englischen Autors Alan Bennett über die britische Königin. „Die souveräne Leserin“erzählt, wie die Queen ihre Leidenschaft für Bücher entdeckt. Und man wünscht sich so sehr, dass all die herrlich schrulligen und sympathischen Anekdoten darin ganz genau so passiert sind. Oder zumindest so ähnlich. Diese kleine Frau mit Hut war einfach immer da und ist damit Teil unseres Lebens, unserer Erinnerungen geworden. Wie die ältere Dame, die man oft morgens mit dem Dackel traf. Wie der Postbote oder die Wirtin in der Lieblingskneipe.
Noch kurz vor ihrem Tod ernennt die Queen pflichtbewusst, mal wieder, eine neue Premierministerin – die dann gerade einmal 45 Tage durchhalten sollte, während die Monarchin 70 Jahre und 214 Tage regierte. „Die Ewigkeit ist zu Ende“, lautet die Überschrift unseres Nachrufs auf Elisabeth II. – und selbst Menschen, die mit den Royals so gar nichts anfangen können, sie womöglich sogar verachten, schalten heimlich den Fernseher ein, als die letzten melancholischen Töne aus dem Dudelsack erklingen und die Königin, dieser Jahrhundert-Mensch, zu Grabe getragen wird.
Und wir Deutschen? Wir haben Angst vor einem Wut-Winter, streiten über Gendersternchen
oder darüber, wie man mit Leuten umgehen soll, die sich auf Straßen kleben – und finden mal wieder unsere Nationalmannschaft blöd. Die Zeiten, in denen Fußballer mit dem Bundesadler noch immer rechtzeitig bei großen Turnieren zu Höchstform aufliefen oder sich zumindest durchmogelten, sind eben auch vorbei. Nichts ist für die Ewigkeit.
Doch der grundsätzliche Unmut, der unserer Nationalelf entgegengebracht wird, hat nicht nur mit falschen Endergebnissen zu tun. Es geht um zu viel Kommerz und zu wenig Emotion, um die glattgeföhnte Generation Bierhoff und mit Millionen überschüttete Jungs, die nach dem Spiel mit Kopfhörern in der Kabine sitzen und ihre Social-Media-Kanäle bedienen, anstatt gemeinsam einen Kasten Bier zu vernichten. Oder zwei.
Abgesehen von solch romantischer Gefühlsduselei geht es auch um einen seltsam grundsätzlichen Grant in der Gesellschaft,
den die Nationalmannschaft in besonderem Maße zu spüren bekommt. Nach all den Krisenjahren sind die Nerven dünn. Die Bereitschaft, andere Meinungen anzuhören und auszuhalten, ist einer Unversöhnlichkeit, einer Dauergereiztheit gewichen. Man spürt das in Talkshows, im Parlament, in sozialen Medien, manchmal auch am Arbeitsplatz oder im Privatleben. Und womöglich steckt dahinter vor allem die vage Ahnung, dass die fetten Jahre vorbei sein könnten. Es geht nicht mehr darum, dass es die Kinder und Enkel dereinst besser haben sollen. Es wäre für viele schon ein Gewinn, wenn sie es nicht schlechter haben. Und über den Klimawandel und dessen Folgen haben wir noch gar nicht gesprochen…
Familien wurschteln sich seit Beginn der Pandemie irgendwie durch, Eltern im Dauerkrisenmodus überbrücken, improvisieren. Wer irgendwann einmal etwas erbt, hat Glück. Wer nicht, nicht. Rekordinflation, horrende Energiekosten, Baupreise, die sich kaum noch jemand leisten kann. Machen wir uns nichts vor: Der Wohlstand von Millionen Menschen steht infrage. Dummerweise sind wir Deutschen aber vor allem Weltmeister darin, Probleme zu beschreiben und Schuldige dafür zu suchen, anstatt Lösungen zu finden – und nicht auch noch das schlecht zu reden, was eigentlich ganz gut ist.
Denn nüchtern betrachtet haben wir selbst dieses irre Jahr 2022 besser überstanden, als man zwischendurch befürchten musste. Auch wenn die aufgeregte öffentliche Debatte anderes vermuten lässt, begegnen die meisten Deutschen den Herausforderungen recht pragmatisch. Krisenerprobt eben. Und nur wenige Staaten investieren so viel Geld, um die Bürgerinnen und Bürger nicht „alone“zu lassen, wie der Kanzler sagen würde. Noch sind die Gasspeicher nicht leer, noch ist der große Stromausfall ausgefallen, noch halten die meisten Firmen trotz unklarer Aussichten an ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fest, noch ist der vermeintliche Wut-Winter ein unerfüllter Traum von Demokratieverächtern und Verschwörungsideologen geblieben. Dieses verfluchte Jahr bietet auch die Chance, Dinge neu zu denken. Nach Monaten des notgedrungenen Improvisierens, Überbrückens und Stabilisierens muss jetzt die Zeit kommen, in der dieses Land auf ein neues Fundament gestellt wird.
Das fängt, natürlich, bei einer sicheren, bezahlbaren Energieversorgung an. Doch nicht nur hier hat sich unsere Abhängigkeit von anderen als fatal erwiesen. Wenn Nachbarn sich via Chatgruppen untereinander mit Fiebersaft für die Kinder oder Schmerztabletten aushelfen müssen, weil Apotheken keinen Nachschub mehr bekommen, erschüttert das den Glauben an die Funktionsfähigkeit eines Landes, das zu den reichsten der Welt gehört. Wenn Bahnfahren zur reinen Glückssache wird, Krankenhäuser dauerhaft überlastet sind, Ärzte keine neuen Patienten aufnehmen, die Post nicht mehr pünktlich kommt und sich Infrastrukturprojekte um Jahrzehnte verschieben, wenn es zu wenig Pflegeplätze für alte Menschen, zu wenig Betreuungsangebote für Kinder gibt und sich Familie und Beruf weiterhin kaum vereinbaren lassen, dann läuft etwas grundsätzlich schief. Wenn sich die Zeiten schon wenden, dann sollten alle alles dafür tun, um die Richtung zu bestimmen.
Es gibt eine Menge, was uns auch in den kommenden Monaten herausfordern wird. Und wir werden auch in einem Jahr noch über diesen verdammten Krieg reden und darüber, wie er die Welt verändert hat. Aber es gibt keinen Grund zum Verzweifeln. Und sollte es sich für Sie so anfühlen, als sei Krise die neue Normalität und sollten Sie sich manchmal fragen, ob das denn ewig so weitergehen wird, dann kann die eine große Erkenntnis dieses Jahres ja auch ganz tröstlich sein: Nichts ist für die Ewigkeit.
Machen wir uns nichts vor: Der Wohlstand von Millionen Menschen steht infrage.