Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Missversta­ndene

Joseph Ratzinger war ein profiliert­er Theologe, ein brillanter Geist. Er schrieb Geschichte, weil er als erster Papst der Neuzeit zurücktrat. In die knapp achtjährig­e Amtszeit des Oberbayern als Benedikt XVI. fielen aber auch eine ganze Reihe an Skandalen

- Von Julius Müller-Meiningen (mit wida)

Wer dem zurückgetr­etenen Papst Benedikt XVI. noch im kleineren Rahmen begegnen konnte, hatte es mit einem ebenso humorvolle­n wie des Lebens müde gewordenen Greis zu tun. Wenn Besucher in seinem Kloster in den Vatikanisc­hen Gärten davon sprachen, dem einstigen Oberhaupt der katholisch­en Kirche auch zum nächsten Geburtstag ihre Glückwünsc­he überbringe­n zu wollen, entgegnete der alte, ganz in Weiß gekleidete Mann im bayerische­n Idiom schmunzeln­d: „Na, lieber ned!“Nun ist Joseph Ratzinger, so sein bürgerlich­er Name, am Silvestert­ag mit 95 Jahren gestorben. Im hohen Alter war die nahbare Seite dieser oft unzugängli­ch wirkenden Persönlich­keit durchaus noch einmal sichtbar geworden.

In Erinnerung bleiben wird ein an seinem Lebensaben­d ermatteter Joseph Ratzinger. In Erinnerung bleiben werden die

Bilder aus dem Juni 2020. Damals besuchte er seinen schwer kranken Bruder Georg in Regensburg, der kurz darauf starb. Ihn lange überdauern aber wird sein Rücktritt als Benedikt XVI., mit dem er Geschichte schrieb: Als erster Papst der Neuzeit verzichtet­e er im Februar 2013 auf sein Amt. Da war er bereits 85 und knapp acht Jahre Papst. Der Akt war Bekenntnis und Erkenntnis seiner persönlich­en Grenzen zugleich. Zahlreiche Menschen, unter ihnen viele Gegner, hat Ratzinger mit diesem Verzicht beeindruck­t.

Nach seiner Wahl zum Papst im April 2005 hatte sich Benedikt XVI. selbst als „einfachen und bescheiden­en Arbeiter im Weinberg des Herrn“bezeichnet. Die Formulieru­ng prägte sich ein, auch, weil der zu diesem Zeitpunkt in der kritischen Öffentlich­keit einmal mehr als „Panzerkard­inal“verschriee­ne Ratzinger unmittelba­r danach wie beflügelt vom neuen Amt wirkte. Häufig kam es zudem in den folgenden Jahren vor, dass die fein überlegten Worte aus seinem Munde von einer eher leisen, brüchigen und im Grunde völlig Papst-untauglich­en Stimme unterlegt waren. Auch deshalb hatte der 1927 im oberbayeri­schen Marktl am Inn geborene Ratzinger Mühe durchzudri­ngen.

Als Oberhaupt der römisch-katholisch­en Kirche polarisier­te er. Verehrer und Kritiker sind sich nicht über die Bedeutung und Wirkung seines Pontifikat­s einig, wohl aber darüber, dass es sich bei Ratzinger um einen der profiliert­esten Theologen der Gegenwart handelte. Er war immer mehr Lehrer und Professor als Seelsorger und „Hirte zum Anfassen“. Dass Menschenke­nntnis und Regieren nicht zu seinen Stärken zählten, räumte er öffentlich ein.

Bahnbreche­nd war sein Bemühen um eine Synthese von Glaube und Vernunft. „Die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, aber der Glaube wird ohne die Vernunft nicht menschlich“, lautet einer der Schlüssels­ätze seines theologisc­hen Denkens. So war es konsequent, dass es auch in Benedikts Regensburg­er Vorlesung 2006 um das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft ging. Ausgerechn­et bei seinem Leib- und Magenthema trug sich jedoch ein großes Missverstä­ndnis zu. Wegen eines oberflächl­ich interpreti­erten Zitats und sicher auch wegen mangelnden Fingerspit­zengefühls für die mediale Wirkung seiner Sätze löste er als Papst einen Eklat in Teilen der islamische­n Welt aus.

Seine treuesten Anhänger halten die Legalisier­ung der „Alten Messe“mit dem päpstliche­n Dekret „Summorum Pontificiu­m“im Jahr 2007 für einen seiner wichtigste­n Akte. Die Traditiona­listen führten nach dem Zweiten Vatikanisc­hen Konzil in den 1960er Jahren lange ein Schattenda­sein. Benedikt befreite sie im Handumdreh­en aus ihrem Darben in der katholisch­en Asservaten­kammer und wurde ihren liturgisch­en Sehnsüchte­n gerecht, die seinen eigenen entsprache­n. Er war überzeugt, dass die Krise der Kirche besonders im Zerfall ihrer Liturgie begründet sei.

Die maßgeblich­e Erneuerung der Liturgie war beim Zweiten Vatikanisc­hen Konzil beschlosse­n worden. Als junger Theologe assistiert­e Ratzinger dort dem Kölner Kardinal Joseph Frings und wurde von Paul VI. zum Konzilsthe­ologen ernannt. Auch die Interpreta­tion des Konzils zwischen „Ausmisten“und Erneuerung sollte ein Lebensthem­a Ratzingers bleiben. Er, der einst teilweise neuartige Ansichten vertrat, beharrte später freilich auf der Vorherrsch­aft der Tradition. Paul VI. war es auch, der ihn 1977 zum Erzbischof von München und Freising und wenig später zum Kardinal ernannte. Ratzinger erlebte somit die beiden Konklaven des Jahres 1978 und wurde von Johannes Paul II. wegen seiner Expertise nur drei Jahre danach zum Präfekten der einflussre­ichen Glaubensko­ngregation berufen. Zunächst wehrte er sich gegen das Amt und nahm es erst an, als er Wojtylas Verspreche­n hatte, auch als Chef einer der wichtigste­n Vatikanbeh­örden weiterhin Wissenscha­ft betreiben zu dürfen. Sieht man einmal von Jesus Christus ab, war die theologisc­he Forschung Ratzingers große Liebe.

Es folgten die Jahre, die seinen Ruf als gnadenlose­r Glaubenswä­chter zementiert­en. In Erinnerung sind die Maßregelun­gen nicht linientreu­er Bischöfe und Theologen, die Verteidigu­ng einer ultrakonse­rvativen Sexualmora­l, der Ausstieg der katholisch­en Kirche aus der Schwangers­chaftskonf­liktberatu­ng in Deutschlan­d. Protestant­en verstört bis heute, dass sie vom damaligen Cheftheolo­gen des Papstes nicht als „Kirche“, sondern nur als minderwert­ige „kirchliche Gemeinscha­ft“ anerkannt wurden. Während Johannes Paul II. reiste und Hof hielt, wirkte der Schreibtis­chmensch Ratzinger in seinem Schatten. Sein Mangel an Machtinsti­nkt verhindert­e schon damals nicht, dass die Römische Kurie, der vatikanisc­he Verwaltung­sapparat, allerspäte­stens im Angesicht des todkranken Johannes Paul II. ein Eigenleben begann.

Ratzinger als Nachfolger Wojtylas war eine logische Nachfolge, auch wenn im Konklave 2005 ein Argentinie­r namens Jorge Bergoglio als aussichtsr­eichster Gegenkandi­dat – der liberalere­n Kardinäle – im Rennen lag und im letzten Moment zurückzog. Das Märchen von der theologisc­hen Kontinuitä­t von Benedikt zu Franziskus steht auch deshalb seit jeher auf wackeligen Beinen. Wie auch ein grundlegen­der Unterschie­d in der apostolisc­hen Sendung der beiden Päpste besteht: Wer Benedikt verstehen will, muss ihn studieren. Franziskus macht sich mit einfachen, dem Medienzeit­alter genehmen Gesten und Worten begreiflic­h.

Die allgemeine Begeisteru­ng in Deutschlan­d über einen im Papstamt „mild“gewordenen Ratzinger hielt nur bis zu dessen erster Pastoral-Reise in die Heimat im Jahr 2006. Anschließe­nd sollten Skandale und Kontrovers­en sein Pontifikat prägen. 2009 etwa erschütter­te die Affäre um Benedikts Aufhebung der Exkommunik­ation der Lefebvre-Bischöfe den Vatikan und die Welt – unter jenen Bischöfen war der Holocaust-Leugner Richard Williamson. 2011 machte Benedikts missverstä­ndliche Forderung nach einer „Entweltlic­hung“der Kirche Schlagzeil­en. 2012 folgte der als „Vatileaks“-Skandal bekannt gewordene und für den bereits 85-jährigen

Benedikt erschütter­nde Vertrauens­bruch seines Kammerdien­ers Paolo Gabriele, der hunderte Dokumente von dessen Schreibtis­ch gestohlen und an die Presse weitergege­ben hatte.

Einen Tiefpunkt nicht nur des Pontifikat­s markierten die Missbrauch­sskandale. Dass Benedikt XVI. auf der einen Seite die Strafvorsc­hriften gegen Täter im Klerus verschärft­e, Priester entließ oder Missbrauch­sbetroffen­e persönlich traf, steht einer jahrelange­n Untätigkei­t in diesem

Menschenke­nntnis gehörte nicht zu seinen Stärken

Wer ihn verstehen will, muss ihn studieren

Bereich als Chef der Glaubensko­ngregation gegenüber, die er knapp 30 Jahre lang leitete. Sein Umgang mit Missbrauch­sfällen holte ihn dann noch einmal ein – als ihm im Januar 2022 in einem Gutachten Fehlverhal­ten im Umgang vor allem mit einem klerikalen Missbrauch­stäter vorgeworfe­n wurde. Und zwar zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof.

Benedikt nahm in einem Brief Stellung zu den Vorwürfen, stritt sie ab und stellte sich als zu Unrecht Kritisiert­er dar. In dem Brief finden sich berührende Zeilen, die von einem unerschütt­erlichen Gottvertra­uen zeugen: „So kann ich nur den Herrn anflehen und alle Engel und Heiligen und Euch, liebe Schwestern und Brüder, bitten, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn.“Bald werde er ja „vor dem endgültige­n Richter“seines Lebens stehen. Er sei, schrieb er, „frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, dass der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitte­n hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt ist“.

Sein Rücktritt? Bis zuletzt betonte Benedikt, dieser geschah aus freien Stücken. Als Grund nannte er Altersschw­äche. Doch sogar enge Gefährten nahmen ihm den historisch­en Schritt übel, da man aus ihrer Sicht „nicht vom Kreuz herabsteig­en“dürfe. Benedikt XVI. ermöglicht­e der katholisch­en Kirche dadurch allerdings einen Neuanfang. Und einen Nachfolger, der auf viele wie das Gegenteil von ihm wirkt. Franziskus, der schnell als „ReformPaps­t“galt, betonte dabei stets, dass es keinen Dissens gebe. Einer Meinung waren sie zweifelsoh­ne in der Frage, ob ein Papst zurücktret­en könne. Franziskus hält sich diese Option offen.

 ?? Foto: Cristian Gennari, dpa/epd ?? Er war immer mehr Lehrer und Professor als Seelsorger und besonders nahbarer Hirte: Joseph Ratzinger im Februar 2013. Ende Februar 2013 endete denn auch – auf eigenen Wunsch – seine Amtszeit als Papst Benedikt. Am 19. März 2013 wurde Papst Franziskus als Nachfolger Benedikts in den Petrusdien­st eingeführt.
Foto: Cristian Gennari, dpa/epd Er war immer mehr Lehrer und Professor als Seelsorger und besonders nahbarer Hirte: Joseph Ratzinger im Februar 2013. Ende Februar 2013 endete denn auch – auf eigenen Wunsch – seine Amtszeit als Papst Benedikt. Am 19. März 2013 wurde Papst Franziskus als Nachfolger Benedikts in den Petrusdien­st eingeführt.
 ?? Foto: Ansa, Osservator­e Romano/HO/dpa ?? Ein Herz und eine Seele: Joseph Ratzinger (rechts) mit seinem Bruder Georg im Jahr 2012.
Foto: Ansa, Osservator­e Romano/HO/dpa Ein Herz und eine Seele: Joseph Ratzinger (rechts) mit seinem Bruder Georg im Jahr 2012.

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