Augsburger Allgemeine (Land West)
Der Mensch
Benedikt XVI. ist im Herzen immer Bayer geblieben. Bodenständig und bescheiden. Die Begegnungen mit seinen Landsleuten machten ihm große Freude, egal ob in der Heimat oder in Rom. Eine persönliche Erinnerung. /
Unsere Chefredakteurin Andrea Kümpfbeck hat Papst Benedikt XVI. mehrfach getroffen. Sie war bei seiner Amtseinführung dabei, bei seiner ersten Audienz und seinem letzten öffentlichen Auftritt nach dem Rücktritt. In Köln hat sie ihn beim Weltjugendtag begleitet und später bei seinem Bayern-Besuch. Zusammen mit Politikern, Trachtlern und Gebirgsschützen ist sie mehrfach zu Benedikt nach Rom gereist. Lesen Sie hier ihre persönlichen Erinnerungen.
Das war wieder typisch. Sechs Tage lang war strahlendes PapstWetter, als Benedikt XVI. im September 2006 durch seine Heimat reiste, um noch einmal die Orte und Menschen zu sehen, „die mich geprägt und mein Leben geformt haben“, wie er sagte. Und kaum war er wieder ins Flugzeug zurück nach Rom gestiegen, meldete der Wetterbericht eine Schlechtwetterfront.
Sechs intensive Tage lang war das Land damals in heiter-leichter WM-Feier-Laune, der sich kaum einer entziehen konnte. Sechs Tage lang war Bayern Papst. Sechs Tage lang habe ich einen bescheidenen, bodenständigen, feinen Menschen mit großer Ausstrahlung und aufrichtiger Herzlichkeit erlebt. Einen Papst zum Anfassen, der kein entrücktes, halbheiliges Wesen, sondern hier, daheim in Bayern, in erster Linie Mensch war. Und als solcher hat mich dieses lockere, wohlgelaunte Oberhaupt der katholischen Kirche einige Male ziemlich überrascht – und ehrlich berührt.
In Altötting zum Beispiel. Streng waren die Sicherheitsvorkehrungen auf dem engen Kapellplatz. Auch für uns Journalisten. Im Pressezentrum sollten wir eingesperrt sein während der Messe, das Treiben auf dem Platz vom Fenster oder einer Tribüne aus beobachten. Bis sich einer der Sicherheitsleute erbarmte und uns zu siebt über die gesicherten Rettungswege auf den Platz führte. Folgsam wie beim Schulausflug waren wir unterwegs, konnten immerhin ein paar Jugendliche interviewen, denen der Papst gerade die Hand gegeben hatte.
Dann wurden die Sicherheitsleute nervös, scheuchten uns zurück über die leeren Wege. Der Pontifex hatte spontan beschlossen, nicht auf der geplanten Route zum Gottesdienst einzuziehen, sondern den längeren Weg zu gehen. Da standen wir, zu Salzsäulen erstarrt – und Benedikt marschierte grinsend und grüßend an uns vorbei.
In Pentling bei Regensburg, wo der Papst als Joseph Ratzinger in seinem „Häusl“inmitten seiner Bücher und den Rosenbüschen im Garten seinen Lebensabend verbringen wollte, hatte ihm das Protokoll während der Bayernreise ein paar private Stunden in seinem Haus zugestanden. Doch der Papst nahm sich vor allem Zeit für die Pentlinger, für seine Nachbarn
Therese und Rupert Hofbauer und seine rot gestreifte Katze Chico, die er zurücklassen musste. Statt im Haus zu verschwinden, stand er plötzlich wieder im Garten und schaute sich die Blumen und die Obstbäume an.
Dann der spontane Stopp an der neuen Benediktsäule seines Geburtsortes Marktl, das als „MediaMarktl“heftig dafür gescholten worden war, weil es unter dem Namen „Benedikt“Bier, Wurst und Brot kreiert hatte. Das Protokoll, das dem Papst gerade einmal eine Viertelstunde Zeit gegeben hatte für den Blitzbesuch, warf er schon an der Kirche über den Haufen. Schnurstracks ging er auf die Menschen zu, plauderte, grüßte, schüttelte Hände.
Tief bewegend dann die kleine Geste am Taufbecken: Nachdem Benedikt vor seinem Taufbecken niedergekniet war und ein kurzes Gebet gesprochen hatte, nahm er seinen Bruder Georg an der Hand, verharrte mit ihm einige Minuten still vor dem Taufbecken, in dem er an seinem Geburtstag, dem 16. April 1927, in die katholische Kirche aufgenommen worden war.
Er ging dann zwar nicht über den Marktler Marktplatz, wie viele gehofft hatten, ließ das Papamobil aber vor der bronzenen Benediktsäule anhalten, stieg aus und umrundete sie staunend wie ein kleiner Bub. Die Marktler jubelten, der Papst strahlte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Dieses Glück, diese Freude, wieder in der bayerischen Heimat zu sein, konnte man dem Menschen Joseph Ratzinger ansehen. Er hat sich wohlgefühlt auf der Reise in seine Vergangenheit – und hat sich viele Details seiner Lebensstationen fest eingeprägt. Die paar Minuten der Stille am Grab der Eltern und der Schwester sicherlich, das Zusammensein mit seinem älteren Bruder Georg, das Gebet in der Altöttinger Gnadenkapelle, die ihm so viel bedeutete.
Benedikt XVI. ist im Herzen immer Bayer geblieben. Seine Heimat hat ihn geprägt und zu dem werden lassen, was er war. Auch wenn er ausgerechnet beim Treffen mit seinen Landsleuten nach der Papstwahl zu spät gekommen war und sich mit den Worten entschuldigte, er sei nach fast 25 Jahren in Rom wohl schon ziemlich „italienisiert“. Dabei grinste er spitzbübisch in Richtung seiner purpurroten Lederschuhe und sagte: „Dabei sind wir Deutschen doch berühmt für unsere Pünktlichkeit.“
Bei dieser ersten Audienz im April 2005 hat er seine kritischen Landsleute überrascht. Selbst alte Weggefährten waren erstaunt über die große, ehrliche Herzlichkeit, mit der er auf die deutschen Pilger zuging. Sehr gelassen, sehr bayerisch plauderte er mit ihnen und erzählte, wie er hinter den verschlossenen Türen der Sixtinischen Kapelle zu seinem Amt gekommen war. „Als ganz langsam der Gang der Abstimmung mich erkennen ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde, war mir ganz schwindlig zumute“, sagte er. Und er habe den Herrn gebeten, einen anderen zu wählen, „einen jüngeren und geeigneteren“. Doch Gott habe da wohl gerade nicht zugehört.
Die Italiener mochten „Benedetto“von Anfang an – gemäß dem
Motto: „Ratzinger war gestern, Benedikt ist heute“. Wenn man in den Tagen um die Amtseinführung von Papst Benedikt XVI. in Rom als Deutsche erkannt wurde, gratulierten wildfremde Menschen aus aller Welt zu dem Erfolg – zu dem Papst aus Deutschland. Der gar nicht Papst werden wollte und auf einen ruhigen Ausklang seines Lebens in seinem Haus in Pentling gehofft hatte, lesend, schreibend, Fanta trinkend und Mensch-ärgere-Dich-nicht spielend.
Stattdessen stand er nun plötzlich im Rampenlicht. Die Bravo, Europas größte und Deutschlands älteste Jugendzeitschrift, veröffentlichte zur ersten Auslandsreise des Kirchenoberhaupts, dem Besuch des Weltjugendtags in Köln im August 2005, ein Mega-Poster von Benedikt XVI. – und widmete sich damit zum ersten Mal in seiner fast 50-jährigen Geschichte einem Papst. Der Grund: Der neue Papst sei für viele Jugendliche in Deutschland ein Star, sagte BravoChefredakteur Tom Junkersdorf. Damit hatte auch die Pflichtlektüre aller Teenager-Generationen, das für seinen offenen Umgang mit den Fragen der Sexualität bekannte Heft, einen neuen Popstar.
Und tatsächlich: Benedikts Auftritt beim Weltjugendtreffen löste große Euphorie aus unter den jungen Menschen, Köln feierte PapstFestspiele mit rund einer Million Besucher, viel Jubel, La-Ola-Wellen, „Benedetto“-Sprechgesängen,
Papierfähnchen mit dem Konterfei des Papstes und T-Shirts im Fußball-Trikot-Look, auf denen der Name des Spielers stand: Benedikt – der neue Superstar der Jugend aus aller Welt, die in Deutschland ein fröhliches, buntes Glaubensfest feierte.
Dabei mochte der Papst es so gar nicht, wenn er im Mittelpunkt stand. So wollte Benedikt XVI. auch seinen 85. Geburtstag nicht feiern, weil ihm der selbst nicht wichtig war. In der traditionsverwurzelten katholischen Familie Ratzinger war der Namenstag bedeutender. Darum wollte er diesen Geburtstag als ganz normalen Arbeitstag vergehen lassen. Bis sich Ministerpräsident Horst Seehofer ankündigte und mit ihm fast das ganze Kabinett, die bayerischen
Bischöfe, Kirchenvertreter, die Gebirgsschützen aus Tegernsee und Vertreter aller bayerischen Gemeinden, in denen Joseph Ratzinger seine Spuren hinterlassen hat.
Da konnte dann auch ein Papst nicht anders, als seine Landsleute im Apostolischen Palast zu empfangen. Seehofer brachte einen weiß-blauen Strauß aus Enzian, Edelweiß und Latschenkiefern mit als Gruß aus der Heimat. Und als kleine Trachtler aus dem Kreis Miesbach Benedikt mit den Worten „Griaß Gott, verehrter Heiliger Vater“begrüßten, sah man dem Pontifex an, dass sie sein Herz berührten. Sie tanzten ihm einen Schuhplattler vor und hatten ein Apfelbäumchen vom Chiemsee für die vatikanischen Gärten mitgebracht. Bei der Bayernhymne sang Benedikt mit, den Urtext von Michael Öchsner, den neuen kannte er nicht. Später verriet er dann, warum ihm das heimatliche Liedgut so nahe gegangen war: „Das ist der Klang meiner Kindheit, der zurückgekehrt ist“, sagte der Papst. Und erzählte vom Vater, der daheim immer das „Gott grüße Dich“auf der Zither gespielt hat.
Es war ein Tag der Rückschau und der Emotionen, des Stolzes, des Respekts und der Freude, damals im April 2012. Für mich ein bisschen auch ein Gänsehaut-Erlebnis, bei dem man sich immer wieder vorsagen musste, dass dieser herzliche, geerdete, alte Mann der Papst ist.
Ein Papst, der sich innerhalb weniger Minuten seinen Platz in der Geschichte der Päpste sicherte, als er am 11. Februar 2013 in einer Vollversammlung der Kardinäle völlig überraschend in lateinischer Sprache seinen Amtsverzicht murmelte. Der 264. Nachfolger von Petrus trat – wie jeder andere Arbeiter auch – einfach in den Ruhestand. Und der Vatikan stand Kopf.
Ein letztes Mal bat der bayerische Papst zur Generalaudienz auf dem Petersplatz, 150.000 Menschen kamen. Darunter, wieder einmal, die Gebirgsschützen, deren Ehrenmitglied Benedikt war. Die 150 Männer und Frauen, zusammengewürfelt aus den 47 bayerischen Kompanien, fielen auf. Optisch und akustisch. Zu Blasmusikklängen marschierten sie im Gleichschritt auf dem Petersplatz ein, vorbei an den Schweizer Gardisten, die freundlich grüßten. „Das gehört sich so“, sagte Günter Reichelt aus Rosenheim. „Wir sagen durch unsere Anwesenheit Pfüat Gott.“Immer wieder brandeten an diesem Morgen „Benedetto“-Sprechchöre auf, „Viva Papa“, „Alles Gute Papst Benedikt“oder oft auch nur „Danke“stand auf den Transparenten, die zwischen all den weiß-blauen Fahnen in den Himmel gehalten wurden.
Am Tag darauf stieg der emeritierte Papst auf dem vatikaneigenen Landeplatz in einen weißen Hubschrauber. In Castel Gandolfo läuteten alle Glocken zum Empfang des Privatmannes Joseph Ratzinger. „Ab 20 Uhr werde ich einfach nur ein Pilger sein, der die letzte Etappe der Pilgerfahrt auf Erden in Angriff nimmt“, rief er den Menschen später vom Balkon der päpstlichen Sommerresidenz aus zu. Er wirkte gelöst, befreit, glücklich. Winkte ein letztes Mal, drehte sich um und sagte: „Grazie.“Und: „Buona notte“.
Papst-Katze Chico lebte bei den Nachbarn
In der Bravo erschien ein Poster von Benedikt