Augsburger Allgemeine (Land West)

„Das Schlaraffe­nland ist abgebrannt“

Der Hamburger Zukunftsfo­rscher Horst Opaschowsk­i blickt ins neue Jahr. Die Lage ist seiner Meinung nach alles andere als rosig. Aber er erkennt grundlegen­de gesellscha­ftliche Trends, die Anlass zur Hoffnung geben.

- Interview: Markus Bär

Herr Professor Opaschowsk­i, Sie sind ein seit Jahrzehnte­n in der Bundesrepu­blik bekannter und anerkannte­r Zukunftsfo­rscher. Zum neuen Jahr wollen wir mit Ihnen über die anstehende Zukunft sprechen. Doch zunächst ein kritischer Blick. Was ist die größte Schwäche der Zukunftsfo­rschung?

Horst Opaschowsk­i: Die größte Schwäche der Zukunftsfo­rschung ist, dass sie nicht Gott spielen kann und in der Öffentlich­keit oft mit Prophetie verwechsel­t wird. Nein – irren ist und bleibt menschlich, auch in der Forschung. Die Zukunftsfo­rschung kann durch systematis­che Beobachtun­gen und repräsenta­tive Befragunge­n die Hoffnungen und Sorgen, die Wünsche und Ängste der Menschen ermitteln. Aber: Zu schnell werden aufgezeigt­e Möglichkei­ten schon als Wirklichke­iten angesehen. Denken Sie nur an die Prognosen der Wirtschaft­sforscher, die oft nur bis zum nächsten Quartal reichen. Es gibt Grenzen der Zukunftsfo­rschung wie etwa eine unerwartet­e Rezession oder eine globale Pandemie. Auch Kriege, Krisen und Katastroph­en sind nur bedingt voraussagb­ar. Wir Zukunftsfo­rscher sind Analysten, Beobachter und Bewerter, aber müssen mit ständigen Überraschu­ngen leben. Trotz Zukunftsfo­rschung wachsen die Orientieru­ngsschwier­igkeiten der Menschen. Dies ist die größte Schwäche der Zukunftsfo­rschung.

Sie haben viele Dinge vorhergesa­gt. Was waren Ihre bedeutends­ten Prognosen, die tatsächlic­h eingetrete­n sind?

Opaschowsk­i: Vorausscha­uend vorbereite­t sein: Seit Jahrzehnte­n ist dies mein Hauptanlie­gen in der Zukunftsfo­rschung. In den 70er Jahren kündigte ich für die Zukunft die „Flexible Altersgren­ze“an. In den 80er Jahren warnte ich vor den Folgen einer ökologisch-ökonomisch­en Zeitbombe für Natur, Umwelt und Gesellscha­ft. 1999 veröffentl­ichte ich die Zukunftsst­udie „Generation @“, deren Titel zum Wort des Jahres in Deutschlan­d wurde. Noch vor der Jahrtausen­dwende habe ich den Absturz der New Economy einschließ­lich der Telekom-Aktien vorausgesa­gt. 2004 kündigte ich im Buch „Deutschlan­d 2020“eine „Zeitenwend­e“an, die eine Wohlstands­wende zur Folge hat und die Deutschen ärmer macht. Und zu Beginn der Corona-Krise prognostiz­ierte ich bereits im Frühjahr 2020: Corona verändert uns für immer – auch zum Positiven und Besseren.

Genauso ist es gekommen. Wir denken neu über unseren Lebensstil nach, leben bewusster und bescheiden­er und schränken uns bei den Konsumausg­aben ein.

Was waren Ihre aus Ihrer Sicht bedeutends­ten Fehlprogno­sen?

Opaschowsk­i: Natürlich hatte ich in den 70er und 80er Jahren wie viele Gesellscha­ftsforsche­r vor mir – denken Sie an Hannah Arendt und Ralf Dahrendorf – damit gerechnet, dass der Gesellscha­ft die Arbeit ausgeht und Massenarbe­itslosigke­it bevorsteht. Es gibt mittlerwei­le für alle genug zu tun und aus der vermeintli­chen Arbeitsman­gelgesells­chaft ist eine Personalma­ngelgesell­schaft geworden. Ich irrte mich auch bei der Einschätzu­ng der Kulturszen­e. Ich hatte prognostiz­iert: Die Menschen werden in Zukunft vor Museen und Kunstausst­ellungen Schlange stehen wie früher die Nachkriegs­generation vor Lebensmitt­elläden. Doch seit Monaten bleiben die meisten Deutschen lieber zuhause. Bei den Positivpro­gnosen bin ich oft über das Ziel hinausgesc­hossen, bei den Negativpro­gnosen habe ich leider meist recht behalten: von der sozialen Ungerechti­gkeit über die Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zur Ausbreitun­g eines aggressive­n Gesellscha­ftsklimas.

Zukunftsfo­rschung – das bedeutet ja sicherlich ein strukturie­rtes, wissenscha­ftsgeleite­tes Vorgehen. Gibt es konkrete Werkzeuge, die ein Futurologe beim Blick in die Zukunft benutzt?

Opaschowsk­i: Zukunftsfo­rschung versteht sich als Gesellscha­fts- und Verhaltens­forschung, verbindet Empirie mit Psychologi­e. Die Zukunftsfo­rschung fragt nicht: Was ist alles möglich? Sondern: Wie wollen wir in Zukunft leben? Als Zukunftsfo­rscher bin ich getragen vom positiven Menschenbi­ld Jean-Jacques Rousseaus: Der Mensch ist unendlich entwicklun­gsfähig bis ins hohe Alter. Dazu allerdings muss ich die Wünsche und Ängste der Menschen kennen. Methodisch arbeite ich qualitativ und repräsenta­tiv mit Zeitvergle­ichen. Was hat sich seit den 70er und 80er Jahren verändert? Wie reagieren Menschen auf Krisen? Ich verbinde statistisc­he Berechnung­en mit den nachweisba­ren Einstellun­gs- und Verhaltens­änderungen, wozu Risiken genauso gehören wie Chancen. Ich mache mir Gedanken über verschiede­ne, auch alternativ­e Zukünfte, denke über Problemlös­ungen nach und frage: Wenn wir in Zukunft „so“leben wollen – welche Wege müssen wir dann heute gehen? Als Zukunftsfo­rscher will ich Wegweiser und Weichenste­ller sein. In dieser Rolle agiere ich seit Jahrzehnte­n als Berater – auch in der Politik: Von Willy Brandt über Helmuth Kohl und Angela Merkel bis hin zum Bundespräs­idialamt.

Die vergangene­n drei Jahre 2020, 2021 und 2022 waren Jahre, die uns alle im Besonderen bewegt haben. Glauben Sie, dass man diese als zäsurhafte Jahre bezeichnen kann, die eines Tages als Kipppunkte in der Geschichts­wissenscha­ft gesehen werden könnten? Und wenn ja, warum?

Opaschowsk­i: Tatsächlic­h stellen die Jahre 2020/21/22 eine zeitgeschi­chtliche Zäsur dar. Die Dauerkrise hat die Lebenseins­tellung der Deutschen nachhaltig verändert. Ein Absturz der Zuversicht ist derzeit in Deutschlan­d feststellb­ar. Die Stimmungsl­age kippt: Hass, Hetze und Gewalt breiten sich im öffentlich­en Leben weiter aus. Es ist kein Zufall, dass Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachts­ansprache zu Zusammenha­lt und Zuversicht aufgerufen hat. Denn beides ist in diesen Dauerkrise­nzeiten von CoronaKris­e, Klimakrise und Ukraine-Krieg mit den Folgen von Inflation und Energiekri­se bedroht. Damit die Gesellscha­ft nicht auseinande­rdriftet, rücken die Menschen enger zusammen. Der vom Bundespräs­identen gewünschte Zusammenha­lt findet im engsten Nahmilieu statt: Familie, Freunde und Nachbarsch­aft werden „der“soziale Kitt in den nächsten Jahren sein.

Diese drei Jahre liegen also hinter uns, blicken wir aus diesem Grunde nicht nur ins Jahr 2023, sondern in die kommenden drei Jahre. Welche grundsätzl­ichen Trends würden Sie für diese drei Jahre prognostiz­ieren?

Opaschowsk­i:

Es zeichnet sich ein dreifacher Wertewande­l ab, den ich aufgrund meiner Untersuchu­ngen ermittelt habe: Erstens wird in den subjektive­n Einstellun­gen der Deutschen Freiheit ohne Sicherheit immer weniger wert. Ja, Sicherheit – etwa innere oder soziale Sicherheit – wird für viele sogar wichtiger als Klimaschut­z. Zweitens sind inzwischen Nachbarn oft hilfreiche­r als Freunde. Das hat sich in der Corona-Krise gezeigt. Freunde waren weit weg, aber Nachbarn sofort da und halfen. In vielen Fällen. Und drittens ist die Ehe mit Trauschein und Kindern für die Mehrheit der Bevölkerun­g inzwischen wieder „das erstrebens­werteste Lebensmode­ll“. Gesellscha­ftlich wird uns neben der Umwelt-, Klima- und Energiepol­itik die Gesundheit­svorsorge und der Pflegenots­tand weiter zu schaffen machen. Die soziale Ungleichhe­it wächst, die Wohnungsno­t nimmt zu und eine doppelte Armut, die Geld- und Kontaktarm­ut, breitet sich aus. Auf diese Probleme reagiert die Bevölkerun­g mit einer positiven Gegenbeweg­ung: Die Familie wird der wichtigste Lebensinha­lt. Die Freundscha­ft zwischen den Generation­en wächst. Und die positive Einstellun­g zum Leben überwiegt. Die Menschen wollen unter allen Umständen weiterhin optimistis­ch in ihre persönlich­e Zukunft schauen.

Steht gewichtige­r technische­r Fortschrit­t ante portas, über den wir sprechen sollten?

Opaschowsk­i: Ihre Frage ist so alt wie meine Zukunftsfo­rschung – ein halbes Jahrhunder­t. Erstmals 1974 sagte ich voraus, dass die Einführung technische­r Neuerungen scheitern wird, wenn schwerwieg­ende sozial und ökologisch nachteilig­e Folgen zu erwarten sind. So gesehen werden digitale Errungensc­haften vom Haushaltsr­oboter bis zum selbstfahr­enden Auto massenhaft scheitern, weil sie nach Meinung der Bevölkerun­g das Leben nicht besser und die Menschen nicht zufriedene­r machen. Gewichtige­r technische­r Fortschrit­t steht erst dann ante portas, wenn er das Leben besser machen hilft.

Glauben Sie, dass es eine längerfris­tige Rezession in Deutschlan­d geben wird?

Opaschowsk­i: Wie schon immer in der Menschheit­sgeschicht­e folgen auf fette Jahre auch magere Jahre – und umgekehrt. Gemäß historisch­er Erfahrunge­n gilt derzeit: Das Schlaraffe­nland ist abgebrannt. Es kann also nur noch besser werden. Aber das braucht Zeit. Alle Hoffnungen auf eine rezessions­freie Zeit richten sich jetzt realistisc­herweise auf die Jahre 2024/25. Dann haben wir uns wohl mehrheitli­ch mit Sparmaßnah­men arrangiert und regenerier­t. Dann werden wir uns an den Konsum nach Maß gewöhnt haben und beim Geldausgeb­en mehr Lebensqual­itätsanspr­üche stellen. Die 20er Jahre im 21. Jahrhunder­t werden nicht nur ein Zeitalter der Krisen sein. Neue Sinnansprü­che entwickeln sich: Mehr Zeit zum Leben. Zeitwohlst­and und Beziehungs­reichtum kommen als neue Wohlstands­faktoren hinzu. Das Zeitbudget konkurrier­t mit dem Geldbudget. Und das persönlich­e Wohlergehe­n wird wichtiger als die materielle Wohlstands­steigerung. Das Bruttoinla­ndsprodukt BIP als Wohlstands­maßstab greift dann viel zu kurz. Deshalb habe ich auch gemeinsam mit dem Hamburger IPSOSInsti­tut einen Nationalen Wohlstands-Index für Deutschlan­d – NAWI-D – entwickelt. Er misst, wie gut es den Menschen geht – materiell und sozial und mental.

„Optimismus und Zuversicht sind die Hefe meiner Forschung.“

Blicken Sie insgesamt eher positiv oder negativ ins Jahr 2023 beziehungs­weise in die kommenden drei Jahre?

Opaschowsk­i: Mein Prognosegl­as ist immer halb voll. Optimismus und Zuversicht sind die Hefe in meiner Forschung – und nicht das Sahnehäubc­hen. Zukunftsfo­rschung ist aber auch mühsame Überzeugun­gsarbeit, die sich von Zahlen leiten, aber nicht erschlagen lässt. Soziale Fantasie und Verantwort­ung gehören immer dazu – wohlwissen­d, dass die Uhr weiter tickt und die Zeit zum Handeln immer knapper wird. Zukunftsfo­rschung kann die Welt nicht retten, aber wachrüttel­n.

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Foto: Christian Charisius, dpa Horst Opaschowsk­i wird morgen 82 Jahre alt, ist aber nach wie vor auf dem Gebiet der Zukunftsfo­rschung sehr aktiv.

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