Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie der digitale Mensch sein Gehirn und seine Zukunft verspielt
Der Soziologe Gérald Bronner sendet in seinem neuen Buch „Kognitive Apokalypse“einen Alarmruf aus. Sein Befund: Der Mensch verschwendet sein kostbarstes Gut.
Gehirnzeit verpasst – Zukunft verspielt! Diesen Alarmruf sendet Gérald Bronner, Professor für Soziologie an der Université Paris-Diderot. Er hält uns vor, wie viele Stunden am Tag wir vor Bildschirmen verbringen. Er weiß und belegt das mit wissenschaftlichen Untersuchungen aus aller Welt, dass diese Bildschirmzeit überwiegend der Unterhaltung, der Ablenkung, jedenfalls nicht mit Gehirntätigkeit verbracht wird. Die wäre aber dringend einzusetzen, um den von Menschen verursachten Herausforderungen intelligent zu begegnen, ihnen zu trotzen.
Bronner ruft in Erinnerung, dass die Menschheit in den letzten 200 Jahren durch die Errungenschaften von Technik und Wissenschaft, durch entsprechende gesellschaftliche Anpassungen viele Stunden der ehemals notwendigen Arbeitszeit in „freie“Zeit umgewandelt hat. Er hält diesen außergewöhnlichen Gewinn für vergeudet, wenn er nicht in „Gehirnzeit“umgewandelt wird. Er geht davon aus, dass die meisten Gesellschaften, also auch die, in der wir leben, nach einer gewissen Zeit an eine Grenze gelangen und an ihren inneren Widersprüchen untergehen. „Ist es keine schwindelerregende Vorstellung, dass wir vielleicht als erste Zivilisation diese Grenze überschreiten werden, auch wenn wir wissen, wie unwahrscheinlich das ist? Diese Grenze scheint für unsere Hypothesen heute mit bloßem Auge erkennbar zu sein. Die Natur braucht ihre Zeit, aber wir haben sie nicht.“
Der Autor zählt die Gefahren auf, die diese Zivilisation bedrohen: „Der Klimawandel, die zunehmende Erschöpfung unserer Ressourcen, unsere Fähigkeit zur Selbstzerstörung durch Massenvernichtungswaffen, die beunruhigenden Symptome der von mir so genannten kognitiven Apokalypse und zahlreiche andere Gefahren, die wir noch gar nicht sehen.“Den Begriff „Apokalypse“verwendet Bronner nicht in seiner biblischen, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung, aus dem Griechischen abgeleitet: Enthüllung. Die Voraussetzung für diese Enthüllung
schuf nach Bronner die Deregulierung des kognitiven Marktes. Darunter versteht er die Befreiung von jeglicher regelnden Einflussnahme auf das, was auf unseren Bildschirmen und Displays zu sehen, zu erleben ist.
Die mess- und zählbaren Ergebnisse dieser „Enthüllung“gewähren einen tiefen Einblick in die anthropologische Grundausstattung des Menschen: Er wählt in der durch den Fortschritt gewonnenen freien Zeit den bequemen Weg der Befriedigung durch Unterhaltung, er verliert seine Aufmerksamkeit an Gewaltdarstellungen, er konsumiert oder erlebt am Bildschirm Sexualität.
Bronner belegt seine These mit einer Vielzahl beunruhigender, gemessener Klick- und Einschaltgewohnheiten von Menschen in aller Welt. Er hält diesen verschwenderischen Umgang des modernen Menschen mit seiner Lebenszeit, die ihm eigentlich viel mehr „Gehirnzeit“ermöglicht, für lebensgefährlich. Er alarmiert seine Leser wegen dieser Verschwendung mit dem „kostbarsten Gut“, mit der auch von Künstlicher Intelligenz nicht zu imitierender Kreativität, sodass man den im Titel verwendeten Begriff „Apokalypse“auch
im biblischen Sinne als „Untergang“der Zivilisation lesen kann.
Bronner setzt sich auch mit der „gehirnlosen“Zeitverschwendung auf Verschwörungstheorien, auf nichtkreative Unterhaltung, das Gerede vom „Neuen Menschen“oder von Rousseau-Anhängern aller möglichen Zurück-zur-NaturIdeologen auseinander und verwirft mit plausiblen Argumenten und Belegen die oft erhobenen Vorwürfe, die Bildschirmmedien würden gezielt die Köpfe und das Verhalten ihrer Konsumenten manipulieren. Bronner sieht das Gegenteil im intentionslosen Funktionieren des deregulierten Marktes. Der richtet sich aus eben den marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen nach dem in Sekundenbruchteilen gemessenen Verhalten der Zuschauer, „Googler“und aller, die ihren Fingerabdruck im Netz hinterlassen. Der Konsument, besser die Summe aller Konsumenten manipulieren sich selbst, sie bestimmen, was sie auf Abruf zurückbekommen.
Um diese Endlosschleife zu durchbrechen, bedürfte es einer Rückbesinnung auf die kostbarste Ausstattung des Menschen. Bronner fordert also nicht etwas ein „Zurück zur Natur“, sondern ein
Zurück zum Gehirn. Diese Forderung müsse auch auf die Agenda der Politik gesetzt werden, sonst drohe der Untergang der Gesellschaft. Dieser existenzielle Alarmruf liest sich allerdings erstaunlich „unterhaltsam“, er lohnt die auf ihn verwendete Gehirnzeit und
sollte weithin gehört und befolgt werden!
Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft, übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff, C.H.Beck, 285 Seiten, 24 Euro.