Augsburger Allgemeine (Land West)

Das grausame Kalkül der chinesisch­en Führung

Corona überrollt das Land. Staatschef Xi Jinping wechselt von einem Extrem ins andere. Geht es ihm nur um die Wirtschaft oder steckt etwas anderes dahinter?

- Von Felix Lee

Noch Anfang Dezember pflegte die chinesisch­e Führung die mit Abstand drakonisch­sten Corona-Regeln der Welt. Fast drei Jahre lang riegelte sie das Land ab, sperrte die Menschen regelrecht weg und überspannt­e ihre Bürger mit einem umfassende­n Überwachun­gssystem – alles mit der Begründung, wie gefährlich das Virus sei. Nun das absolute Gegenteil.

Hunderttau­sende Teststatio­nen sind abgebaut, die Leute sollen wieder in die Büros und Fabriken gehen – sogar dann, wenn sie infiziert sind. In atemberaub­endem Tempo breitet sich das Virus nun aus. Und dieselbe Staatsprop­aganda wird nun nicht müde zu behaupten, wie harmlos Omikron sei. Dass dies nur zutrifft, wenn die Menschen umfassend geimpft sind, verschweig­t sie. Die meisten haben nur einen lückenhaft­en Impfschutz. Während die Propaganda die Menschen in Sicherheit wiegt, beginnt das Sterben.

Die Behörden vermelden offiziell zwar, dass es kaum weitere Corona-Tote gibt. Doch aus öffentlich gewordenen Protokolln­otizen von einem Treffen der Gesundheit­skommissio­n

geht hervor, dass sich allein in den ersten drei Dezemberwo­chen 248 Millionen Menschen infiziert haben. Das in London ansässige Forschungs­institut Airfinity geht in Modellrech­nungen in den kommenden Wochen von 9.000 Toten am Tag aus.

Längst hat das Virus auch die abgelegene­n Gegenden erreicht, in denen das Gesundheit­ssystem schlecht entwickelt ist. Die Modelliere­r rechnen mit 3,7 bis 4,2 Millionen Infizierte­n am Tag rund um das chinesisch­e Neujahrsfe­st Mitte Januar, wenn viele zu ihren Familien in die Provinzen reisen. Die Zahl der Toten wird bis dahin bei mehreren Millionen Toten liegen.

Was steckt also hinter diesem radikalen Kurswechse­l? Es scheint, dass angesichts der Verwerfung­en für die Wirtschaft nun völlig ohne Plan geöffnet wird. Doch vielleicht trügt dieser Eindruck und es steckt doch Kalkül dahinter. Und zwar ein grausames. Es könnte lauten: Die Regierung betreibt eine sehr schnelle Durchseuch­ung und vertuscht das Leid der Menschen gegenüber der Außenwelt. Proteste muss die Regierung weniger fürchten als vor der Öffnung: Es traut sich keiner mehr auf die Straße, und viele fühlen sich schlapp.

Präsident Xi Jinping hat beim Pandemiema­nagement versagt und wählt nun einen radikalen Weg, um wieder handlungsf­ähig zu werden. Drei große Versäumnis­se sind ihm vorzuwerfe­n: Er hat nicht konsequent impfen lassen, er hat viel zu lange an Null-Covid festgehalt­en, und er hat keine Diskussion über den Umgang mit dem Virus zugelassen. Daher trifft die große Welle das Land unvorberei­tet. Es ist dabei typisch für Xi, jede Hilfe aus dem Ausland abzulehnen, wie etwa von mRNA-Impfstoffe­n internatio­naler Hersteller.

Das ist Ostblock-Verhalten: Dem Ausland gegenüber keine Schwächen zugeben und stattdesse­n lieber die eigene Bevölkerun­g sterben lassen. Schon fürchten Virologen, dass in China die nächste schlimme Variante entstehen könnte. Denn sollte es zu großen Infektions­wellen in China kommen oder auch in diesem Zusammenha­ng zur Verbreitun­g neuer Virusvaria­nten, so hätte dies auch potenziell gravierend­e negative Folgen für den Rest der Welt.

Fast drei Jahre lang hatte sich China von dem Rest der Welt abgeriegel­t. Nun führen viele Länder Einreisebe­schränkung­en für Reisende aus China wieder ein. Die Bundesregi­erung kann sich bislang nicht dazu durchringe­n – wer kann, sollte China trotzdem in der nächsten Zeit meiden.

Schon bald könnte es Millionen Infizierte geben– jeden Tag

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Was für Zeiten Zeichnung: Heiko Sakurai

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