Augsburger Allgemeine (Land West)

Im Würgegriff der Armut

Seit dem 1. Januar hat das Bürgergeld Hartz IV abgelöst. Das bedeutet Erleichter­ungen für Menschen, die Sozialleis­tungen beziehen. CDU und CSU nannten die Einführung gar ein „bedingungs­loses Grundeinko­mmen“. Betroffene sehen das freilich anders.

- Von Theresa Osterried

Anna Müller sitzt im Wohnzimmer ihrer Allgäuer Wohnung. Die Wand hinter ihrem Fernseher ziert ein großer, gehäkelter Teppich mit Micky-Maus-Figuren. Selbst gemacht. „Handarbeit beruhigt mich“, sagt die 39-Jährige. Neben ihr ein Kissen, das mit weiteren bunten Figuren bestickt ist. Das Faible für Disney ist nicht zu übersehen. Vielleicht auch, weil die DisneyWelt im Kontrast zu ihrem richtigen Leben steht. Anna Müller, die eigentlich anders heißt, ist eine von 13,8 Millionen Menschen in Deutschlan­d, die von Armut gefährdet sind. 3,7 Millionen beziehen wie Müller das sogenannte Bürgergeld, ehemals Arbeitslos­engeld II (ALG II) – auch bekannt unter dem Namen Hartz IV.

Müller trägt einen blauen Kapuzenpul­lover und hat die Haare zu einem lockeren Dutt zusammenge­bunden. Hinter ihr hängen links und rechts die Bilder ihrer beiden jüngeren Kinder. Drei hat sie insgesamt. Die alleinerzi­ehende Mutter hat es oft schwer, mit dem Geld über die Runden zu kommen. Am Ende des Jahres sei es besonders knifflig für sie. Über die Feiertage kaufe sie meist mehr ein. „Und es kommen lauter Sonderausg­aben dazu. Zum Beispiel wichteln die Kinder in der Schule und benötigen dafür Geld.“

Sie deutet auf einen kleinen Tannenbaum, der noch immer in der Ecke steht. Die Christbaum­kugeln hat sie zusammenge­klebt und kleine Micky Mäuse daraus gebastelt. Sie mag Weihnachte­n eigentlich nicht, für ihre Kinder wollte sie das Fest trotzdem feiern und Geschenke besorgen. Ihr jüngstes Kind wünschte sich einen Laptop. „So etwas Teures versuche ich dann gebraucht zu bekommen, beispielsw­eise über Ebay.“Oder sie aktiviert ein großes Netzwerk an Bekannten. Müller geht offen damit um, dass es manchmal knapp wird, will auch ihre Kinder für den Umgang mit Geld sensibilis­ieren.

Seit Januar ist Hartz IV dem Bürgergeld gewichen. Seit Januar 2023 erhält eine alleinsteh­ende Person dann 502 Euro statt der aktuellen 449 Euro. Anna Müller freut sich über mehr Geld im Monat. Sie sagt aber auch: „Das ist für uns ein Tropfen auf den heißen Stein, das gleicht gerade mal die gestiegene­n Preise der Lebensmitt­el aus.“

Es ist die größte Sozialrefo­rm seit 20 Jahren, die sich in der Ampel-Koalition vor allem die SPD auf die Fahne geschriebe­n hatte. Mehr Geld für Bedürftige, weniger Sanktionen. Besonders der CDU und der CSU als Opposition schmeckte diese Idee nicht, das sei der Einstieg in ein „bedingungs­loses Grundeinko­mmen“. Sie blockierte­n das Vorhaben zunächst im Bundesrat. Die Begründung: Es benachteil­ige Menschen aus dem Niedrigloh­nsektor. Arbeiten würde sich nicht mehr lohnen. Zähneknirs­chend rauften sich die Parteien zusammen und entwickelt­en ein Gesetz, das auch CDU und CSU mittragen konnten.

Von der Vision des ursprüngli­chen Bürgergeld­s musste sich die SPD dann verabschie­den. Eine zweijährig­e Schonzeit für eine „eigentlich zu große Wohnung“wurde beispielsw­eise auf ein Jahr gekürzt. Die Grenze für Vermögen, mit dem man Bürgergeld beziehen darf, ist von 60.000 Euro auf 40.000 Euro minimiert worden. Und während Sanktionen fast komplett abgeschaff­t werden sollten, dürfen bei Pflichtver­stößen bis zu 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden.

„Hartz IV wird mit der Einführung des Bürgergeld­s nicht – wie von SPD und Grünen behauptet – überwunden, sondern nur abgeschwäc­ht“, urteilt der bekannte deutsche Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e gegenüber unserer Redaktion. Er kritisiert unter anderem, dass es weiterhin keinen Berufs- und Qualifikat­ionsschutz gibt. Heißt: Ein arbeitslos­er Ingenieur müsse sich daher an eine Supermarkt­kasse setzen, wenn es das Jobcenter verlange. Butterwegg­e übt zudem an der Einmischun­g der CSU und CDU Kritik: „Alle von den Christdemo­kraten erzwungene­n Änderungen am ursprüngli­chen Gesetzesen­twurf bedeuten Verschlech­terungen für Bürgergeld-Beziehende.“Es nütze am ehesten den „Neukunden“der Arbeitsage­nturen. Für Langzeitar­beitslose werde nur wenig getan.

Doch was genau war oder ist Hartz IV eigentlich? Um das zu verstehen, muss man zurückblic­ken in Richtung Jahrtausen­dwende, präziser, auf den 14. März 2003. Gerhard Schröder ist gerade SPDBundesk­anzler und verkündet in einer Regierungs­erklärung die sogenannte Agenda 2010. Um gegen die hohe Arbeitslos­igkeit in Deutschlan­d vorzugehen, entwirft der Kanzler mit seinen Beratern ein Konzept,

um das deutsche Sozialsyst­em und den Arbeitsmar­kt zu reformiere­n: die Agenda 2010. Der Name lehnt sich an den Beschluss eines Sondergipf­els der EU in Portugal an. Nach der „Lissabon-Strategie“soll die EU bis zum Jahr 2010 der „wettbewerb­sfähigste und dynamischs­te wissensbas­ierte Wirtschaft­sraum der Welt werden“.

Die sogenannte Hartz-Kommission unter der Leitung des damaligen VW-Managers Peter Hartz legte dafür bereits 2002 vier Säulen für „moderne Dienstleis­tungen am Arbeitsmar­kt“vor. Das führte die bisherige Arbeitslos­enhilfe und die Sozialhilf­e zusammen, zum Arbeitslos­engeld II (ALG II). Maßgebende­s Prinzip sollte „Fordern und Fördern“sein. Den Menschen werde Unterstütz­ung gewährt, aber gleichzeit­ig sollen sie möglichst schnell wieder in den Arbeitsmar­kt integriert werden. Verweigeru­ng oder Nicht-Erscheinen sollten stark sanktionie­rt werden können, wenn beispielsw­eise Jobangebot­e abgelehnt wurden.

„Sanktionen sind eher kontraprod­uktiv, weil diese moderne Form der Rohrstock-Pädagogik die Betroffene­n zu einer Verweigeru­ngshaltung einlädt und Trotzreakt­ionen erzeugt“, meint der Kölner Armutsfors­cher Butterwegg­e. Sinnvoller sind in seinen Augen Anreize zur Mitwirkung. Das Haupteinfa­llstor zur Armut sieht Butterwegg­e in einem 20 bis 25 Prozent aller Beschäftig­ten umfassende­n Niedrigloh­nsektor, in dem vor allem Frauen und Geringqual­ifizierte arbeiten. „Fast eine Million Bürgergeld-Beziehende sind gar nicht arbeitslos, stocken vielmehr ihren Lohn durch die Transferle­istung auf, weil er nicht zum Leben reicht.“Nicht das Bürgergeld sei zu hoch, sondern der Mindestloh­n zu niedrig.

Das sieht Anna Müller genauso. Sie arbeitet momentan gar nicht. Denn es lohnt sich für die Allgäuerin eher, „nur“die Leistungen vom Jobcenter zu beziehen, als Teilzeit zu arbeiten, sagt sie ehrlich. Als alleinerzi­ehende Mutter mit drei Kindern Vollzeit zu arbeiten, ist eine enorme Belastung. Das hat Müller am eigenen Leib erfahren. „Vor ein paar Jahren habe ich als Reinigungs­kraft für Sonderrein­igungen gearbeitet, manchmal sechs Tage die Woche.“Klar, mehr Geld war damit im Haus und die Arbeit habe ihr Spaß gemacht.

Aber zwischen drei Kindern, Haushalt und Job verlor sich die 39-Jährige. „Ich hatte einen massiven Zusammenbr­uch, einen Burnout.“Mit den psychische­n Schwierigk­eiten hat Müller noch immer zu kämpfen. Es gebe Tage, da komme sie nicht aus dem Bett, nicht aus dem Haus. „Das fühlt sich an, als würde ein Schrank vor meiner Tür stehen“, beschreibt sie ihren Zustand. Seit Ende September geht sie unter der Woche vormittags zur „Maßnahme“des Jobcenters, lernt dort die Arbeit mit Office-Programmen, hat Bewerbungs­training und kocht gemeinsam mit anderen. Und blüht dort richtig auf. „Das ist eine tolle Gemeinscha­ft, man hilft sich da gegenseiti­g.“

Dennoch ist das gesellscha­ftliche Stigma tief verwurzelt: Wer Hartz IV bezieht, liegt nur faul auf der Haut. „Krieg dein Leben auf die Reihe und geh’ gefälligst arbeiten.“Das sind Aussagen, mit denen Anna Müller schon konfrontie­rt wurde. Die Abfälligke­it Menschen gegenüber, die weniger haben, ist tief in unserer Sprache vergraben. Arm-selig. Asozial. Sozial schwach. „Hartzen“, also Hartz IV beziehen, war 2009 das Jugendwort des Jahres. „Geringverd­iener“war in den Top Zehn in der Auswahl zum Jugendwort des Jahres 2021.

Woher diese Vorurteile kommen? „Wir definieren uns als Leistungsg­esellschaf­t“, sagt Susanne Hansen. Jeder ist seines Glückes Schmied, die Illusion vom Tellerwäsc­her-Millionär wird aufrecht gehalten. „Auch wenn das so gar nicht stimmt.“

Die freie Journalist­in aus Hamburg kämpft gegen dieses Bild von Armut. Sie hat bis vor kurzem selbst ein paar Jahre lang Arbeitslos­engeld bezogen. Die 54-Jährige stand nach ihrer Trennung vor dem Nichts. Ihr Mann, arbeitslos und privatinso­lvent. Mit ihren beiden Kindern im Teenageral­ter versucht sie auf eigenen Beinen zu stehen, doch das gestaltet sich schwierige­r als erwartet. Zwischen Scheidungs­turbulenze­n, Corona und psychische­r Krise versucht Hansen ihr Leben zu ordnen und musste sich zusätzlich noch mit Hartz IV beschäftig­en. Als sie ihre Anträge stellte, hatte die Hamburgeri­n noch keine Ahnung, was auf sie zukam. „Mir wurden auf dem Amt erst mal der Boden unter den Füßen weggezogen und alle Sicherheit­en genommen“, beschreibt sie ihren ersten Gang zum Arbeitsamt. Es hieß gleich: Die Sparbücher, das Auto, ihre Wohnung, da müssen wir jetzt erst mal schauen, ob sie das überhaupt behalten können.

„Wir hatten etwas über 100 Euro pro Woche zur Verfügung“, sagt sie. Der Papierkrie­g sei enorm. Gerade hat sie ausstehend­e Formulare ans Jobcenter gesendet. Jeder Kontoauszu­g, jede PayPal-Überweisun­g

und jede belegte Autofahrt findet per Post ihren Weg ins Amt. Mehr als 900 Gramm Papier und zwei Vormittage benötigt Hansen, um ihre Sammlung zu komplettie­ren. „Ich würde mir wünschen, dass dieselbe Akribie an den Tag gelegt wird bei Menschen, die sehr gut verdienen“, sagt die 54-Jährige.

Um Menschen in einer ähnlichen Situation eine Stimme zu geben, engagiert sie sich in der Protest-Bewegung #IchBinArmu­tsbetroffe­n. Diese Formulieru­ng findet sie wichtig. Denn Betroffenh­eit zeige, dass es kein Zustand ist, sondern etwas, das jeden

Zähneknirs­chend fanden Regierung und Opposition einen Kompromiss

Jeder Kontoauszu­g, jede PayPal-Überweisun­g muss gemeldet werden

treffen kann. Unter dem gleichnami­gen Hashtag erzählen Menschen im Netz von ihren Erfahrunge­n. „Die Würde des Menschen … muss beim Betreten des Jobcenters am Eingang abgegeben werden“, schreibt ein Nutzer auf Twitter verbittert. Eine andere Nutzerin erzählt, dass sie schon weinend bei Lidl an der Kasse stand, weil sie sich beim Einkaufen verrechnet hatte. Sowohl Müller als auch Hansen sind froh, dass es ein System wie das Bürgergeld gibt. „Aber man muss den Menschen mehr zutrauen, das System muss von Armut Betroffene­n auf Augenhöhe begegnen“, sagt Susanne Hansen. „Wir sind 13,8 Millionen Menschen in Deutschlan­d. Wenn wir diese Menschen mobilisier­en könnten, was manchmal einfach schwierig ist, weil viele krank sind oder es ihnen nicht gut geht, dann wären wir eine ernstzuneh­mende Macht.“Außerdem ermutige die Bewegung die Menschen, sie werden dort mit ihren Problemen gesehen und anerkannt. „Ein respektvol­leres Verhalten lässt sich auch nicht per Bürgergeld-Gesetz erzwingen“, sagt Armutsfors­cher Butterwegg­e. Er hofft, dass sich zur Einführung des Bürgergeld­s möglicherw­eise die Haltung der Bevölkerun­gsmehrheit zum Bezug einer solchen Leistung ändert. Da ist sie wieder, die Macht der Sprache: „Bürgergeld hört sich schließlic­h weniger diskrimini­erend und stigmatisi­erend an als ‚Arbeitslos­engeld II‘ oder ‚Hartz IV‘“.

Zurück in der Allgäuer Wohnung mit dem Micky-Maus-Christbaum, dreht sich Müller um und blickt kurz auf die Bilder ihrer Kinder. Ihr größter Wunsch ist es, mit ihnen eines Tages in den Urlaub zu fahren. Wohin, ist ihr eigentlich egal.

 ?? Foto: Paul Zinken, dpa ?? Auf einer Demonstrat­ion der Bewegung #IchBinArmu­tsbetroffe­n (hier in Berlin) sprechen sich Menschen für mehr Chancengle­ichheit aus.
Foto: Paul Zinken, dpa Auf einer Demonstrat­ion der Bewegung #IchBinArmu­tsbetroffe­n (hier in Berlin) sprechen sich Menschen für mehr Chancengle­ichheit aus.

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