Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie Quentin Tarantino das Kino lieben lernte
Der Kult-Regisseur ist ein großer Kinoliebhaber und hat ein Faible für B- und C-Movies, wie jetzt in seinem Buch „Cinema Speculation“nachzulesen ist. Darin verrät er auch seine Lieblingsfilme.
In seiner Schulzeit muss er anstrengend gewesen sein, möglicherweise ein ziemlicher Angeber, einer von der Sorte, der ständig davon erzählte, welche blutigen Erwachsenen-Filme er im Kino gerade gesehen hatte, obwohl er viel zu jung dafür war. Nachzulesen ist das jetzt in Quentin Tarantinos neuem Buch „Cinema Speculation“. Der US-Kult-Regisseur beschreibt darin, wie er in die Fänge der Kinowelt kam und sich dermaßen darin verstrickte, dass er tatsächlich selbst anfing, Drehbücher zu schreiben und Regie zu führen.
Man erfährt dort also, dass es Tarantinos Mutter war, die ihren Sohn auf ihre Kino-Dates einfach immer mitgenommen hat. Als der junge Quentin Tarantino einmal seine Mutter darauf ansprach, dass er Filme zu sehen bekam, die andere Eltern ihre Kinder nicht sehen ließen, sagte die Mutter nur: „Quentin, mir macht es mehr Sorgen, wenn du die Nachrichten schaust. Ein Film wird dir nicht wehtun.“
Was Tarantino Anfang der 1970er Jahre in den Kinos der Filmstadt Los Angeles zu sehen bekam, beschreibt er als die „anspruchsvollsten Filme der größten Ära in der Geschichte Hollywoods“. Es war die Zeit, als das alte Studiosystem mit seinen Familien-Kinofilmen der 1960er Jahre kollabierte. Es war die Zeit, als Antihelden das Zeug für Hauptfiguren hatten, der Zynismus salonfähig war und die Klischees geschliffen wurden – etwa des Westerns – und die Darstellung der Gewalt eine nie zuvor gesehene Drastik und Härte erreichte. Der Film, den der junge Tarantino aber nicht ertragen konnte, das war kein Horrorfilm wie „The House That Screamed“oder „Texas Chainsaw Massacre“, sondern „Bambi“. „Wie Bambi von seiner Mutter getrennt wird, wie sie von dem Jäger erschossen wird und dann dieser entsetzliche Waldbrand – das alles regte mich mehr auf als irgendein anderer Kinofilm“, schreibt Tarantino.
Nach einem Kapitel, in dem Tarantino von seiner Kino-Leidenschaft
in jungen Jahren erzählt und das nur so vor Filmtiteln strotzt, ordnet er auf den weiteren 400 Seiten viele Kapitel einzelnen Filmtiteln zu: Das beginnt 1968 mit „Bullitt“und endet 1981 mit „The Funhouse“(deutsch: „Das Kabinett des Schreckens“). Wobei sich Tarantino nie nur bei dem einen Film aufhält, sondern immer auch Vergleiche anstellt, Interessantes rund um die Produktion erzählt, einordnet. Es ist ein Buch für Kino-Enthusiasten, ein Buch, das neugierig auf das Vergangene macht.
Bei „Bullitt“plaudert Tarantino nicht nur über den Film, sondern auch über die großen jüngeren Schauspieler der 1960er Jahre, über Paul Newman, Warren Beatty und Steve McQueen, und erzählt, wie McQueen zu seiner nach Tarantino ziemlich guten Rollenwahl
kam: Durch seine Frau Neile McQueen, die wusste, welche Filme das Potenzial für gute McQueen-Filme hatten. So geht das dann: Auf der einen Seite erklärt Tarantino, warum mit „Bullitt“der Polizeifilm eine neue Gestalt bekam, auf der anderen beschreibt er, was noch alles dazu gehört, um nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Filmstar wahrgenommen zu werden. Dann ist wichtig, welche Hosen man im Film trägt, wie cool dieses oder jenes Ausstattungsdetail zum eigenen Image passt.
Das ist Hollywood aus allen Perspektiven. Tarantino führt in die New-Hollywood-Ära mit Vertretern wie Robert Altman mit der Kriegsfilm-Satire „M.A.S.H.“, Sam Peckinpah mit seinen zynischen Western wie „The Wild Bunch“
oder Denis Hopper mit „Easy Rider“ein. Und dann setzt er diese von den Movie-Brats ab, also jenen jungen Regisseuren, die von der Filmwissenschaft herkamen und die ganze Kinogeschichte im Kopf hatten, wenn sie an ihre eigenen Filme dachten: Die Vertreter waren da Francis Ford Coppola, Martin Scorsese, Brian de Palma und Steven Spielberg. Tarantino beschreibt, dass es vor diesen FilmFreaks eine komplett andere Generation von Regisseuren gab. „Heute ist es fast schon amüsant, dass es einmal eine Zeit gab, in der sich Filmemacher geradezu gleichgültig über das Kino als Kunstform äußerten.“
Wunderbar auch, wie Tarantino einem Filmkritiker der Los Angeles Times eine Hommage widmet: Kevin Thomas war dort über Jahrzehnte
für die B- und C-Movies zuständig. Und Thomas war anders als die meisten anderen Kritikerinnen und Kritiker, die so taten, „als wären sie den Filmen überlegen, für deren Besprechungen sie bezahlt wurden ... Sie schauten auf Filme herab, die Vergnügen bereiteten, und auf die Filmemacher, die das Publikum auf eine Weise verstanden, wie die Kritiker es selbst nicht konnten“. Aber Thomas war anders, er „schrieb über Exploitation-Filme, wie ein hingebungsvoller Sportjournalist vielleicht über eine gute HighschoolMannschaft schreiben würde. Immer auf der Ausschau nach dem einen Spieler, der womöglich das Talent und das Potenzial verwirklichen konnte oder nicht.“
Wenn Tarantino anfängt, nicht nur über Scorseses „Taxi Driver“zu schreiben, sondern im Folgekapitel „Cinema Speculation“darüber, was für ein Film das geworden wäre, wenn nicht Scorsese, sondern Brian de Palma ihn gedreht hätte, spürt man die kreative Energie von Tarantino ungefiltert. Dessen „Taxi Driver“wäre „nicht bloß ein Thriller gewesen, es wäre ein politischer Thriller gewesen.“De Palma hätte sein Augenmerk auf das Politikerattentat gerichtet. „Die Geschichte von Travis Bickle [der Hauptfigur] wäre ein Geschichte darüber gewesen, wie irgendein Gestörter zum Attentäter wird.“
Tarantino legt ein Buch vor, das mit seinem Detailreichtum ein wenig erschlägt, andererseits aber neugierig macht, sich wieder einmal das Kino der 1970er Jahre mit seiner eigenen Ästhetik anzusehen. Und dann macht Tarantino zwischen den Zeilen auch Mut, dass in der Kino-Zukunft etwas geschehen könnte, das in den späten 1960er Jahren geschah: eine Revolution. Denn in alle Ewigkeit nur immer noch weitere Fortsetzungen von Superhelden-Filmen, das ist auf Dauer dann doch ziemlich magere Action-Kost.
Quentin Tarantino: Cinema Speculation
aus dem Englischen von Stephan Kleiner, Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 26 Euro