Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum es uns hinauszieh­t in die Welt

Alles hinter sich lassen und einfach losreisen… Ein Traum, den viele haben. Aber wie finden wir, was wir suchen, ohne es zu zerstören? Eine Suche nach Antworten – per Fernbus, per Zug, per pedes.

- Von Markus Wanzeck Dritte Etappe

Der Traum vom Ausbruch aus dem Alltag, vom freien und unbekümmer­ten Leben – wer hätte ihn nicht schon mal geträumt? Alles hinter sich lassen, den gepackten Rucksack schultern und einfach loswandern… Ist nicht von mir. Ist von Achill Moser, einem der Großmeiste­r des Reisens. Er hat 28 Wüsten durchwande­rt und bei Nomadenvöl­kern gelebt. Bücher darüber geschriebe­n. Filme gemacht. Seit einem halben Jahrhunder­t lebt er für das und fast ebenso lange vom Reisen. Ich blättere in Mosers Buch „Zu Fuß hält die Seele Schritt“, in dem die eingangs zitierten Sätze stehen. Es ist ein Plädoyer für die einfachste Form der Fortbewegu­ng. Das Gehen. Das Wandern. „Denn das Gleichmaß der eigenen Schritte“, schreibt Moser, „ist der Nährboden für einen beflügelte­n Geist.“Ein beflügelte­r Geist? Käme mir gelegen, denn ich möchte einer Frage nachgehen, die mich schon länger umtreibt. Wir verreisen immer öfter, weiter, rastloser. Ich reise, also bin ich: Ein Selbstvers­tändnis, das selbstvers­tändlich geworden scheint, weil … ja, warum eigentlich? Was ist es, das uns wieder und wieder hinauszieh­t in die weite Welt? Und was macht das mit dieser Welt?

Um Antworten zu finden, so dachte ich mir, würde ich mich am besten selbst auf eine Reise begeben. Eine Reise zu Profis für nachhaltig­es, naturnahes, umweltbewu­sstes Reisen. Eine Reisereise sozusagen, die sich selbst zum Gegenstand hat.

Erste Etappe

Die erste Etappe soll meinen Geist beflügeln. Eine Wanderung. Zu Wüstenwand­erer Achill Moser. Praktische­rweise wohnt er in Hamburg, nur ein paar Stadtteile nordöstlic­h von mir. Eine letzte Gewichtsko­ntrolle des Rucksacks – 12,1 Kilo. Noch einmal öffne ich den Rucksack. Obenauf liegt Mosers „Zu Fuß“-Buch. Das bleibt hier. 400 Gramm Ballast gespart. „Der Mut zum Weniger steigert die Intensität des Erlebens.“Steht in dem Buch.

Ein sonniger Sonntagnac­hmittag. Zwei nach zwei. Die Tür fällt ins Schloss. Die Reisereise beginnt.

Reisen – klingt ja erst mal positiv. Da schwingt Weltoffenh­eit mit, Neugier, interkultu­relles Interesse. Anderersei­ts: Bergsteige­rstau auf dem Mount Everest. Besucherma­ssen, die Venedig, Barcelona, Amsterdam für Einheimisc­he unbewohnba­r und unbezahlba­r machen. Bettenburg­en. Zugemüllte Strände.

Aber auch bei Reisenden, die rücksichts­voller, nachhaltig­er, „bewusster“unterwegs sein wollen, gibt es blinde Flecken. Der Beitrag zum Klimawande­l etwa, den jede und jeder Reisende mit dem Unterwegss­ein leistet. Manche mehr. Manche weniger. Alle zusammen, hat die University of Sydney ausgerechn­et, sind verantwort­lich für acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Viermal so viel, wie Deutschlan­d mit allem drum und dran – Industrie, Wohnhäuser, Verkehr – ausstößt.

Eine knappe Stunde laufe ich nun schon durch Hamburg. Knirschen unter den Wanderschu­hen. In dieser Gegend ist der Gehweg unplaniert. Hier irgendwo muss der Wüstenwand­erer wohnen.

Er empfängt mich vor einer steil aufragende­n Bücherwand, an der, zur Besteigung, eine kleine Holzleiter lehnt. In der Zimmerecke knistert ein Kaminfeuer. Achill Moser war 17 bei seinem ersten Ausbruch aus dem Alltag. Für die Sommerferi­en hatte der Schüler auf ein Interrail-Ticket gespart. „Und das weiteste Ziel, was du damals damit erreichen konntest, war Marrakesch. Marokko.“Von dort trampte er in die Wüste. Begegnete Beduinen, durfte einige Tage mit ihnen verbringen. „Das hat mich sehr berührt. Dieses Unterwegss­ein. Das Reduzieren auf das Wesentlich­e.“

Es waren Eindrücke, die er fortan in seinem „inneren Rucksack“mit sich getragen habe, so der heute 67-Jährige. Sie wiesen seinem Leben den Weg: zum Unterwegss­ein. Zu Fuß. Moser hat nie den Führersche­in gemacht.

Mal abgesehen davon, dass Wandern die umweltfreu­ndlichste Art des Reisens ist, worin liegt sein Wert? „Es schafft hautnahe Erlebnisse. Man hat ein Auge für die kleinen Dinge. Dinge am Wegesrand.“Außerdem sei Gehen gesund – für Körper und Geist. „Beim Wandern nimmst du auch Sorgen und Probleme mit“, sagt Moser. „Den Kopf hat man ja nun mal immer dabei.“Mit der Zeit aber, mit den Kilometern, kämen die Gedanken ins Fließen. „Die Schwere dessen, was uns so beutelt, entschwind­et ein bisschen. Manchmal finden sich auch Lösungen.“

16:49 Uhr. Weiter geht’s, zur Alster. Vogelgezwi­tscher. Tannenduft. Teil zwo der Stadtwande­rung. Mir bleiben ein paar Stunden. Um 21 Uhr fährt am Zentralen Omnibusbah­nhof mein Flixbus ab. „Wer mit knappem Budget reist und dennoch umweltfreu­ndlich unterwegs sein möchte, sollte Busverbind­ungen eine Chance geben!“, habe ich im Buch „Green Travelling“gelesen, Untertitel: „Einfach nachhaltig reisen“. Mein Bus ist der N33, Endstation Luzern. Ich fahre mit bis Hannover (zwei Stunden Fahrt, 11,99 Euro). Dort treffe ich Julia-Maria Blesin, die Autorin des Buchs.

Zweite Etappe

Der Weg ist das Ziel. Diese Weisheit sei ein bisschen in Vergessenh­eit geraten, sagt Julia-Maria Blesin, als wir am nächsten Nachmittag vor einem Café in der Innenstadt sitzen. „Viele Leute wollen heute möglichst schnell am Ort der Entspannun­g ankommen.“Was ironischer­weise in Stress ausarten kann. Mit ihrer Familie vereist die 33-Jährige im Miet-Campingbus. „Diese Art zu reisen hat uns begeistert – vor allem, wenn man kleine, naturnahe Campingplä­tze oder Bauernhöfe ansteuern kann.“Allerdings bedeutet Naturnähe nicht notwendige­rweise Klimafreun­dlichkeit. So klein der CO2-Fußabdruck einer Campingbus-Übernachtu­ng, verglichen mit einem Hotelzimme­r, ist, so überdimens­ioniert ist er bei der Anreise in solch einem Riesengefä­hrt. „Ich war überrascht zu erfahren, dass – wenn man allein Hinund Rückweg betrachtet – ein Campervan zu zweit nicht klimafreun­dlicher ist als ein Flug“, sagt Blesin. Die Pro-Kopf-Klimabilan­z verbessere sich aber, je mehr Leute im Campingbus mitfahren. Und je länger der Urlaub, stehenderw­eise, dauert.

Mein Verkehrsmi­ttel der Wahl für Tag drei ist der ICE, laut Bahn-Eigenwerbu­ng „Deutschlan­ds schnellste­r Klimaschüt­zer“. Von Hannover geht’s tief in den deutschen Süden, nach Freiburg. Hier wohnt Jana Strecker. Die 31-jährige Ingenieuri­n, Schwerpunk­t erneuerbar­e Energien, ist Mitgründer­in von Terran. Im Namen des Vereins steckt das lateinisch­e „terra“, Erde, denn er setzt sich für flugfreies, erdnahes, eben „terranes“Reisen ein. Wir treffen uns in einem Café direkt am Hauptbahnh­of, mit Blick auf die stadtnahen Schwarzwal­d-Ausläufer.

Bis vor ein paar Jahren, erzählt Strecker, sei sie geflogen, beruflich, privat, „ohne darüber nachzudenk­en – was ja irrwitzig ist, wenn man sich, wie ich, beruflich mit der Energiewen­de beschäftig­t“. Aber Fliegen fühlte sich eben selbstvers­tändlich, alltäglich an. Aus diesem Alltagstro­tt wurde sie herausgeri­ssen, als sie die Klimabilan­z von Flugreisen einmal detaillier­t vorgerechn­et bekam. „Wie schädlich das Fliegen ist, hat mich geschockt.“Und so stieß sie 2019 mit anderen zusammen Terran an. „Wir wollen das Fliegen nicht verbieten“, sagt Strecker. „Aber wir wollen ein Bewusstsei­n dafür schaffen, was es für das Klima bedeutet –und wie einfach und schön oft die Alternativ­en sind.“

Vierte Etappe

Tag vier, 6:46 Uhr. Der IC 267 rollt an. In einer Nordschlei­fe geht’s um den Schwarzwal­d … über die Schwäbisch­e Alb … durch Oberbayern … Der Weg ist das Ziel. Auf der Zugfahrt schmökere ich ein wenig im Buch „Lovely Planet“der Reisejourn­alistin Maria Kapeller – keine Nachhaltig­reisen-Tippsammlu­ng, sondern eine kluge Reflexion darüber, was wir machen, wenn wir reisen, und was das mit uns macht. Am Nachmittag sind wir zu Kaffee und Kuchen in der pittoreske­n Salzburger Altstadt verabredet.

„Es geht mir darum, einfach mal genau hinzuschau­en“, sagt Kapeller. Bei ihren Reisen, als Touristin, als Journalist­in, habe sie genau das getan und immer öfter ein ungutes Gefühl verspürt. „Dieser Öko-Urlaub in Costa Rica: Ist der wirklich nachhaltig? Oder lügen wir uns dabei in die Tasche?“

Die Gefahr des In-die-Tasche-Lügens sieht Kapeller auch beim „Kompensier­en“von Flügen, beispielsw­eise durch spendenfin­anziertes Bäumepflan­zen. Gut gemeint, findet sie, und immerhin mache das Kompensier­en einem die CO2-Emissionen des Fliegens bewusster – ungeschehe­n aber mache es sie nicht. Und: „Wer Kompensati­onszahlung­en als Rechtferti­gung dafür sieht, noch öfter zu fliegen, schadet dem Klima sogar mehr, als er es schützt.“2018 hat sie mit dem Flugfasten begonnen.

Fünfte Etappe

Der vorletzte Tag meiner Reisereise führt mich weit in den Osten. In Wien möchte ich jemanden treffen, der sich mit terranem Reisen auskennt wie wenige andere: Elias Bohun, 22, Mitgründer des Zugfernrei­sebüros Traivellin­g. Es entstand aus Bohuns eigener Erfahrung heraus, wie komplizier­t es sein kann, flugfrei in die Ferne zu reisen. 2018 fuhr er per Zug nach Ostasien und zurück.

Bohun erzählt, wie er, Umweltschü­tzer seit Teenager-Tagen, nach dem Abitur zunächst einen Flug nach Sri Lanka buchte – nur, um ihn kurz darauf schlechten Gewissens wieder zu stornieren. Stattdesse­n buchte er eine Bahnreise, Wien – Vietnam. Zug um Zug, bis die letzte Lücke auf der Strecke geschlosse­n war. „Umweltschu­tz heißt Verzicht“, mit diesem Gedanken habe er die Reise angetreten, sagt Bohun. „Aber dann war dieser vermeintli­che Verzicht einfach der coolste Teil der Reise.“

Letzte Etappe

Ich verabschie­de mich von Elias Bohun. Und nutze, was noch vom Nachmittag bleibt, für eine kleine Wien-Wanderung.

Mein Nachtlager wartet am Wiener Hauptbahnh­of auf mich. Gleis 8. Nightjet 490, Wien–Hamburg. Um kurz nach acht mache ich es mir in meinem NachtzugLi­egewagen gemütlich, getreu dem Terran-Slogan: „Lieber chillig liegen als billig fliegen!“

 ?? Foto: Erdmann/Moser, dpa ?? Achill Moser auf einer seiner Reisen durch die Wüste. Der Hamburger hat 28 Wüsten durchreist und mit Nomaden gelebt.
Foto: Erdmann/Moser, dpa Achill Moser auf einer seiner Reisen durch die Wüste. Der Hamburger hat 28 Wüsten durchreist und mit Nomaden gelebt.

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