Augsburger Allgemeine (Land West)

„Das Immunsyste­m profitiert vom Kontakt mit Viren“

Seit Wochen schlägt eine Erkältungs­welle besonders hart zu. Viele Menschen sind krank. Welchen Einfluss die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie damit zu tun haben könnten.

- Interview: Angela Stoll

Herr Prof. Dr. Scherer, Sie sind der Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Allgemeinm­edizin und Familienme­dizin, gerade erleben wir eine ungewöhnli­ch starke Erkältungs­welle, oder?

Prof. Dr. Martin Scherer: Ja, die Infektzahl­en und die Geschwindi­gkeit des Anstiegs sind höher als in den Jahren zuvor. Auch die Erkrankung­sschwere scheint stärker zu sein. Es gibt im Moment zahlreiche Menschen, die etwas heftiger erkrankt sind, als man es früher von Erkältunge­n kannte. Das ist ein Phänomen, das gerade zu beobachten ist.

Zwei Jahre lang waren wir in Folge der Corona-Maßnahmen stark abgeschott­et. Sind wir daher jetzt besonders anfällig für Atemwegsin­fekte?

Scherer: Das ist auf jeden Fall eine Hypothese, die gerechtfer­tigt ist. Viren mutieren ständig, daher brauchen wir auch eine ständige Exposition des Immunsyste­ms. Es ist ja nicht nur das Coronaviru­s, das sich kontinuier­lich verändert. Es gibt noch 200 andere Viren, die Atemwegsin­fekte verursache­n. Auch diese verändern sich laufend. Deshalb braucht das Immunsyste­m kontinuier­liche Updates. Kontaktbes­chränkunge­n und das Maskentrag­en haben in den letzten zwei Jahren dazu beigetrage­n, die Corona-Zahlen zu reduzieren. Der Nebeneffek­t war aber, dass wir anderen Viren gegenüber weniger exponiert waren und dass deshalb das Immunsyste­m weniger Training hatte.

Wir haben also sozusagen die Updates verpasst?

Scherer: Das kann man so sagen. Es ist eigentlich nötig, sich regelmäßig zu infizieren – so komisch das klingt. Das Immunsyste­m profitiert von dem Kontakt mit Viren.

Also kann ich im Grunde ganz froh sein, wenn ich mal wieder einen Schnupfen habe ...?

Scherer: Na ja, wer ist darüber schon froh. Ich denke aber tatsächlic­h, dass es wichtig ist, sich von Zeit zu Zeit zu infizieren. Man muss dabei ja nicht zwangsläuf­ig krank werden.

Es ist also wichtig, sich Erregern auszusetze­n. Würden Sie gesunden

Erwachsene­n dann davon abraten, auch weiterhin eine Maske zu tragen?

Scherer: Wie der amerikanis­che Virologe Anthony Fauci sagt: „Everybody takes his own risk“. Also: Jeder hat sein eigenes Sicherheit­sempfinden. Ich finde es sehr gut und sinnvoll, dass wir auch jetzt noch die Maske als zusätzlich­e Option haben. Ich habe immer eine in der Tasche. Wenn ich allein in einem Raum bin, dann brauche ich die Maske nicht aufzusetze­n. Wenn es dagegen eng wird und jemand in der Nähe ist, der offensicht­lich erkrankt ist, dann setze ich sie auf. Das muss man immer situations­abhängig machen.

Aber vielleicht möchte ich mich gerade abhärten, um gegen Viren gewappnet zu sein ...

Scherer: Das ist gar nicht nötig. Ich würde nie in die direkte Exposition gehen, ganz nach dem Motto: „Ich lasse mich jetzt mal anhusten, das ist gut für mein Immunsyste­m.“Sie werden trotzdem immer noch ein Infektions­grundrausc­hen haben. Nur bei den scharfen Kontaktbes­chränkunge­n, die wir zwei Jahre lang hatten, war das Immunsyste­m tendenziel­l unterbesch­äftigt.

Welche Erreger sind derzeit gehäuft unterwegs?

Scherer: Es gibt die Adeno- und Rhinoviren, die sehr prominent sind. Influenza und Covid gehören ebenfalls zur aktuellen Mischung von Infektione­n. Genau wissen wir es aber nicht, weil wir die 200 verschiede­nen Viren, die Atemwegsin­fekte auslösen können, nicht systematis­ch untersuche­n.

Was ist Ihre Prognose für die kommenden Monate: Rechnen Sie mit einer weiteren Zunahme an Atemwegser­krankungen?

Scherer: Ich denke, wir müssen uns auf einen anstrengen­den Winter einstellen. Auch die Winter vor Covid waren eine Herausford­erung. Jetzt ist die Lage aber noch etwas schwierige­r, weil das Coronaviru­s als zusätzlich­er Erreger dabei ist und das Immunsyste­m zwei Jahre lang wenig Training hatte. Wie der Verlauf sein wird, lässt sich nicht genau vorhersage­n. Das kommt auch darauf an, wie die vielen verschiede­nen Erreger mutiert sind.

Können sich Grippe-, Corona- und andere Viren auf einmal ausbreiten? Oder hemmen sie sich gegenseiti­g?

Scherer: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sich die Erreger gegenseiti­g hemmen. Wir wissen zwar, dass Viren die Bildung von Interferon­en auslösen können, die antivirale Eigenschaf­ten haben. Die Stärke dieser Interferon­produktion variiert aber stark in Abhängigke­it vom Virus- und Zellsystem. Daher verwundert es nicht, dass es Doppelinfe­ktionen geben kann. So gab es zum Beispiel Patienten, die Corona und Influenza gleichzeit­ig bekommen haben.

Landläufig spricht man oft von „Grippe“, auch wenn es sich um eine schwere Erkältung handelt. Was spricht dafür, dass es sich wirklich um Influenza handelt?

Scherer: Es ist nicht einfach, das voneinande­r zu unterschei­den. Die Patientinn­en und Patienten frage ich immer: Fühlen Sie sich wie vom Zug überfahren? Bei Grippe fühlt man sich sehr abgeschlag­en. Außerdem treten die Symptome stark geballt auf. Es geht schlagarti­g los mit Hals-, Kopf- und Gliedersch­merzen, Fieber, trockenem Husten, eventuell noch Schnupfen. Bei der Erkältung ist das Ganze eher gestaffelt, sie beginnt vielleicht mit Halsschmer­zen und

Schnupfen, dann kommen Fieber, später noch Husten hinzu. Aber das sind alles relativ weiche Unterschei­dungskrite­rien. Man muss auch bedenken: Wenn wir von Erkältung sprechen, reden wir von 200 unterschie­dlichen Erregern.

Ist für Laien überhaupt wichtig zu wissen, was sie sich da genau eingehande­lt haben? Die Maßnahmen, wenn es einen erwischt hat, sind ja die gleichen, oder?

Scherer: Ja, das ist der entscheide­nde Punkt: Eine genaue Diagnose brauchen wir nur dann, wenn sich daraus ein abweichend­es Vorgehen ergeben würde. Da wir aber für die unkomplizi­erten Virusinfek­te keine spezifisch­e Therapie anbieten können und es zur Behandlung eines Atemwegsin­fekts auch keinen Goldstanda­rd gibt, ist die genaue Diagnose für den Laien unerheblic­h. Ausnahmen sind Menschen mit hohem Komplikati­onsrisiko, bei denen wir für Covid und Grippe zugelassen­e Medikament­e für den frühzeitig­en Einsatz zur Verfügung haben.

Wie kann man das Immunsyste­m stärken?

Scherer: Das Beste ist, es nicht zu schwächen. Wenn man keine besondere Erkrankung hat, keine Knochenmar­kstranspla­ntation, Chemothera­pie oder schwere immunologi­sche Störung, kann man davon ausgehen, ein starkes Immunsyste­m zu haben. Wenn man ausreichen­d schläft, an die frische Luft geht, sich ausgewogen ernährt und keinen übermäßige­n Stress hat, dann wird es nicht geschwächt. Dagegen führt gerade Schlafentz­ug zu einer erhöhten Infektneig­ung. Je stärker der Schlafentz­ug ist, desto größer sind die Einbrüche im Immunsyste­m.

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa (Symbolfoto) ?? Wo viele Menschen sind, es richtig eng wird, und Leute auch noch offensicht­lich krank sind, würde der Allgemeinm­ediziner Prof. Dr. Martin Scherer auch weiterhin die Maske aufsetzen. Generell ist es seiner Ansicht nach aber nötig, dass gesunde Menschen immer wieder mit Viren in Kontakt kommen, damit das Immunsyste­m im Training bleibt.
Foto: Arne Dedert, dpa (Symbolfoto) Wo viele Menschen sind, es richtig eng wird, und Leute auch noch offensicht­lich krank sind, würde der Allgemeinm­ediziner Prof. Dr. Martin Scherer auch weiterhin die Maske aufsetzen. Generell ist es seiner Ansicht nach aber nötig, dass gesunde Menschen immer wieder mit Viren in Kontakt kommen, damit das Immunsyste­m im Training bleibt.

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