Augsburger Allgemeine (Land West)
Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (6)
Novelle von C. F. Meyer
England im Hochmittelalter: Unverzichtbare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegener Klugheit die politischen Geschäfte führt. Als der sinnenfrohe König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf … © Projekt Gutenberg
Es ist nur die Wahrheit, lieber Herr! die heidnischen Bogner sind unübertroffen. Haben sie doch vor Zeiten mit klugem Witze aus dem Umfange des Bogens die gedrungene und handliche Gestalt der Armbrust gezogen, wie die Sage lautet und ich gerne glauben will: denn Gott hat den Heiden viele Kunst und Wissenschaft gegeben, Mathematik, Mechanik, Baukunde, alle Lehre, wo gezählt und gewogen wird, um ihnen, wie ich meine, vor dem ewigen Tode einen kurzen Stolz zu gönnen.“Der Chorherr nickte billigend zu diesem weisen Worte, und der Bogner fuhr fort:
„Drei Jahre verblieb ich in der Heidenstadt, die Tage verflogen mir im Wettlaufe der Arbeit, und an den Abenden ergötzte ich mich, da mir nach und nach die arabische Zunge geläufig wurde, ohne Wein und Streit in den luftigen, offenen Hallen, wo sie Märchen erzählen. Dort vernahm ich einmal aus dem Munde eines braunen, glutäugigen Burschen, dem sie am liebsten lauschten, denn er verstand es, die Gebärde beider Geschlechter und jeden Alters und Standes mit beweglichem Mienenund Gliederspiele darzustellen, eine Geschichte, nicht besser und nicht schlechter als seine übrigen: Sie scheint Euch abweges; aber ich lasse sie nicht liegen, denn sie gehört zur Sache. Es ist das Märchen vom Prinzen Mondschein.
Ein junger Fremdling sei von einer gegen Mitternacht gelegenen Insel nach Cordova gekommen und habe sich dort bei dem Kalifen in Gunst gesetzt durch den Zauber seiner Gestalt und Rede und durch seine Meisterschaft im Schachspiele. Daneben habe er trotz seiner anmutigen Jugend eine solche Schärfe des Verstandes und politische Weisheit besessen, daß der von ihm beratene Kalife ohne Krieg und Blutvergießen durch die bloße Anwendung der Staatskunst in nicht langer Zeit der mächtigste der maurischen Könige geworden sei. Darum habe er den Prinzen Mondschein – so nannten die Cordovaner den Fremdling um der Blässe und Sanftmut seines Antlitzes willen – ganz närrisch liebgewonnen und ihm ohne Bedenken die schönste seiner Schwestern zum Weibe gegeben, Prinzessin Sonne, die, nachdem sie einmal den Fremdling erblickt, ihre leuchtenden Augen nicht mehr von ihm habe abwenden können. Sonne und Mond seien aber nicht über einen Jahreslauf zusammengeblieben, da die Geburt eines Mädchens der Prinzessin das Leben gekostet.
Hierauf hätten hundert neidische Höflinge gegen den Fremden, dessen Stellung sie erschüttert glaubten, sich heimlich verschworen. Der Kluge habe sie entlarvt, doch in milder Gesinnung für ihr Leben gebeten. Da seien eines Tages von königlichen Sklaven zehn Maultiere, mit ebenso vielen Säcken beladen, durch die Pforten seines Palastes getrieben worden, und als das Gesinde die Säcke geöffnet, seien die abgeschnittenen Köpfe seiner hundert Feinde auf den Marmorboden des Hofes gerollt. Der Beschenkte aber sei beim Anblicke der blutigen Gabe erblassend in seine Gemächer zurückgetreten und habe nach eingebrochener Nacht sein Kind aus der Wiege gehoben, ein Pferd bestiegen und die schlummernde Cordova verlassen. Mit ihm aber habe Glück und Macht dem König auf immer den Rücken gewandt.
Der Märchenerzähler verschwor sich im Feuer seines Vortrages, den Prinzen Mondschein persönlich gekannt und ihn oft auf den Plätzen
von Cordova mit über der Brust gekreuzten Armen demütig begrüßt zu haben. Sie seien nicht sehr verschieden an Alter, und nicht zehn Jahre seien vorüber seit jenen Begebenheiten.
Er war überzeugt, daß er die Wahrheit rede, aber ich nicht völlig; denn die Mauren, ehrwürdiger Herr, lügen mit mehr Aufrichtigkeit als wir, weil ihnen ihre rasche Einbildungskraft das Nichtgeschehene täuschend wie das Geschehene vorgaukelt.
Kurz vor meiner Abreise dann hörte ich den braunen Gesellen die Märe vom Prinzen Mondschein zum anderen Male erzählen und – diese Gerechtigkeit widerfahre ihm! – ohne merklichen Ausschmuck oder Umbau. Das fiel mir auf. Doch hatte ich nicht Zeit, ihn auszufragen, denn ich selber bereitete mich damals darauf vor, wie Prinz Mondschein, aus diesen fremden Sitten und Gebräuchen mich in der Stille nach der Christenheit heimzufinden.
Ich unternahm eine Meerfahrt nach Engelland, wo es mir bald gelang, bei dem vornehmsten Bogner in der Stadt London selbst Arbeit zu finden. Er hatte seine Werkstätte an der Themse unweit des festen Stadtturmes aufgetan und arbeitete mit vielen Gesellen. Da seine Kunst von König und Ritterschaft gesucht wurde, war sein Gut groß angewachsen, und man hätte ihn einen angesehenen Mann nennen können, wäre er nicht, wie alle vom Handwerk, von sächsischem Geblüte gewesen. Die Sachsen aber werden seit der Eroberung von ihren normännischen Herren unehrlich gehalten und auf eine unchristliche Weise unterdrückt.“
„Oho!“unterbrach Herr Burkhard. „Ist das die Rede eines Mannes, der ein halbes Menschenalter hinter Herrn Heinrich getrabt und stolziert hat?“Hans warf dem Chorherrn einen gescheiten Blick zu und erwiderte ohne langes Besinnen: „Es kommt, o Herr, beim Urteilen wie beim Schießen lediglich auf den Standpunkt an.