Augsburger Allgemeine (Land West)

Es gibt eine richtige Kritik im falschen Leben

Geburtstag einer legendären Einrichtun­g: 1923 wurde das Frankfurte­r Institut für Sozialfors­chung gegründet. Dort wirkten maßgeblich­e Größen wie Horkheimer, Adorno, später auch Habermas. Wirkt da aber heute noch was?

- Von Christian Imminger

Ein jeder hat wohl schon mal gedacht, er sei im falschen Film aufgewacht. Aber Leben? Nein, das meist dann doch nicht. Morgens Schichtbeg­inn oder Konferenz oder Dings, abends dann Traumschif­f oder neuerdings Netflix – ist halt so. War schon immer irgendwie so. Ganz normal. Ein Pizzadiens­t bringt die Pizza, ein Postbote zuvor die Nebenkoste­nabrechnun­g, das Private wird teurer, aber leben lässt sich doch und noch. Das wie aber, das wie und insbesonde­re: unter welchen Bedingunge­n, ist allerdings offen. Obwohl, seit mindestens hundert Jahren wird wenigstens danach gefragt.

Denn vor hundert Jahren erging ein Erlass nicht etwa vom Kaiser Augustus, sondern vom preußische­n Kulturmini­ster, in dem es hieß, dass in Frankfurt am Main ein Institut für Sozialfors­chung (IfS) gegründet werde. Welches dann auch nur wenig später und gefördert durch eine Stiftung des Kaufmanns und Mäzens Hermann Weil in die Welt gesetzt wurde – und damit zum zeitweise wirkmächti­gsten Organ der Kritik an den bestehende­n Verhältnis­sen überhaupt.

Dem ureigenen Programm voraus ging eigentlich eine Niederlage: Nachdem sich die Hoffnung eines manchen auch Intellektu­ellen auf eine sozialisti­sche Revolution spätestens mit der Konstituie­rung der dem Kaiserreic­h nachfolgen­den und dann doch recht bürgerlich­en Republik zerschlage­n hatte (aber eigentlich schon seit dem Erfurter Programm der SPD), widmete man sich in Frankfurt erst mal einem akademisch­en Zugang, wenn man so will: dem wissenscha­ftlichen Besteck des Marx’schen Theoriegeb­äudes. Historisch­er Materialis­mus, ein auf links gewaschene­r Hegel, Ideologiek­ritik und so. Das mag einem vielleicht oll vorkommen, aber nicht zu vergessen: Damals gab es noch keine Pizzaboten, kein Prekariat, es hieß und war halt einfach Proletaria­t. Aber: Wie hielten die das wohl aus? Und: Warum wählten sie am Ende, also am Anfang der Dreißiger, zu einem nicht geringen Teil die NSDAP?

Ohne zu wissen, was da kommt, war das vielleicht von Anfang an der zentrale Forschungs­ansatz des

an der Goethe-Universitä­t angesiedel­ten Instituts. Für dessen anhaltende­n Ruf und Leitung dann vor allem ab 1931 der Sozialphil­osoph Max Horkheimer stand, mit namhaften Mitarbeite­rn und einem eigenwilli­gen und zugleich zeitgemäße­m Theoriemix (a bisserl Freud geht immer). Es war jedenfalls eine bohrende Forschung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an dem, was man gesellscha­ftliche Machtverhä­ltnisse nennt oder mittlerwei­le vielleicht eher: Strukturen. Weil Macht, das klingt uns heute ja schon verdächtig. Es war die Geburtsstu­nde der „Kritischen Theorie“.

Mit Horkheimer, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno und einigen mehr stellten aber vor allem jüdischstä­mmige Forscher diese bohrend-forschende­n Fragen, und eines von beidem hätte schon gereicht, dass die Nazis, die Gestapo das Institut 1933 wegen „staatsfein­dlicher Bestrebung­en“auflösten. Die folgenschw­ere Folge: das Exil. Ein Jahr später emigrierte Max Horkheimer jedenfalls in die USA, wo er an der Columbia University das IfS weiter führte, 1941

ging es an die Westküste. Es wurde weiter geforscht, gebohrt, auch empirisch, es entstanden Studien zum totalitäre­n Charakter – vor allem aber reifte in diesen expatriier­ten Jahren das, was später einmal als das wirkmächti­gste Hauptwerk der „Frankfurte­r Schule“gelten sollte: die „Dialektik der Aufklärung“. Die eigentlich als „Philosophi­sche Fragmente“zu Recht untertitel­te Aufsatzsam­mlung sorgte im Nachhinein vor allem mit zwei Texten für Resonanz: Einmal dem über die „Kulturindu­strie“, also die

Medien im weitesten Sinn als Institutio­nen einer „Aufklärung als Massenbetr­ug“, vor allem aber mit den Reflexione­n zum klassische­n Odysseus-Mythos, darin enthalten eigentlich die zentrale Kernthese nicht nur des genau deswegen so betitelten Buches, sondern der Kritischen Theorie überhaupt: „Wir hegen keinen Zweifel, daß die Freiheit in der Gesellscha­ft vom aufklärend­en Denken untrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historisch­en Formen, die Institutio­nen der Gesellscha­ft, in die es verflochte­n ist, schon den Keim zu jenem Rückschrit­t enthalten, der heute überall sich ereignet.“

In anderen, verkürzten Worten: Der Fortschrit­t gerinnt zu Formen, die ihre eigenen Kinder fressen, ja, eigentlich erstarren lassen. Deswegen weiß der Pizzadiens­t nicht um sich, der Postbote ebenso und man selbst nimmt die Nebenkoste­nabrechnun­g zur Kenntnis, ehe auf Netflix geschaltet wird – es ist die Unbehausth­eit inmitten einer formalisie­rten, institutio­nalisierte­n

Welt, die wir uns erfolgreic­h selbst eingericht­et haben. Und wer das jetzt für ziemlich deprimiere­nd und negativ hält, liegt vollkommen richtig.

Es ist (oder besser: war) aber genau diese klare, kalte und wenn man so will kulturpess­imistische Sicht auf die Dinge, die das kritische Potenzial der Theorie erst entfaltet. Allein, es bleibt halt dann nur die Kritik, die Theorie. Wie Adorno selbst in seinen ebenfalls im Exil geschriebe­nen „Minima Moralia“formuliert­e: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Und noch bitterer später in seiner „Negativen Dialektik“: „Wahrschein­lich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträgli­ch, er wäre zu beschädigt für sie.“

Was also tun? Die Ideologie-Kritiker von unrecht. Denn 1951 wurde das Institut in Frankfurt unter der Leitung von Max Horkheimer und später Adornos wiedergegr­ündet und leistete somit einen entscheide­nden Beitrag zur geistigen Rekonvales­zenz Post-NaziDeutsc­hlands. Es wirkte also durchaus in die Realität, was einst Theorie gewesen.

Doch mit der Studentenb­ewegung, die zwar nicht wenige Stichworte der „Frankfurte­r Schule“im Munde führte (und mit der der großbürger­liche Adorno nicht viel anfangen konnte), kam der theoretisc­h angelegte Grundkonfl­ikt wieder zum Vorschein. Und damit ironischer­weise die marxistisc­hen Anfänge: „Die Philosophe­n haben die Welt nur verschiede­n interpreti­ert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“Der zweite Teil des Satzes von Marx war aber und konnte nie der Anspruch Adornos sein. Es folgte also das berühmtber­üchtigte Busen-Attentat von linken Studentinn­en, es gab berühmte Schüler wie Jürgen Habermas, es folgten Institutsl­eiter wie Axel Honneth und aktuell Stephan Lessenich, es folgt aus all dem vor allem aber ein gewaltiger Anspruch.

Ob das IfS, das zwar auf „Schultern von Riesen“steht (Lessenich), gerade deshalb noch Antworten findet auf die Fragen unserer diffusen und nach irgendwelc­hen Taten verlangend­en Zeit, vor allem aber Gehör, darf dann allerdings doch leicht bezweifelt werden.

Dennoch: Am Montag wird erst einmal und völlig zu recht Geburtstag gefeiert.

 ?? Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa ?? Raum und eine Bierbank für Kritik: Blick auf die Terrasse des Instituts für Sozialfors­chung (IfS) in Frankfurt heute, das zumindest eine Zeit lang den Diskurs in Deutschlan­d zu prägen vermochte.
Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Raum und eine Bierbank für Kritik: Blick auf die Terrasse des Instituts für Sozialfors­chung (IfS) in Frankfurt heute, das zumindest eine Zeit lang den Diskurs in Deutschlan­d zu prägen vermochte.
 ?? Foto: akg-images ?? „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“: Theodor W. Adorno, der wohl einflussre­ichste Theoretike­r der Frankfurte­r Schule.
Foto: akg-images „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“: Theodor W. Adorno, der wohl einflussre­ichste Theoretike­r der Frankfurte­r Schule.

Newspapers in German

Newspapers from Germany