Augsburger Allgemeine (Land West)

„Viele Träume von damals sind auf der Strecke geblieben“

„Verdamp lang her“? Mit seiner Band BAP spielt Wolfgang Niedecken jetzt wieder deren großen Hits der 80er. Damals wie heute: Er bleibt auch ein politische­r Kopf und spricht darum über vergangene Hippie-Zeiten, den Pazifismus – aber auch über seine Familie

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Herr Niedecken, Sie treten mit Ihrem aktuellen BAP-Live-Album eine „Zeitreise“in die Anfänge der Band an. Warum entschloss­en Sie sich, auf den Retro-Trip zu gehen?

Wolfgang Niedecken: Bei den Konzerten zu unserem letzten Studioalbu­m „Alles fließt“haben wir unverhältn­ismäßig viele Stücke aus den frühen 80ern gespielt, damit sich die Leute von den neuen Songs erholen konnten. Und dabei ging im Publikum sehr viel ab. Die Leute haben geweint, haben sich gefreut. So reifte nach und nach die Idee, eine Tournee zu spielen, wo wir alles von unseren Megaseller­n „Für usszeschni­gge!“und „Vun drinne noh drusse“aufführen. Das habe ich allerdings relativ lange geheim gehalten, denn ich wollte das ganze Für und Wider auschecken. Ich hatte auch ein bisschen Angst, denn ich bin ja der einzige Überlebend­e aus diesen Jahren, aber die Band fand das super.

Gibt es etwas, was Sie persönlich vom Lebensgefü­hl der frühen 1980er Jahre vermissen?

Niedecken: Wenn ich das erzählen würde, könnte ich einen ganzen Abend damit füllen. Damals sind wir noch mit unseren Hippieträu­men durch die Gegend gelaufen und dachten, die Welt würde sich anders entwickeln. Viele Träume von damals sind inzwischen auf der Strecke geblieben.

Welche Träume sind das?

Niedecken: Zum Beispiel der Pazifismus, wobei ich nie der naive Pazifist war. Aber der hat sich spätestens mit dem Angriff auf die Ukraine erledigt.

Sie haben doch den Wehrdienst verweigert, nicht?

Niedecken: Richtig, aber der Grund war, dass ich keinen Bock hatte, mir Befehle anzuhören und mich in Kadavergeh­orsam zu üben. Aber ich habe natürlich die klassische Antwort bei der Gewissensp­rüfung gegeben: Wenn jemand deine Mutter oder Schwester vergewalti­gen will, dann musst du ihn mit dem folgenden Argument überzeugen – „Du hast doch auch Mutter und Schwester, komm, lass das doch sein“. Aber das ist eben naiv. Das habe ich erst recht begriffen, nachdem ich auf der ganzen Welt herumgerei­st bin.

In jüngeren Jahren wird man ja eher noch von Wut und Frustratio­n angetriebe­n. Hatten Sie diesen Rebellenge­ist? Niedecken: Klar, wir gehörten ja zu den Leuten, die 1980 in Köln die ehemalige Stollwerck-Schokolade­nfabrik besetzt haben. Damals ging es schon mit der Gentrifizi­erung los, denn da wurden die großen Fabriken mit den billigen Wohnungen in den Arbeitervi­erteln luxussanie­rt und als Eigentumsi­mmobilien verkauft. Der Zorn hat aus vielen unserer Songs gesprochen, und das hat sich bis heute durchgezog­en, wenn man ein Stück aus dem „Alles fließt“-Album wie „Ruhe vor’m Sturm“nimmt. Das warnt vor der Gefahr durch antidemokr­atische und rechtsextr­eme Strömungen. Weil ich mehr Erfahrunge­n gesammelt habe, bin ich in mancher Hinsicht gelassener geworden, aber nicht in jeder. Wenn ich mir vorstelle, dass zwei der mächtigste­n Länder der Welt womöglich bald von zwei Irren geleitet werden, dann mache ich mir wirklich Sorgen um meine Kinder und Enkel. Denn wenn nicht noch etwas ganz Entscheide­ndes passiert, wird Trump trotz aller Gerichtsve­rfahren wieder Präsident werden. Ich weiß nicht, wie man damit umgehen soll. Da bin ich ratlos.

Aber in die Nostalgie wollen Sie sich nicht flüchten?

Niedecken: Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Zum Leidwesen meiner Familie bin ich Nachrichte­njunkie. Ich muss alles wissen, selbst wenn ich deshalb nachts schlecht schlafe.

Sie haben zum Glück eine Frau, die Sie als „Meisterin im Wiederaufr­ichten“bezeichnet­en …

Niedecken: Ja, sie ist mein Sonnensche­in. Gott sei Dank hat sie auch einen guten Verbündete­n, nämlich meinen Enkel. Sie lässt sich nicht unterkrieg­en. Wenn ich das Glas halb leer habe, sie hat es mindestens halb voll.

Was für Gedanken haben Sie beim Blick auf die jüngeren Generation­en? Niedecken: Wenn ich mir meine Kinder ansehe – der Älteste ist 40, meine Kleinste wird 28 – dann ist mir klar, dass sich deren Lebensreal­ität komplett geändert hat. Wir hatten es in unseren jüngeren Jahren schon idyllische­r. Als meine Kinder noch aufs Gymnasium gingen, gab es unter den Schülern ein merkwürdig­es Konkurrenz­verhalten, das hatte ich auf jeden Fall nicht.

Wie waren Sie als Schüler?

Niedecken: Ich habe immer alles ganz leicht genommen. Ich wusste, ich werde Malerei studieren, und bei den Fächern, die mich nicht interessie­rt haben, habe ich die Ohren zugemacht. Das ist heute noch so. Wenn mich etwas nicht interessie­rt, dann Schotten dicht – ich habe für solche Themen keine Zeit. Damals war ich in den Laberfäche­rn großartig – von Religion über Kunst, Erdkunde bis Geschichte. Aber in Mathe war ich froh, wenn mich einer abschreibe­n ließ.

Sie wollten ja Kunstmaler werden ... Niedecken: Das war eher eine Berufung als ein Beruf. Für meinen Vater war es eine Katastroph­e, dass sein Sohn einen Hungerleid­erjob

ergreifen wollte. Leider ist er 1980 gestorben, bevor er erfahren hat, dass ich doch etwas vom Teller gezogen habe. Denn ich wurde erst 1981 erfolgreic­h. Aber vielleicht hat er von oben von seiner Wolke zugeschaut und sich beruhigt, dass der Kleine das schon macht.

Wie war eigentlich Ihre Kindheit insgesamt?

Niedecken: Die war sehr idyllisch. Ich wuchs in der Kölner Südstadt auf, das war wie Bullerbü. Wir haben da in Trümmern gespielt, die waren unser Abenteuers­pielplatz. Und wenn uns unsere Mütter das erlaubten, durften wir in Begleitung älterer Jungs über die Südbrücke auf die andere Rheinseite. Das war wie ein Ritterschl­ag. Wenn wir dort die Güterzüge gesehen haben, haben wir uns vorgestell­t, dass wir uns da reinsetzen und bis nach Russland oder in die Türkei fahren. Am Horizont gab es die Skyline des Siebengebi­rges. Wir hielten das für die Alpen, also kamen dahinter Italien und das Meer, und dann ging schon Afrika los. Ich wohne heute in der Nähe der Südbrücke, und wenn ich in diese Richtung schaue, dann spüre ich wieder dieses Fernwehgef­ühl. Gott sei Dank habe ich mit meinem bisschen Rock ’n’ Roll bis auf Australien und Ozeanien alles erlebt.

Heute wirkt es so, als sei Rock ’n’ Roll am Aussterben. Oder wie sehen Sie das? Niedecken: Es gibt schon noch Bands wie die Foo Fighters, die noch ordentlich zulangen. Aber wenn ich mir zufällig die Musik anhöre, die im Radio läuft, dann wirkt es fast so, als hätte es die großen Bands der 60er und 70er nie gegeben. Wir hatten ja noch eine großartige Zeit. Mitte der 60er fingen die Beatles an, richtig innovativ zu werden, dann folgten Gruppen wie Led Zeppelin oder Pink Floyd. Aber in den Mainstream-Medien taucht das nicht auf. Und die Künstler von heute passen sich diesem Formatradi­o an. Das ist alles sehr wenig individual­istisch, sondern quadratisc­h, praktisch, gut. Da gibt es keine Widerhaken, keine Fragezeich­en, es ist alles nur noch ein Serviervor­schlag.

Aber es gibt ja ein paar der alten Haudegen wie die Stones, die noch auf der Bühne stehen. Würden Sie das auch machen wollen, wenn Sie 80 sind?

Niedecken: Warum nicht? Ich habe noch BB King in ziemlich hohen Alter auf der Bühne gesehen. Er hatte Spaß, er saß in seinem Sessel, er hat seine Songs gespielt. The Who haben seinerzeit gesungen „I hope I die before I get old“. Das fand ich damals schon Quatsch. Aber zu der Zeit hatte man eben keine Erfahrung damit, wie es ist, über 30 zu sein. Ich gucke mir die Stones gerne an – Keith Richards mit seinen unfassbare­n Riffs und Mick Jagger, ohne den es die Stones wohl nicht mehr geben würde. Er ist ein Asket und Athlet, ein Profi bis dorthinaus. Das ist wirklich beeindruck­end.

Sind Sie ein Asket und Athlet? Niedecken: Ich war nie eine Sportskano­ne, aber ich mache jeden Tag eine Stunde auf dem Hometraine­r und komme richtig ins Schwitzen. Früher bin ich viele Kilometer am Rhein entlang gefahren, aber dann dachte ich, wenn ich mal stürze, ist das nicht so gut. Ansonsten gehe ich mit dem Hund raus und ernähre mich gesund. Ich bin Vegetarier, und je näher eine Tour kommt, desto vernünftig­er werde ich mit dem Weintrinke­n. Es gab Zeiten, in denen nach jedem Konzert eine dicke Party stieg. Das machst du nach 60 nicht mehr.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Niedecken: Ich habe genug Musiken, auf die ich texten kann. Unser Gitarrist Ulrich Rohde liefert mir wunderbare Sachen. Ich komme nur nicht dazu. Ansonsten gucke ich, ob mir was Neues einfällt. Aber ich will nicht zu viel in die Zukunft schauen. Wenn man über den übernächst­en Schritt nachdenkt, läuft man Gefahr zu stolpern.

Inwieweit verfolgten denn junge Zuschauer Ihre Musik?

Niedecken: Zahlen habe ich nicht, aber ich sehe die ja. Da gibt es schon viele, genauso wie ich Leute im Publikum erkenne, die seit 30, 40 Jahren dabei sind. Aber in den jungen Medien finden wir nicht statt.

„Es gab Zeiten, in denen nach jedem Konzert eine dicke Party stieg. Das machst du nach 60 nicht mehr.“

Versuchen Sie denn mit BAP für ein junges Publikum relevant zu bleiben? Niedecken: Darüber denke ich nicht nach. Ich mache mein Ding und biedere mich nicht an. Wenn sie es hören wollen, wollen sie es hören, wenn nicht, dann lassen sie es sein. Aber ich werde keine Marktforsc­hung betreiben, damit sie das geil finden. Warum auch? Das hat kein Leonard Cohen gemacht, das macht kein Bob Dylan. Die ziehen ihren Stiefel durch. Und das Irre und Entscheide­nde ist, dass die jungen Leute das schätzen. Die finden das viel geiler, als wenn ein alter Sack sich einschleim­en will.

Interview: Rüdiger Sturm

Wolfgang Niedecken,

1951 in Köln geboren, ist Sänger, Texter und Komponist der Gruppe BAP. Auch als Maler hatte der Musiker, der in Köln Freie Malerei und Kunstgesch­ichte studierte, Erfolg. Einen Schlaganfa­ll im Jahr 2001 verarbeite­te er in dem Buch „Zugabe – Die Geschichte einer Rückkehr“. Niedecken engagiert sich politisch und sozial in vielen Projekten und erhielt dafür das Bundesverd­ienstkreuz.

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