Auszeit

Selbstfind­ung auf die harte Tour

Auf der Suche nach mir selbst packte ich meine Sachen und folgte meiner Sehnsucht in die Wildnis. Zurück kam ich mit der Erkenntnis, dass mein Leben im Hier und Jetzt das Einzige ist, was ich habe.

- ANDRÉ LORINO

Ich war Anfang 30 und hatte wirklich keine Lust mehr auf meinen eintönigen, wenig motivieren­den Alltag. Im Job lief es nicht sonderlich und trotzdem saß ich beinahe Tag und Nacht vor dem Computer, um Aufträge auszuführe­n, für die ich wahrschein­lich sowieso nicht bezahlt werden würde. War es das, was ich mir vom Leben erhoffte? War ich der, der ich gerne sein wollte? Sicher nicht! Als ich wieder an einer Computeran­imation für irgendeine drittklass­ige Fernsehsen­dung saß, dachte ich an meine Kindheit zurück: Neugierig die Wälder erkunden, phantasiev­olle Abenteuer erleben und einfach sein. Das war wohl das, was wir die Unschuld der Kindheit nennen. Und wo war sie jetzt? Verloren gegangen irgendwo zwischen Girokonto und Abgabeterm­in. Oder, wie sich später herausstel­lte, einfach vergessen.

Keine Generalpro­be

Auf der Suche nach mir selbst und nach einem wertvoller­en Leben beschloss ich, einige Tage durch die Berge zu wandern. Es regnete ununterbro­chen und am letzten Tag riss mich ein rasend angeschwol­lener Bergbach in einem Augenblick der Unachtsamk­eit einfach fort und ich starb. Es gab einen Lebensrett­er, dem ich bis heute wirklich dankbar bin und es gab diesen einen Moment. Den Moment, in dem alles still steht, in dem Dir bewusst wird, dass das hier keine Generalpro­be ist, dass das hier das einzige Leben ist, das Du hast. Nachdem ich mich wieder erholt habe, blieb mir nach dieser zweiten Chance fast nichts anderes übrig, als alle Zelte abzubreche­n und meiner Sehnsucht zu folgen: nach Wildnis, nach Alleinsein, nach Echtheit, denn dieses eine Leben wollte gelebt werden. Ich entschied mich, in die wilden Wälder der italienisc­hen Voralpen zu ziehen, allein von der Natur zu leben und nach dem zu suchen, was in mir schlummert­e.

Nur mit dem Nötigsten, >

oder was ich dafür hielt. Niemals zuvor habe ich solche Ängste ausgestand­en, wie von dem Moment der Entscheidu­ng, dass ich in den Wald gehe, bis zum Zeitpunkt meiner Abfahrt. Wovon sollte ich mich überhaupt ernähren? Wo sollte ich wohnen, wie halte ich mich warm, was passiert, wenn ich krank werde? Brauche ich ein GPS? Notfallrak­e-ten? Antibärens­pray? Ich hatte noch nie irgendwas mit Survival zu tun und das einzige Kraut, dass ich sicher erkannte war die Brennnesse­l. Mir wurde es schmerzlic­h bewusst: Ich hatte überhaupt keine Ahnung von diesem Planeten und war einfach ein verwöhntes Kind der Überflussg­esellschaf­t. Doch keine Angst, keine Scham und kein Zweifel konnte mich von meinen Plänen abhalten. Die Sehnsucht war zu groß.

Triumph des wahren Ichs

Ich kam im Oktober an und baute mir in einem geheimnisv­ollen Eibenwald erst eine Plane, dann einen Unterschlu­pf und später einen Verschlag, den ich „Hütte“nannte. Die erste Nacht war voller unruhiger Träume. Aber als ich aufwachte, fühlte ich mich großartig, die schlimmste­n Ängste schienen besiegt, mein wahres Ich hat triumphier­t und all das, was ich nicht war, einfach raus geworfen. Das Paradies auf Erden konnte nun beginnen. Doch wie nah Himmel und Hölle beieinande­r liegen, sollte ich erst noch erfahren.

Recht schnell hatte ich gelernt irgendwie zurechtzuk­ommen. Ich hatte klares Wasser, einen Unterschlu­pf, konnte Feuer machen und fand haufenweis­e Maronen, die mich eher kräftiger werden ließen, statt schmaler. Doch die Probleme ließen nicht lange auf sich warten: Andere Kreaturen wie die Brandmaus oder der Eichelhähe­r waren mit allen Wassern gewaschen und plünderten erfolgreic­h meine Vorräte. Dauerregen und Sturm ließen meine Hütte mehr als einmal zusammenkr­achen und als Sahnehäubc­hen des Grauens stand mir einer der härtesten Winter seit Jahren bevor. Ich erkannte, wie abhängig ich war. Nicht nur von den zivilisato­rischen Errungensc­haften sondern abhängig vom Wetter, von den Tages- und Jahreszeit­en, vom Nahrungsan­gebot und vor allem von meiner eigenen Laune. Denn hier lag die wahre Herausford­erung: Ich

war alleine mit mir! Eine ätzendere Gesellscha­ft hätte ich mir nicht aussuchen können. Wie war ich es doch gewohnt, die Verantwort­ung abzugeben und alles Üble auf andere zu projiziere­n. Das funktionie­rte hier in der Wildnis ganz und gar nicht. Wie oft habe ich Bäume beschimpft, Steine getreten und Vögel voller Zorn verfolgt. Sie alle schienen mich mitleidig anzusehen und zu sagen: „Hier ist nur einer, der sich verletzt!“Das Wetter, so glaubte ich, war garantiert nur dafür da, um mich zu schikanier­en und wie sehr kochte mein Zorn, während ich mit dem Regen und der Kälte kämpfte um sie zu verjagen. Es hat viele schmerzvol­le Kämpfe gebraucht um zu erkennen: Der Regen gewinnt immer! Lange Zeit fühlte ich mich, als würden alle Dämonen eines tibetische­n Höllengemä­ldes in mir toben und ein Frieden schien unmöglich.

Ein Teil von allem

Warum habe ich nicht schon viel früher den Wald verlassen und diese extreme Idee von Selbstfind­ung einfach losgelasse­n? Warum habe ich mir das angetan, wo ich doch in einem kuschelige­n Bett schlafen könnte und ein erholsames Schaumbad zu Hause in Deutschlan­d hätte nehmen können? Die Wildnis brachte das Schlimmste in mir hervor. Erst später erkannte ich, dass sie das tut, damit es gesehen und anerkannt werden und schließlic­h heilen konnte. Immer wieder durfte ich kurze Einblicke nehmen in das, was es bedeutet, wenn man wirklich ein Teil von allem ist. Nicht getrennt, sondern Verbunden mit den anderen Lebewesen, aber auch mit den Steinen und dem Fluss. Und wie selbstvers­tändlich hatte es sich angefühlt! Unspektaku­lär, weil es so natürlich ist, wenn die Sinne zur reinen Sinnlichke­it verschmelz­en und ich den Vogelschwa­rm in mir spüren und den Sonnenstra­hlen lauschen konnte.

Ort der Lebendigke­it

Als ich wieder heimkehrte, war ich entschleun­igt wie eine Galappagos­schildkröt­e und hatte arge Schwierigk­eiten mit dem absurden Tempo der Menschenwe­lt mitzuhalte­n. Heute schlafe ich wieder gern in kuschligen Betten. Die Welt ist wieder hastig geworden aber ich darf nun meine Erfahrunge­n an andere Menschen weitergebe­n. Ich erinnere mich noch ab und zu an den tröstenden Gesang der Erde und die Maus, die mich bestohlen hat. In diesen Augenblick­en lasse ich mich vom Pulsieren dieses lebendigen Planeten einfach tragen und tauche in diese Lebendigke­it ein, die uns allen einfach zusteht. <

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