Zwischenstation,
nach Mitternacht
Jede neue Situation lässt einen erfahren, wer man ist. Das hatte Nachbars Wilhelm übern Zaun gerufen, als sie von der Schaukel gefallen war und obwohl ihr rechtes Knie heftig schmerzte, hatte sie es sich gemerkt. Vielleicht gerade, weil es so wehtat.
Der skeptische Tonfall des Polizisten überwand die Zeitspanne von 13 Jahren in Nullkommanix ins Hier und Jetzt. Ihr könntet ja sonst wer sein, von
wegen Ausweis verloren. Victoria und Betty versuchten erneut und ebenso vergeblich, dem Mann in Uniform klar zu machen, dass sie bereits 18 Jahre alt sind, dass sie in ihren letzten Sommerferien mit dem Auto von Bettys Mom quer durchs Land reisten (Wie hieß eigentlich dieses Dorf hier?) und gestern bei einem spontanen Fotoshooting auf einer Brücke ihren Rucksack mit allen Papieren an den darunter hindurch fließenden Fluss verloren hatten. (Wie konnte man in solch einem idyllischen Ort mit gefühlt zwanzig Einwohnern überhaupt wegen Falschparkens verhaftet werden?) Wer sagt mir denn, dass ihr das Auto nicht geklaut habt?! Ohne Ausweispapiere ist es nicht mal sicher, wer ihr seid! Wenn der Nachwuchspolizist geahnt hätte… wäre ihm diese Bemerkung wohl nicht so leichtfertig über die Lippen gekommen. Wer
ich bin?, begann Victoria mit dieser eleganten Mischung aus Empörung und Zuversicht... Schon als Kinder besserten sie ihr Taschengeld für die große Reise auf, die sie sich ausmalten für später, wenn sie mal groß sind. Zu doof, dass ihre Eltern sie und Betty im Vorbeifahren an der Tankstelle entdeckten. Der Besitzer entkam einer Strafe, indem er behauptete, er hätte ihren kindlichen Eifer nicht bemerkt. Das war etwas, das sie gar nicht mochte. Lügen. Warum lügen Menschen überhaupt?
Dafür liebte sie den Himmel, wenn er sich vielfarbig über der Erde spannte. Und den Nachthimmel, im Schlafsack an Matty gekuschelt. Das war lange nach ihrem ersten Kuss, den Wilhelm ihr schenkte. Als sie jedoch erkannte, dass er die klugen Sprüche stets irgendwo aufschnappte, legte sie ihm einen Abschiedsbrief unter die Fußmatte. Menschen, die nur etwas nachplappern ohne eigene Gedanken anzustellen, mochte sie auch nicht. Gelogen hatte sie allerdings auch mal. Warum lügen Menschen? Fehlt ihnen der Mut sich so zu akzeptieren, wie sie sind? Man behindert sich dabei doch selbst auch. Sie wollte mal Philosophie studieren oder Sport oder so. Das wusste sie noch nicht so genau. Aber das würde sie noch rausfinden. Es ist genauso wichtig sich abzugrenzen, wie seine Grenzen zu erweitern. Sich neuen Herausforderungen zu stellen. Ängste überwinden.
Wie damals, als ihr Fahrlehrer in der ersten Praxisstunde ihr einen Riesenschreck einjagte. Die ganze Zeit über schrie er sie an, während sie versuchte, das Anfahren am Berg zu erlernen. Dadurch klappte es noch weniger. Irgendwann klappte der Fahrlehrer vornüber, riss die Tür auf und würgte, weil er bei seinem Gezeter den Kaugummi verschluckt hatte. Hochrot rang er nach Luft und schlug mit den Armen um sich. Völlig unmöglich, ihm zu Hilfe zu kommen. Sekunden, die zu Stunden wurden. Dann beruhigte sich alles wieder. Sie hatte gelogen als sie sagte, es täte ihr leid. Dieser Mann war das reinste Ekel. Apropos, sie würde jetzt wirklich gerne mal duschen und Hunger hatte sie auch. Am liebsten aß sie irgendwas mit Gemüse. Betty schritt auf ihre typisch gelassene Art ein, als Victorias Redefluss den jungen Mann beinahe komplett in die Enge getrieben zu haben schien. Sie
wollen also wissen, wer wir sind?, lächelte sie zuversichtlich. Ausweispapiere? Wir sind die Architekten unseres eigenen Lebens! <