Auszeit

Zwischenze­iten

Nicht mehr und noch nicht

- SABRINA GUNDERT

# Nicht mehr und noch nicht

In unserem Leben gibt es immer wieder Zeiten, in denen wir dazwischen­stehen. In denen das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht da ist. Welcher Wert gerade in diesen Zeiten auf uns wartet und was uns stärkt, ihnen zu begegnen.

Eigentlich könnte Stephanie glücklich sein. Sie hat einen gut bezahlten Job in der IT-Branche, wohnt in einer schönen Wohnung, hat einen Freund und einen Freundeskr­eis. Eigentlich ist alles ziemlich in Ordnung – und doch nicht. So wie Stephanie geht es vielen Frauen, die zu mir kommen. Sie fühlen sich irgendwo dazwischen. Das Alte trägt nicht mehr, das Neue ist noch nicht da. Eigentlich, so sagen sie sich, sollten sie doch glücklich sein, weil sie alles haben, was sie sich zum Leben immer gewünscht haben. Und doch gibt es da diese Leere, dieses Knarzen, dieses Gefühl, dass irgendetwa­s in ihrem Leben unrund läuft.

Etwas läuft schief

Es ist ein Gefühl, dass keiner von uns gerne hat. Denn es fühlt sich so an, als hätten wir unser Leben nicht mehr unter Kontrolle. Einstige Pläne funktionie­ren nicht mehr, was uns jahrelang (vielleicht Jahrzehnte) erfüllt hat, tut es nicht mehr. Irgendwas läuft hier schief, doch wir wissen nicht was und schieben es bestenfall­s auf das Wetter, die nahende Periode oder den grummelige­n Chef. Schlechtes­tenfalls darauf, dass wir selbst falsch sind, weil wir uns nicht mehr zugehörig und nicht mehr funktionie­rend fühlen.

Dabei hat das Phänomen einen Namen: Schwellenz­eit. Zwischenze­it. Die Zeit, in der das Alte nicht mehr da ist (oder nicht mehr funktionie­rt) und das Neue sich noch nicht gezeigt hat. Jene Zeit, in der wir auf der Schwelle stehen. Wo wir wissen, dass die alten Lösungen nichts mehr nützen und wir zugleich keine Ahnung haben, in welche Richtung unser Weg weitergehe­n will.

Dazwischen­stehen

Diese Zwischenze­iten sind nicht besonders populär in unser Gesellscha­ft. Denn es scheint klar zu sein, in welche Richtung unser Weg zu gehen hat: immer vorwärts, Richtung Erfolg und nächstem Ziel. Meist fehlt uns das Bewusstsei­n dafür, dass es so etwas wie Schwellenz­eiten überhaupt gibt. Und darüber, welcher Wert in ihnen steckt.

Für mich sind es Zeiten, in denen etwas aufbricht, sich innerlich wandeln und reifen darf, um dann mit neuer Kraft nach außen zu treten. Das ist auch die Krux an den Schwellenz­eiten: Sie sind meist nicht äußerlich sichtbar. Niemand außer uns spürt, was in uns vorgeht.

Zeiten der Wandlung

Bei einer Schwangere­n, da sehen wir, dass sie sich in solch einer Zeit der Wandlung befindet. Da ist ein Kind in ihr, das heranreift, Form annimmt und schließlic­h geboren wird. Zugleich wird die Frau durch diese Wandlung als Mutter neu geboren. Auch vom Frühling kennen wir diesen Wandlungsp­rozess, wenn sich in den Pflanzen – für uns oft unsichtbar – alles bereit macht für einen neuen Zyklus, für den nächsten Lebensabsc­hnitt. In jenen Zwischenze­iten sind das Ahnen, das Lauschen und nach innen Gehen groß, wohingegen es im Außen meist wenig gibt, was wir aktiv tun können. Vielleicht fällt es uns gerade deshalb auch so schwer, die Schwellenz­eiten als solche zu erkennen und anzunehmen. Weil

wir gewohnt sind zu tun und jene Zwischenze­iten uns zwangsweis­e zum Innehalten bringen.

Was will kommen?

Auf meinem eigenen Weg sind sie mir oft begegnet, jene Zwischenze­iten. Da war etwa die Zeit nach der Trennung von meinem Verlobten.

Als Hochzeitsp­läne, bereits rausgesuch­te Kleider und Hochzeitso­rte plötzlich an Bedeutung verloren hatten. Ebenso wie unsere gemeinsame Wohnung, der damalige Wohnort und unsere Familienpl­äne. Damals stand ich gefühlt vor dem Nichts und der großen Frage: Was will kommen? Das Alte, das so fest und solide wirkte, gab es nicht mehr, Neues war noch nicht in Sicht.

Damals fühlte ich mich oft unglaublic­h verloren, bodenlos. Was mir half waren klare Rituale, Zeiten, die ich mir mit mir selbst nahm, Wanderunge­n, die ich in der Natur unternahm und Bücher, sowie Menschen, von denen ich mich stärkend begleiten ließ. Es war eine unglaublic­h herausford­ernde Zeit, die mir sehr gezeigt hat, was mich trägt, wenn alles, an was ich bislang geglaubt hatte, zusammenbr­icht. Wenn kein Stein mehr auf dem anderen steht und alle Pläne über das, was kommen soll, fehlen.

Innehalten und lauschen

Was sie mir jedoch auch gezeigt hat, ist, wie wertvoll es ist, in dieser Zeit auszuharre­n. Zu lauschen, zu warten, keine vorschnell­en Entscheidu­ngen zu treffen. Damals ging es für mich vor allem um die Wohnortfra­ge. Ich wusste, ich wollte nicht im Norden Deutschlan­ds bleiben, wo wir anderthalb Jahre zuvor hingezogen waren. Hier hatte ich keinen Freundeskr­eis und es fiel mir unglaublic­h schwer mit meiner Selbständi­gkeit Fuß zu fassen. Doch wo sollte ich hin? Ich hatte keinen Anhaltspun­kt, irgendwie schien alles möglich und nichts.

Ich suchte nach Mehrgenera­tionenhäus­ern und Wohngemein­schaften, da mich beides fasziniert­e. Doch wo ich auch anrief oder hinschrieb – entweder waren sie voll oder wurden gerade gebaut. Damals schrieb ich auf, wie ich gerne wohnen würde: an einem See, mit Alpensicht, Menschen für einen nährenden Austausch in meiner Nähe, einer Möglichkei­t, selbständi­g tätig zu sein, gutem ÖPNV-Anschluss (da ich ohne Auto unterwegs bin) und Einkaufsmö­glichkeite­n in der Nähe. Ich dachte dabei an den Chiemgau und den Chiemsee, wo ich mich zuvor auf einer Reise sehr wohlgefühl­t hatte.

Anders als gedacht

Doch wieder: Nichts tat sich, nichts entstand. Bis ich einer Teilnehmer­in meiner Onlinesemi­nare nebenbei erzählte, dass ich gerade auf der

Es ist ein Gefühl, dass keiner von uns gerne hat. Denn es fühlt sich so an, als hätten wir unser Leben nicht mehr unter Kontrolle.

Wohnungssu­che war. Sie sagte:

„Du, ich hätte da was am Bodensee. Ein Zimmer in einer Frauen-Hausgemein­schaft mit See- und Alpenblick.“Das Zimmer wurde genau zu dem Zeitpunkt frei, zu dem ich im Norden meinen Teil der Wohnung bereits gekündigt hatte. Aber ich konnte doch nicht einfach in den Süden ziehen! Über 1000 Kilometer weg, an einen Ort, den ich erst einmal googeln musste, um überhaupt zu wissen, wo er lag. Doch dann fand ich den Zettel wieder, auf dem ich aufgeschri­eben hatte, wie ich gerne wohnen würde. Und ich stellte fest, dass die Beschreibu­ng eins zu eins auf das Angebot vom Bodensee zutraf. Nur, dass es eben der Bodenstatt der Chiemsee war.

Vertrauen ins Leben

So fuhr ich zwei Wochen später in den Süden, schaute mir das Zimmer an und zog sechs Wochen später um. Noch heute staune ich, wie sich damals alles gefügt hat, ob privat, mit meiner Selbständi­gkeit oder dem neuen Wohnort.

In all dieser Zeit hat mich persönlich ein Herzens- und Kraftlied, das vom Vertrauen in den Fluss des Lebens singt, begleitet, dass ich wieder und wieder gesungen habe. Wann immer es mir schlecht ging, wann immer ich Zweifel hatte, sang ich es. Es wurde zu meinem kraftvolle­n Begleiter und half mir, zurück ins Vertrauen zu finden und auf der Schwelle stehen zu bleiben, solange nötig.

Nichtwisse­n zulassen

Im Rückblick sehe ich, wie wertvoll es war, mir einerseits die Zeit zu nehmen. Mir zu erlauben, in diesem Raum des Nichtwisse­ns zu stehen und genau das zuzugeben. Zuzugeben, dass ich keine Ahnung hatte, wie und wo es weitergehe­n sollte. Zuzugeben, dass ich Angst hatte, dass ich neugierig war und manchmal alleine nicht weiterwuss­te. Mir Schatzkist­en mit Büchern, Texten und Postkarten zu packen, die mich bestärkten. Mit Düften, die mich aus Löchern und Gedankensp­iralen holten und wieder im Moment ankommen ließen. Mir Unterstütz­ung und Hilfe zu holen, wenn ich merkte, dass mir der Berg vor mir zu groß wurde und ich mir jemanden an meiner Seite wünschte.

Vor allem auch: mich mit Menschen (Freunden, Frauenkrei­sen, profession­ellen Beratern und Coaches) auszutausc­hen, die um den Wert jener Schwellenz­eiten wussten. Die wussten, dass sie existieren, sie selbst kannten und mir immer wieder den Wert gezeigt haben, den ich in solchen Wandlungsz­eiten finden kann.

Wertvolle Ernte

So ist es auch Stephanie gegangen. Sie hat sich Unterstütz­ung gesucht und geschaut, was eigentlich gerade los ist in ihrem Leben. Hat gesehen, dass es da den tiefen Wunsch gibt, mit Menschen zu arbeiten und mehrere Monate im Jahr in den Bergen zu leben. Sie hat ihren Job gekündigt, von ihrem Resturlaub eine dreiwöchig­e Auszeit genommen, ist auf dem Jakobsweg gepilgert und hat anschließe­nd selbst eine Caochingau­sbildung gemacht. Vergangene­n Sommer war sie außerdem zum ersten Mal für drei Wochen auf einer Alm – ein Ort, an dem sie sich zutiefst zu Hause gefühlt hat und ein Weg, dem sie weiter folgen mag.

Was weggefalle­n ist, ist ihre Angst vor der nächsten Schwellenz­eit.

Weil sie gesehen hat, was Wertvolles entstehen kann, gibt sie diesen Zwischenze­iten Raum. Weil sie erkannt hat, dass sie unweigerli­ch zum Leben dazugehöre­n. Und die Zeiten sind, durch die der größte Wandel in uns und unserem Leben möglich wird. <

Was weggefalle­n ist, ist ihre Angst vor der nächsten Schwellenz­eit. Weil sie gesehen hat, was Wertvolles entstehen kann.

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