Wie durch Watte
„Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen“, wusste schon Immanuel Kant. Als Hörgeschädigtenpädagogin versuche ich Brücken zwischen hörgeschädigten Kindern und ihrer hörenden Umwelt zu bauen.
# Vom Umgang mit Hörgeschädigten
Mein Blick schweift durch die Klasse und verweilt schmunzelnd bei meiner Schülerin, die tief versunken ihrer Aufgabenstellung nachgeht und vor sich ein Schild aufgestellt hat mit dem Hinweis „Hörpause“. Tief in mir spüre ich den Wunsch, auch einfach mal eine Hörpause einzulegen, meine Ohren auszuschalten und ganz bei mir zu sein. Kein Geräusch, das mich ablenkt und mich aus meiner Versunkenheit vorschnell zurückholen könnte.
Hör mit meinen Ohren
Wenn ich mir dieses Mädchen anschaue, das ich schon seit 6 Jahren in der Inklusion begleite, unterstütze, berate und fördere, weiß ich, dass ich den Beruf gefunden habe, der mich zufrieden macht. Und dabei steht Lena nur stellvertretend für all die Kinder und Jugendlichen, die mir im
Laufe der letzten Jahre anvertraut wurden, die mich berührt haben. Schüler und Schülerinnen, die alle eins gemeinsam haben: Sie hören unsere Welt nicht, wie wir dies mit unseren normalhörenden Ohren vermögen. Sie sind leicht- bis hochgradig schwerhörig, einseitig schwerhörig oder auch gehörlos. Ihre auditive Welt ist so verschieden wie ihre Hörbeeinträchtigung und nicht in einem einzigen Wort zu beschreiben oder zu erklären. Wichtig zu wissen ist dabei, dass sie auch mit ihren Hörhilfen nicht dazu in der Lage sind, so zu hören wie wir Hörenden. Es ist nicht vergleichbar mit dem Aufsetzen einer Brille, denn ihr Hören bleibt lückenhaft und verzerrt – trotz Hörgerät, Cochlea Implantat (CI) oder Knochenleitungshörgerät. Bestimmte Laute der deutschen Sprache bleiben zum Beispiel oftmals unhörbar, so dass das Verstehen einer Unterhaltung beeinträchtigt ist. Der Sinn des Gesagten muss dann erraten werden. Diese Anstrengungsleistung können wir uns visuell in etwa so vorstellen: _rage und An_wor_ sind die __eiler der _ommuni_a_ion!
Ihre Augen und ihr Verstand müssen nun die Lücken füllen, um den Sinn der Rede zu erfassen. Schaffen Sie es? Für Hörende ist das vielleicht ein interessanter Test. Lena steht immer wieder aufs Neue vor dieser Aufgabe. Hinzu kommt, dass ihre Hörhilfen Geräusche und Lärm ebenfalls verstärken. So überraschend es klingt, aber jede Geräuschkulisse ist für sie anstrengend und erschwert ihr das Verstehen.
Rücksicht und Empathie
Dieses lückenhafte und geräuschvolle Hören erfordert von Lena erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration in ihrem Alltag, so dass sie jetzt nach 3 Stunden Unterricht bewusst eine Hörpause einlegt, um Kraft zu tanken und ihren Ohren eine Auszeit zu gönnen. Mit ihrem Hinweisschild macht sie darauf aufmerksam, dass sie ihre CIs ausgezogen hat und momentan völlig gehörlos ist – sie ist in ihre Welt der Stille abgetaucht. Ihre Mitschüler und auch der Lehrer wissen, dass sie nun ein visuelles Signal braucht, bevor sie sie ansprechen können.
Sie müssen sich ihr von vorne oder der Seite nähern und Blickkontakt herstellen. Lena hat ihnen erklärt, dass es ihr allgemein leichter fällt zu verstehen, wenn sie bei Gesprächen angesehen wird. Denn sie versucht ihre Lautlücken so gut es geht mit dem Absehen von Lippenbewegungen zu schließen.
Normalität schaffen
Es fasziniert mich, sie so selbstbewusst zu sehen und ich bin stolz auf sie. Über die Jahre haben wir gemeinsam über die Auswirkungen ihrer Hörbeeinträchtigung gesprochen, Verstehenstaktiken eingeübt und ich habe ihr zur Seite gestanden als sie verschiedenste Hürden genommen und gemeistert hat.
Dass sie ihre CIs so selbstbewusst ablegt, sich der Stille hingibt und so offensiv mit ihrer Hörbeeinträchtigung umgeht, war nicht immer selbstverständlich. Wie viele andere versuchte sie ihre Hörhilfen zu verstecken, nicht aufzufallen, „normal“zu sein. Eine Hörschädigung gilt in unserer Gesellschaft noch immer als Manko, unsere hörende Sichtweise ist oftmals defizitorientiert. Diesen gehörlosen und schwerhörigen Kindern muss doch etwas fehlen – das sagen ja schon die gewählten Wörter für diesen Umstand: gehör-los und Hör-Verlust.
Meine Aufgabe als Hörgeschädigtenpädagogin ist es, Lenas Stigmatisierung entgegenzuwirken und sie in ihrem positiven Selbstbild zu bestärken. Ihr Selbstvertrauen zu geben. Denn wie sie selbst sagt, kennt sie ja gar keine andere Geräuschewelt als die, die sie umgibt. Für Lena wäre aber vieles einfacher, wenn wir uns besser mit der Thematik Hörschädigung auskennen würden und wüssten, wie wir ihr Begegnungen und Kommunikation erleichtern können.
Und somit ist eine weitere Aufgabe für mich, ihre hörende Umwelt zu sensibilisieren und ihnen Kommunikationsbrücken aufzuzeigen.
Sprechende Hände
Als Lena zum Beispiel in der 1. Klasse den Buchstaben-Rap hörte, mit dem die Kinder auf spielerische Art und Weise das Alphabet lernen, und die Lehrerin parallel mit dem Zeigestock auf jeden besungenen Buchstaben zeigte, schaute das Mädchen mich staunend an und fragte: „Was macht die Frau da mit den Buchstaben?“. Sie hörte zwar die Musik, aber nicht, was gesungen wurde. Also übersetzte ich ihr parallel den Text in Gebärdensprache. Sie lächelte, denn jetzt verstand sie. Überhaupt kann die Gebärdensprache vielen Missverständnissen vorbeugen, da sie eine visuelle Sprache ist – eine zauberschöne noch dazu. Sie ist ausdrucksstark, poetisch, folgt ihrer eignen Grammatik und vermag so viel. Es begeistert mich immer wieder, wie hörende und schwerhörige Kinder die Gebärden aufsaugen, wie Missverständnisse einfach aus dem Weg geräumt werden können und wie sie hilft, den Wortschatz zu erweitern. Das erlebe ich immer wieder. Meine Hände zum Beispiel können bei bestimmten Liedern nicht stillhalten und wollen diese in Gebärdensprache „singen“. So wird das Nichthörbare für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung sichtund verstehbar. Und alles, was sichtbar gemacht wird, hilft Lena zu verstehen: Bilder, Grafiken, Karten,… Sie ist eben ein Augenmensch und ihr fallen die kleinsten Details auf. Als ich mit ihr „Pettersson und Findus“las, entdeckte sie auf den Bildern winzige Dinge, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Bei visuellen Reaktionsspielen habe ich gegen ihre blitzschnellen Augen keine Chance, was sie immer wieder zum Lachen bringt.
Verständnis
Es ist gut, dass wir so ein Vertrauen zueinander haben. Sie weiß, dass sie mit jeder Frage zu mir kommen kann und Fragen hat sie viele, da sie Begleitinformationen der Sprache oft nicht entschlüsseln und Gesprochenes nicht einfach so nebenbei hören kann. So kam sie nach der Physikstunde zu mir und fragte achselzuckend: „Was haben denn jetzt die Polen mit den Magneten zu tun?“. Sie hatte die mündliche Erklärung der Begriffe nicht mitbekommen, weil sie währenddessen einen Merksatz in ihr Heft übertrug. Nun griff sie auf den ihr bekannten Wortschatz zurück. Ganz logisch, aber verwirrend. Auch in Deutsch machte sie sich auf die Suche nach einem roten Faden, der wohl verloren gegangen war.
Da der rote Faden für eine erfolgreiche Kommunikation unsagbar wichtig ist, schalte ich das Licht im Klassenraum aus und wieder ein.
Sie schaut auf, zieht ihre CIs an und taucht wieder in unsere hörende Welt auf. In dieser wünsche ich ihr von Herzen, dass sich viele Hörende für ihre Welt der Stille und ihr technisches Hören interessieren, ihr mit Verständnis und Geduld begegnen und sich die Zeit nehmen ihr Brücken zu bauen. <