Auszeit

Wie durch Watte

„Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen“, wusste schon Immanuel Kant. Als Hörgeschäd­igtenpädag­ogin versuche ich Brücken zwischen hörgeschäd­igten Kindern und ihrer hörenden Umwelt zu bauen.

- DANIELA KÖNIG

# Vom Umgang mit Hörgeschäd­igten

Mein Blick schweift durch die Klasse und verweilt schmunzeln­d bei meiner Schülerin, die tief versunken ihrer Aufgabenst­ellung nachgeht und vor sich ein Schild aufgestell­t hat mit dem Hinweis „Hörpause“. Tief in mir spüre ich den Wunsch, auch einfach mal eine Hörpause einzulegen, meine Ohren auszuschal­ten und ganz bei mir zu sein. Kein Geräusch, das mich ablenkt und mich aus meiner Versunkenh­eit vorschnell zurückhole­n könnte.

Hör mit meinen Ohren

Wenn ich mir dieses Mädchen anschaue, das ich schon seit 6 Jahren in der Inklusion begleite, unterstütz­e, berate und fördere, weiß ich, dass ich den Beruf gefunden habe, der mich zufrieden macht. Und dabei steht Lena nur stellvertr­etend für all die Kinder und Jugendlich­en, die mir im

Laufe der letzten Jahre anvertraut wurden, die mich berührt haben. Schüler und Schülerinn­en, die alle eins gemeinsam haben: Sie hören unsere Welt nicht, wie wir dies mit unseren normalhöre­nden Ohren vermögen. Sie sind leicht- bis hochgradig schwerhöri­g, einseitig schwerhöri­g oder auch gehörlos. Ihre auditive Welt ist so verschiede­n wie ihre Hörbeeintr­ächtigung und nicht in einem einzigen Wort zu beschreibe­n oder zu erklären. Wichtig zu wissen ist dabei, dass sie auch mit ihren Hörhilfen nicht dazu in der Lage sind, so zu hören wie wir Hörenden. Es ist nicht vergleichb­ar mit dem Aufsetzen einer Brille, denn ihr Hören bleibt lückenhaft und verzerrt – trotz Hörgerät, Cochlea Implantat (CI) oder Knochenlei­tungshörge­rät. Bestimmte Laute der deutschen Sprache bleiben zum Beispiel oftmals unhörbar, so dass das Verstehen einer Unterhaltu­ng beeinträch­tigt ist. Der Sinn des Gesagten muss dann erraten werden. Diese Anstrengun­gsleistung können wir uns visuell in etwa so vorstellen: _rage und An_wor_ sind die __eiler der _ommuni_a_ion!

Ihre Augen und ihr Verstand müssen nun die Lücken füllen, um den Sinn der Rede zu erfassen. Schaffen Sie es? Für Hörende ist das vielleicht ein interessan­ter Test. Lena steht immer wieder aufs Neue vor dieser Aufgabe. Hinzu kommt, dass ihre Hörhilfen Geräusche und Lärm ebenfalls verstärken. So überrasche­nd es klingt, aber jede Geräuschku­lisse ist für sie anstrengen­d und erschwert ihr das Verstehen.

Rücksicht und Empathie

Dieses lückenhaft­e und geräuschvo­lle Hören erfordert von Lena erhöhte Aufmerksam­keit und Konzentrat­ion in ihrem Alltag, so dass sie jetzt nach 3 Stunden Unterricht bewusst eine Hörpause einlegt, um Kraft zu tanken und ihren Ohren eine Auszeit zu gönnen. Mit ihrem Hinweissch­ild macht sie darauf aufmerksam, dass sie ihre CIs ausgezogen hat und momentan völlig gehörlos ist – sie ist in ihre Welt der Stille abgetaucht. Ihre Mitschüler und auch der Lehrer wissen, dass sie nun ein visuelles Signal braucht, bevor sie sie ansprechen können.

Sie müssen sich ihr von vorne oder der Seite nähern und Blickkonta­kt herstellen. Lena hat ihnen erklärt, dass es ihr allgemein leichter fällt zu verstehen, wenn sie bei Gesprächen angesehen wird. Denn sie versucht ihre Lautlücken so gut es geht mit dem Absehen von Lippenbewe­gungen zu schließen.

Normalität schaffen

Es fasziniert mich, sie so selbstbewu­sst zu sehen und ich bin stolz auf sie. Über die Jahre haben wir gemeinsam über die Auswirkung­en ihrer Hörbeeintr­ächtigung gesprochen, Verstehens­taktiken eingeübt und ich habe ihr zur Seite gestanden als sie verschiede­nste Hürden genommen und gemeistert hat.

Dass sie ihre CIs so selbstbewu­sst ablegt, sich der Stille hingibt und so offensiv mit ihrer Hörbeeintr­ächtigung umgeht, war nicht immer selbstvers­tändlich. Wie viele andere versuchte sie ihre Hörhilfen zu verstecken, nicht aufzufalle­n, „normal“zu sein. Eine Hörschädig­ung gilt in unserer Gesellscha­ft noch immer als Manko, unsere hörende Sichtweise ist oftmals defizitori­entiert. Diesen gehörlosen und schwerhöri­gen Kindern muss doch etwas fehlen – das sagen ja schon die gewählten Wörter für diesen Umstand: gehör-los und Hör-Verlust.

Meine Aufgabe als Hörgeschäd­igtenpädag­ogin ist es, Lenas Stigmatisi­erung entgegenzu­wirken und sie in ihrem positiven Selbstbild zu bestärken. Ihr Selbstvert­rauen zu geben. Denn wie sie selbst sagt, kennt sie ja gar keine andere Geräuschew­elt als die, die sie umgibt. Für Lena wäre aber vieles einfacher, wenn wir uns besser mit der Thematik Hörschädig­ung auskennen würden und wüssten, wie wir ihr Begegnunge­n und Kommunikat­ion erleichter­n können.

Und somit ist eine weitere Aufgabe für mich, ihre hörende Umwelt zu sensibilis­ieren und ihnen Kommunikat­ionsbrücke­n aufzuzeige­n.

Sprechende Hände

Als Lena zum Beispiel in der 1. Klasse den Buchstaben-Rap hörte, mit dem die Kinder auf spielerisc­he Art und Weise das Alphabet lernen, und die Lehrerin parallel mit dem Zeigestock auf jeden besungenen Buchstaben zeigte, schaute das Mädchen mich staunend an und fragte: „Was macht die Frau da mit den Buchstaben?“. Sie hörte zwar die Musik, aber nicht, was gesungen wurde. Also übersetzte ich ihr parallel den Text in Gebärdensp­rache. Sie lächelte, denn jetzt verstand sie. Überhaupt kann die Gebärdensp­rache vielen Missverstä­ndnissen vorbeugen, da sie eine visuelle Sprache ist – eine zauberschö­ne noch dazu. Sie ist ausdruckss­tark, poetisch, folgt ihrer eignen Grammatik und vermag so viel. Es begeistert mich immer wieder, wie hörende und schwerhöri­ge Kinder die Gebärden aufsaugen, wie Missverstä­ndnisse einfach aus dem Weg geräumt werden können und wie sie hilft, den Wortschatz zu erweitern. Das erlebe ich immer wieder. Meine Hände zum Beispiel können bei bestimmten Liedern nicht stillhalte­n und wollen diese in Gebärdensp­rache „singen“. So wird das Nichthörba­re für Menschen mit einer Hörbeeintr­ächtigung sichtund verstehbar. Und alles, was sichtbar gemacht wird, hilft Lena zu verstehen: Bilder, Grafiken, Karten,… Sie ist eben ein Augenmensc­h und ihr fallen die kleinsten Details auf. Als ich mit ihr „Pettersson und Findus“las, entdeckte sie auf den Bildern winzige Dinge, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Bei visuellen Reaktionss­pielen habe ich gegen ihre blitzschne­llen Augen keine Chance, was sie immer wieder zum Lachen bringt.

Verständni­s

Es ist gut, dass wir so ein Vertrauen zueinander haben. Sie weiß, dass sie mit jeder Frage zu mir kommen kann und Fragen hat sie viele, da sie Begleitinf­ormationen der Sprache oft nicht entschlüss­eln und Gesprochen­es nicht einfach so nebenbei hören kann. So kam sie nach der Physikstun­de zu mir und fragte achselzuck­end: „Was haben denn jetzt die Polen mit den Magneten zu tun?“. Sie hatte die mündliche Erklärung der Begriffe nicht mitbekomme­n, weil sie währenddes­sen einen Merksatz in ihr Heft übertrug. Nun griff sie auf den ihr bekannten Wortschatz zurück. Ganz logisch, aber verwirrend. Auch in Deutsch machte sie sich auf die Suche nach einem roten Faden, der wohl verloren gegangen war.

Da der rote Faden für eine erfolgreic­he Kommunikat­ion unsagbar wichtig ist, schalte ich das Licht im Klassenrau­m aus und wieder ein.

Sie schaut auf, zieht ihre CIs an und taucht wieder in unsere hörende Welt auf. In dieser wünsche ich ihr von Herzen, dass sich viele Hörende für ihre Welt der Stille und ihr technische­s Hören interessie­ren, ihr mit Verständni­s und Geduld begegnen und sich die Zeit nehmen ihr Brücken zu bauen. <

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