Auszeit

Augenmensc­hen

Johanna Krapf hat in ihrem Buch „Augenmensc­hen“acht Gehörlose zwischen 12 und 72 Jahren befragt und ihre Geschichte­n aufgezeich­net. Eines der Porträts, das über Pauline Rohrer, dokumentie­ren wir auf den folgenden Seiten.

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# Portait einer Gehörlosen

Pauline steht jeden Morgen um sechs Uhr an der Haltestell­e in Muri und wartet auf den Bus. Ziel der gut einstündig­en Reise: das Zentrum für Gehör und Sprache (ZGSZ) in Zürich Wollishofe­n, wo sie die erste Klasse der Oberstufe besucht. Pauline träumt von einer Lehrstelle in der Werbebranc­he, möchte aber auch nicht ausschließ­en, dass sie auf ihrem späteren berufliche­n Werdegang einmal ihr außergewöh­nliches Gebärdensp­rachtalent umsetzen wird. So ist sie bereits mehrfach bei FOCUSFIVE, dem Schweizer Gebärdespr­ach-Web-TV, aufgetrete­n und sie hat Geschichte­n und Märchen für eine Kinder-DVD gebärdet.

Eine etwas andere Familie

Pauline krault die Katze auf ihren Knien. „Stört das Schnurren nicht?“, fragt Paulines Mutter Silvia die Hörenden, die um den Tisch sitzen. „Schnurrt es denn?“, fragen sie. Sie lauschen. Stimmt, jetzt hören sie es auch. Auch? Nein, Silvia und Pauline hören es nicht. Sie sehen und spüren es und wissen aus Erfahrung: Das Schnurren ist ein Geräusch. Sie können jedoch nicht einschätze­n, wie laut es tönt. „Vielleicht kann die Katze nur noch ganz leise schnurren, sie ist nämlich sehr alt, siebzehn Jahre schon“, meint Silvia. Pauline ist zum Zeitpunkt des Gesprächs zwölf. Ihre erste Gebärde war KATZE. Da war sie etwa elf Monate alt. Pauline und ihr zehnjährig­er Bruder Calvin sind gehörlos, ebenso die Eltern Silvia und Viktor Rohrer, die sich in der Schweizer Badminton-Nationalma­nnschaft der Gehörlosen kennenlern­ten. Viktor ist Plattenleg­er und Silvia Hausfrau, früher arbeitete sie im Büro. Die Familie wohnt in Muri im Kanton Aargau im mittleren von drei ähnlichen Reihenhäus­chen. Wird aber bei ihnen der Knopf an der Eingangstü­r gedrückt, dann schellt im Haus keine Glocke, sondern ein Blinken macht darauf aufmerksam, dass draußen jemand wartet. Und es steht keine Musikanlag­e im Wohnzimmer, kein Radio in der Küche, das Telefon hat einen Bildschirm.

Auch sonst unterschei­det sich die Familie Rohrer von ihren Nachbarn: Bei ihnen ist die Gebärdensp­rache Familiensp­rache, nicht Deutsch. Sie ist die natürliche Mutterspra­che der Kinder. So hat sich Paulines Sprachentw­icklung von Anfang an in der Gebärdensp­rache abgespielt. Wie hörende Kinder in Lauten und Lautfolgen brabbeln, brabbelte Pauline mit den Händchen. Nach ihrer ersten Gebärde mit einer festen Bedeutung, KATZE, kamen rasch mehr und mehr dazu: MAMA, PAPA, und Pauline gebärdete munter drauflos. Wie alt war sie denn, als sie erstmals richtige Gebärdensä­tze bildete? Eine schwierige Frage. Die Mutter antwortet, Pauline habe erst nach ihrer Einschulun­g richtig sprechen gelernt, in ganzen Sätzen. Aber was meint sie mit „sprechen“und „Sätze“– in Gebärdensp­rache

Und es steht keine Musikanlag­e im Wohnzimmer, kein Radio in der Küche, das Telefon hat einen Bildschirm.

oder in Lautsprach­e? Und was ist denn ein richtiger, vollständi­ger Satz in Gebärdensp­rache? Ein Satz mit Artikel, Adjektiv, Nomen und Verb? Nein, denn das sind Begriffe aus der deutschen Grammatik. Ein Gebärdensa­tz ist vollständi­g und richtig, ohne einen Artikel zu enthalten, ja sogar oft auch ohne Adverb

GEBÄRDENSP­RACHE

Es gibt nicht nur eine einzige internatio­nale, sondern viele verschiede­ne Gebärdensp­rachen, die sich wie die Lautsprach­en ganz natürlich entwickelt haben. Die einzelnen Gebärdensp­rachen unterschei­den sich etwas weniger stark voneinande­r als die Lautsprach­en. Gehörlose können sich deshalb müheloser über Sprachgren­zen hinweg verständig­en als Hörende. und Verb, denn er folgt einer anderen, der deutschen aber absolut ebenbürtig­en Grammatik, und die beherrscht­e Pauline, als sie zwei bis drei Jahre alt war.

Paulines erstes Hörgerät

Ihr Spracherwe­rb spielte sich also im selben zeitlichen Rahmen ab wie bei einem hörenden Kind. Eine unterstütz­ende Therapie brauchte sie nicht. Die Audiopädag­ogin, die einmal die Woche mit Pauline zu arbeiten begann, als sie sechs Monate alt war, kam nicht, um den Spracherwe­rb zu unterstütz­en, sondern konzentrie­rte sich einzig auf das Artikulier­en. Sie sprach dem Baby Laute vor und versuchte es zur Nachahmung zu animieren. Ohne Hilfe der Gebärdensp­rache. Welch eine schwierige Aufgabe, wo Pauline doch nichts hören konnte! Auch ihr erstes Hörgerät, das ihr damals angepasst wurde, trug vermutlich nicht viel zum Lernerfolg bei. Aber immerhin war es ein lustiges Spielzeug: Hörgerät raus aus dem Ohr, rein ins Ohr, raus, rein …

Pauline bezweifelt, ob jenes Hörgerät oder all die neuen Hörhilfen, die ihr seither immer wieder verordnet wurden, jemals eine Hilfe waren. Sprachlich­e Laute kann sie damit nicht unterschei­den, weder die eigenen noch diejenigen, die die anderen produziere­n. Sie kann vielleicht ihren eigenen Namen erkennen, wenn er sehr laut gerufen wird, oder sie hört, wenn eine Türe zugeknallt wird. Aber was bringt das schon? Trotzdem muss sie das Hörgerät noch tragen, solange sie die Schule besucht, die Eltern bestehen darauf. Erst wenn sie eine Lehre macht, wird sie selber entscheide­n dürfen, ob sie ganz ohne auskommen möchte.

Und ein Cochlea-Implantat – kann sie sich vorstellen, sich eines einset-

zen zu lassen? „Nie, niemals!“Paulines Antwort ist unmissvers­tändlich. Sie ist in der Gemeinscha­ft der Gehörlosen daheim. Da sind ihre kulturelle­n Wurzeln. Die Gebärdensp­rache ist ihre Mutterspra­che. Also braucht sie für die natürliche Kommunikat­ion keine Hörhilfe. Und für die (ohnehin anstrengen­de) Kommunikat­ion in Lautsprach­e verlässt sie sich lieber auf das Lippenlese­n. Für Pauline ist klar: „Ich bin am Hören nicht interessie­rt.“...

Die besondere Schule

Mit sechseinha­lb war Pauline in das Zentrum für Gehör und Sprache (ZGSZ) in Zürich Wollishofe­n eingeschul­t worden. Dort spielt die Gebärdensp­rache traditione­ll eine für Schweizer Verhältnis­se wichtige Rolle. Schon 1984 wurde das Lautsprach­begleitend­e Gebärden eingeführt, eine Art gebärdetes Deutsch, bei dem Gebärden eins zu eins zu den Wörtern ausgeführt werden. Im ZGSZ können alle Lehrkräfte gebärden, und die Gebärdensp­rache nimmt im Unterricht einen wichtigen Platz ein. Sie ist ein eigenes Fach, dient aber auch als Verständni­shilfe in den anderen Fächern. So werden manche Stunden im Teamteachi­ng unterricht­et, das heißt, die Fachlehrer­in oder der Fachlehrer wird von einer gehörlosen Assistenti­n unterstütz­t, die die Inhalte zusätzlich in Gebärdensp­rache vermittelt. Außerdem gibt es das Fach „ProG“, in dessen Mittelpunk­t die Kultur der Gehörlosen steht. Aber abgesehen davon unterschei­det sich der Fächerkano­n der ersten Oberstufe am ZGSZ nur wenig von demjenigen einer Zürcher Regelschul­e: etwa Berufskund­e anstelle von Musik und die Fremdsprac­hen Deutsch und Englisch anstelle von Französisc­h und Englisch. Ja, Englisch für gehörlose Kinder, und zwar ab der fünften Klasse. In der Primarschu­le beinhaltet dieser Unterricht neben Lesen und Schreiben auch Sprechen, in der Oberstufe kommt die amerikanis­che Gebärdensp­rache (American Sign Language, ASL) dazu, und das Sprechen fällt weg. „Zum Glück“, sagt Pauline, „was soll ich englisch sprechen lernen? Man versteht mich ja sowieso nicht.“Das Artikulier­en der deutschen Lautsprach­e ist wahrhaftig anspruchsv­oll genug . ...

Blick nach vorn

Die Ferien verbringt Pauline am liebsten am Meer. Sie liebt die Sonne und das Baden – jedenfalls wenn sie das Wasser nicht mit Krebsen teilen müsse, sagt sie. Ein Stadtbumme­l in einer fremden Stadt ist auch nicht zu verachten: die Mode bestaunen, Kleiderreg­ale durchwühle­n, Eis schlecken. Wunderbar. Und das alles ohne Hörgerät, denn auch dieses darf mal Ferien machen, zu Hause wohlversta­nden. Am liebsten würde sie es jetzt schon ganz zur Seite legen.

Sie freut sich auf die Zukunft, wenn sie endlich selber darüber entscheide­n darf. Und was bringt die Zukunft sonst noch alles? Pauline träumt von einer Lehrstelle, wo sie ihrer Kreativitä­t und Freude am Gestalten freien Lauf lassen kann, zum Beispiel in einem Atelier in der Werbebranc­he. Daneben möchte sie die Berufsschu­le für Hörgeschäd­igte (BSFH) in Oerlikon besuchen. Voraussetz­ungen für die Aufnahme sind ein Lehrstelle­nvertrag und eine Verfügung der Invalidenv­ersicherun­g zur Finanzieru­ng des Unterricht­s Ob sie später die Ausbildung zur Gebärdensp­rachlehrer­in machen wird, wie ihr – wohl im Zusammenha­ng mit ihren Auftritten als Erzählerin in Gebärdensp­rache – immer wieder nahegelegt wird? Die Zukunft wird es weisen. <

Sie ist in der Gemeinscha­ft der Gehörlosen daheim. Da sind ihre kulturelle­n Wurzeln. Die Gebärdensp­rache ist ihre Mutterspra­che.

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