Unterwasserwelt
EIN AUSFLUG IN DIE UNTERWASSERWELT
# Von Walen und Korallen
Das Meer. Ein Sehnsuchtsort für jene, die Abgeschiedenheit und Weite suchen, und auch die Stille. In den Tiefen der See, jenseits des pfeifenden Windes, der kreischenden Möwen, weit unter den rollenden Urgewalten, verblassen alle Sinneseindrücke. Die Tiefsee ist beinahe vollkommen lautlos und dunkel. Beinahe.
Anders als man vermuten würde, dämpft das Meerwasser Töne nicht stärker als Luft: Der Schall breitet sich im Wasser nicht nur viermal so schnell aus, er schwächt sich außerdem sehr viel weniger ab. Durch Strömungen, unterschiedliche Temperaturen, Schichtungen und chemische Zusammensetzungen werden Töne deutlich verzerrt.
Ein Großteil der Ozeane ist weit über 1 000 Meter tief. In höheren Wasserschichten machen sich die Schiffsschrauben vorbeifahrender Ozeanriesen manchmal noch bemerkbar. Am Meeresgrund verschwimmen diese zu einem diffusen, tiefen Brummen, das fern und merkwürdig fremd wirkt. Doch die Weite der Ozeane ist so groß, dass abseits der Küsten oft die gluckernden Luftblasen, die vereinzelt ihren Weg nach oben suchen, die einzigen wahrnehmbaren Töne am Meeresboden sind.
Einige natürliche Phänomene können die Stille beeinträchtigen: In der Nähe von Unterwasservulkanen blubbert und zischt es deutlich, mitunter mischt sich darunter auch das Knacken erkaltenden und berstenden Lavagesteins. Es gibt Zeugnis der sich wandelnden Erdgeschichte. Auch große Eisberge nahe der Antarktis, ständig in Bewegung, knarzen und ächzen wie eine alte Stahlbrücke.
Musik unter Wasser
Aber da ist noch mehr. Und mit etwas Glück kann man sie dann hören: Walgesänge. Betörend, fremd und ungeheuer komplex. Walgesang gehört zu jenen Klängen, die man nicht vergessen kann, die uns klein fühlen lassen angesichts dieser uralten und rätselhaften Geschöpfe. Seit die Wale sich vor etwa 40 Millionen Jahren aus fleischfressenden, krokodilähnlichen Huftieren entwickelten, haben sich viele Arten herausgebildet. Und jede von ihnen hat ihre ganz eigene Art zu singen. Die größten der Wale sind die Bartenwale. Sie ernähren sich von Fischschwärmen, Plankton oder Krill, einer garnelenartigen Kleinkrebs-Art, die in riesigen, roten Wolken nahe der Antarktis auftreten. Bekannte Vertreter der Bartenwale sind der Blauwal, der Finnwal oder der Buckelwal. Diese Riesen der Meere verfügen über gigantische Stimm-Organe, die es ihnen ermöglichen, ohne zu atmen über große Distanzen – hunderte, vielleicht sogar tausende Kilometer – miteinander zu kommunizieren.
Wenn Wale singen
Die Lieder mancher Walarten enthalten auch Strophen, die für Wale der gleichen Art in einer bestimmten Region typisch sind – ähnlich einer Hymne – und für die Wale wohl identitätsstiftend und mit einem Gefühl von Vertrautheit, vielleicht Heimat verbunden. Manche der Tiere sind Einzelgänger und singen selten, andere sind in Gruppen unterwegs und ständig am Plappern.
Falls der Walgesang tatsächlich eine Sprache darstellt: Wird der Mensch sie jemals entschlüsseln? Wie erlernen die Tiere sie, wie vermitteln Walmütter ihren Kälbern die Bedeutung der verschiedenen Laute und Muster des Walgesangs?
Die meisten Forscher gehen davon aus, dass insbesondere bei der Balz, aber auch bei der Jagd hochkom>
plexe Kommunikation über den Walgesang abläuft. Dennoch ist es uns nicht gelungen, die Sprache der Wale auch nur annähernd zu entschlüsseln.
Ein Grund: Wale haben keine angeborene Sprache, sondern erlernen sie vermutlich genauso wie wir als Heranwachsende und folglich gibt es unterschiedliche Dialekte und Sprachen. Tiere aus einer Gruppe verstehen sich scheinbar blind, Tiere aus einer Region teilen zumindest ein paar Vokabeln. Tiere aus unterschiedlichen Regionen mögen sich zwar als Artgenossen erkennen, verstehen sich aber schlicht nicht. Schwertwale, die größten Vertreter der Delfine, haben beispielsweise über lange Zeit hochspezialisierte Jagdtechniken entwickelt, die oft auf Teamwork aufbauen und als Kultur an die Nachkommen weitervermittelt werden, inklusive zugehörigem Jagdvokabular. Bei Schwertwalen besteht der Gesang aus gut hörbaren, hochfrequenten Quiek-Lauten, Tröten, Schnalzen und aus Klick-Lauten, die auch von anderen Delfinen bekannt sind.
Es macht „Klick“
Dafür verfügen die Tiere über ein spezielles Organ, die sogenannte Melone, an der Spitze ihres Kopfes, das die erzeugten Laute in einem genau austarierten Muster nach vorne streut. Delfine z. B. können über dieses System Objekte in hunderten Meter Entfernung wahrnehmen und sich somit auch nachts oder in großen Tiefen orientieren. Dabei ist die Höhe der Klicklaute entscheidend: Tiefe Laute ermöglichen es, große Objekte wahrzunehmen. Ist der Delfin dann näher am Ziel, kann er mithilfe höherfrequenteren Klickens die Beschaffenheit des Objekts sehr viel genauer untersuchen. Manche Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass Delfine Herzschlag und Erregungszustand potentieller Beute mithilfe ihrer komplexen Hörorgane und ihres hochentwickelten Gehirns wahrnehmen können.
Auch der größte Vertreter der Zahnwale, der Pottwal, erzeugt Klick-Geräusche – allerdings in einer völlig anderen Dimension als seine kleineren Verwandten.
Die Melone eines Pottwals nimmt gemeinsam mit dem rätselhaften Spermazeti-Organ den größten Teil seines massigen Kopfes ein. Die Klicklaute, die der Pottwal erzeugt, sind daher auch überaus laut: In
Einzelfällen wurden 236 Dezibel gemessene – das lauteste bekannte Geräusch des uns bekannten Tierreichs. Die Lautstärke ist so enorm, dass für Menschen das Tauchen mit diesen majestätischen Geschöpfen sehr gefährlich sein kann. Hoch interessant ist der Rhythmus, mit dem Pottwale klicken. Dieser wechselt zwischen sehr regelmäßigen, fast maschinenartigen Klopfgeräuschen, über Storchen-ähnlichem Klappern bis hin zu einem unbändigen Schnarren mit einzelnen lauten Klack-Geräuschen, fast wie ein Geigerzähler. Auch hier vermuten die Forscher, dass mehr dahintersteckt. Schließlich hat der Pottwal das größte und komplexeste Gehirn aller Lebewesen der Erde. Vielleicht versteckt sich im Rhythmus der Klicks eine Sprache, die bereits Millionen Jahren vor dem Auftreten des Homo Sapiens von diesen fantastischen Geschöpfen gesprochen wurde.
Immer wieder gelingen auch Aufnahmen, in denen der Pottwal gleichzeitig mit verschiedenen anderen Walarten zu hören ist, beispielsweise ein rhythmisches, verräterisches Klicken unterlegt mit dem Gesang von Buckelwalen. Ist es Zufall oder gibt es sie doch, die Sprache der Wale? Oder vielleicht leben die Meeressäuger auch nur ihren ganz eigenen Musikstil aus und denken, wir lauschen ihnen gerade nicht.
Achtung Aufnahme!
So manches verwirrende Geräusch unter Wasser lässt sich zuordnen: Kindergeschrei? Wahrscheinlich Beluga-Wale! Auch Seeleoparden – schlanke, perfekte Unterwasserräuber – haben eine den Walen gar nicht unähnliche Form der Kommunikation entwickelt: eine Mischung aus Gurren, Zwitschern und Tirilieren.
Auch Fische sind keineswegs so stumm, wie ihnen sprichwörtlich nachgesagt wird. Ihr Schmatzen, Schnalzen und Brummen ist vielfältig, aber im Gegensatz zu Walgesang sehr leise. Manche Wissenschaftler rücken ihnen aber dennoch mit Hochleistungsmikrofonen zu Leibe. Heringe zum Beispiel, die Gase zwischen ihrer Schwimmblase und ihren Gedärmen austauschen, kommunizieren mit den resultierenden Pupsgeräuschen tatsächlich, sind sich zumindest einige Forscher sicher. Und wer schon einmal einem Knurrhahn begegnet ist, der weiß, dass dieser seinen Namen ganz zurecht trägt. So mancher Angler warf den Fisch vor Schreck wieder ins kühle Nass.
Manche Geräusche sind dagegen wohl auf menschlichen Ursprung zurückzuführen: Mit Geräuschen, die monatelang kanadische Inuit verwirrt haben, beschäftigt sich beispielsweise mittlerweile das Militär und vermutet U-Boote oder illegale Minenarbeiten als Ursache.
Bei vielen Geräuschen aus den Untiefen stehen aber die Forscher auch heute noch vor einem Rätsel. Manche sind laut und erinnern an Walgesang, entsprechen jedoch keiner bekannten Art. Andere sind schlicht mythisch und erinnern uns immer wieder daran, dass die Tiefsee eine weitgehend unerforschte, aber kei-
neswegs leblose Region ist, die viele ihrer lauten und stillen Geheimnisse noch immer für sich behält.
Licht unter Wasser
Anders als Luft filtert Wasser das Sonnenlicht. Wenn dieses auf die Wasseroberfläche trifft, wird es auf dem Weg nach unten immer mehr abgeschwächt. Doch das passiert nicht für alle Farben gleich schnell: Zuerst verschwinden nach 5 Metern Rotanteile deutlich, gefolgt von Gelb, Grün und schließlich als letztes Blau in etwa 60 Metern. Kurz bevor das Sonnenlicht endgültig nicht mehr durchdringt, ist alles in Blautöne gehüllt. Weiter unten ist es dunkel, das Sonnenlicht kaum noch spürbar. Fische in mittleren Wassertiefen haben daher oft Alternativen zum optischen Sehen entwickelt, zum Beispiel das Seitenlinienorgan. Oder sie besitzen grotesk große Augen, sind darauf spezialisiert, mit dem wenigen verfügbaren Restlicht noch Freund und Feind erkennen zu können.
In der Tiefsee wird es dann ganz verrückt: Fische, Krebstiere und andere Lebewesen, auch Plankton leuchten plötzlich von selbst – dabei bedienen sie sich der gleichen Chemie wie Glühwürmchen. Doch warum tun sie das? Einige Lebewesen machen durch pulsierende Festbeleuchtung aus blauem, roten und grünen Licht geradezu fahrlässig auf sich aufmerksam. Solche Dummheiten sind nur durch Fortpflanzungsdrang zu erklären. Cleverer sind da die Anglerfische, hässliche und bedrohlich aussehende Ungeheuer, vor deren Kopf ein meist leuchtendes wurmähnliches Gebilde hängt. Von diesem Köder angezogen verschwinden zahlreiche Fische schnurstracks im monströsen Maul des Jägers. Selbst sind sie oft perfekt an den Untergrund angepasst und tarnen sich entweder als Stein oder als Gestrüpp. Manche getarnten Steinfische (auch hier ist der Name Programm) verstecken unter ihren Flossen Muster aus Signalfarben, die nach einer möglichen Entdeckung durch einen noch größeren Fisch diesen zumindest verwirren oder von einem Angriff abhalten sollen.
Lautlose Signale
Wie und warum funktionieren Signalfarben unter Wasser? Hier spielt sich die Evolution selbst einen Streich. Manche Unterwassertiere wie z. B. Seeschlangen, Quallen oder Feuerfische haben statt einer aufwändigen Tarnung oder ausgefeilten Fluchtmechanismen lieber hochwirksame Gifte gegen mögliche Fressfeinde entwickelt. Werden sie angegriffen, endet das dennoch oft genug für beide Seiten tödlich. Daher ist es vorteilhaft, zusätzlich ein charakteristisches Schema zu entwickeln, das Räuber von einem Angriff abhält, je schriller desto besser. Andere Tiere besitzen zwar
kein Gift, profitieren aber davon, dass sie dem Schema eines giftigen Tieres entsprechen, es imitieren.
Ein gutes Beispiel sind Wasserschnecken: Schnecken sind langsam und werden auch unter Wasser nur selten durch Flucht überleben. Einige von ihnen gehören aber zu den giftigsten Geschöpfen überhaupt, viele sind harmlos. Alle sind aber in den buntesten Farben und Mustern gefärbt, leuchten teilweise grell und sind mit aufwändigen Püscheln geschmückt. Versetzen Sie sich mal in den Räuber: Wenn etwas so auffällig ist, würden Sie es wagen?
Farbenpracht
Anders als in unseren Breitengraden ist in den südlichen Korallenriffen, wie zum Beispiel um das Great-Barrier-Reef, das Leben unter Wasser bunt. Korallen sind kleine Nesseltiere, es gibt hunderte Arten. Die meisten wachsen im Jahr nur wenige Millimeter. Im Laufe der Zeit erzeugen sie mithilfe Ihrer skelettierten Überreste Riffe, die für Fische, Schwämme, Algen, Polypen und Krebstiere Nahrung und Unterschlupf bieten und so eine bunte Vielfalt von Leben ermöglichen. Es scheint, als wöllten alle Lebewesen gleichzeitig Aufmerksamkeit, aber im gleichen Moment signalisieren: Vorsicht, giftig! Diese Drohung wirkt, weil dort tatsächlich so viele giftige Tierchen leben. Egal ob der Picasso-Drückerfisch, der Clownfisch oder die Kugelfische: Zwischen den Korallen wirken die meisten der Bewohner wie kleine Kunstwerke. Auch die Korallen selbst sind oft sehr farbenfroh, sind sie doch in vielen Fällen in symbiotischen Beziehungen von anderen Lebewesen abhängig. Und wenn man schon nicht singen kann, so kann man ja wenigstens in der richtigen Farbe leuchten.
Besonders schillernd wird es, wenn es ums Fressen, Gefressen werden oder um die Fortpflanzung geht. Und falls der Nahrung suchende
Hai kommt: Unter den Ästen der nächsten Koralle kann man sich vorzüglich verstecken, auch als bunter Vogel unter den Fischen. Und so sind Farben wie auch die Töne unter Wasser ein Beispiel für den Einfallsreichtum der Evolution, um zu kommunizieren, zu tricksen, zu jagen und für jedes Lebewesen eine Nische zu finden, in der es im Kreis des Lebens eine Extrarunde mehr drehen und sein Erbgut an die Nachkommen weitergeben kann. <