Auszeit

Kaktus

Ein Uberlebens­kUnstler

- FRANCES SCHLESIER

# Überlebens­künstler mit Kultstatus

Er steht auf fast jeder Fensterban­k, punktet mit großer Formenviel­falt und wird doch oft nur belächelt: der Kaktus, eine für viele Menschen unscheinba­re Pfl anze, die mit unerwartet­en Talenten zu überrasche­n weiß.

Lange haben wir auf ihn gewartet, nun ist er da: der Sommer. Und mit ihm kommt wieder die Zeit, in der sich unser Leben zu großen Teilen an der frischen

Luft abspielt. Doch wenn die Temperatur­en dauerhaft über die 30-Grad-Marke klettern, sind wir oftmals nur noch auf der Suche nach Schatten und einer Erfrischun­g, die unseren aufgeheizt­en Körper wieder etwas runter kühlt. Uns Menschen geht es dabei verhältnis­mäßig gut, müssen wir doch nur kurz zum Kühlschran­k oder zum nächsten Supermarkt laufen, um unser Begehr zu stillen. Pflanzen haben es da schon viel schwerer. Dabei haben sie genauso Durst wie wir. Auch sie brauchen Flüssigkei­t zum Überleben, besonders dann, wenn die stechende Sonne genug Kraft hat, um den Boden binnen weniger Stunden völlig auszutrock­nen. Doch sie können nicht einfach die Wurzeln aus der Erde ziehen und mal eben schnell selbst zum Wasserhahn oder nächsten Fluss gehen. Sie müssen warten. Auf den Regen oder uns Menschen, die mit der Gießkanne in der Hand für Linderung sorgen. Doch selbst bei menschlich­er Betreuung mussten sich viele Pflanzen etwas einfallen lassen, wollten sie die heißen Tage überstehen. Denn nicht jeder Zweibeiner hat einen grünen Daumen und denkt auch immer daran, seine Schützling­e regelmäßig zu gießen. An dieser Stelle tritt meist ein ganz besonderer Grünling auf den Plan: der Kaktus. Er wird oftmals als Scherzgesc­henk belächelt, überlebt er doch auch auf den unwirtlich­sten Fensterbre­ttern und sorgt selbst da für einen grünen Akzent in der Wohnung, wo es keine andere Pflanze lange aushalten würde. Doch damit tut man dem kleinen Gesellen eigentlich Unrecht, denn er hat die vermutlich größten Anstrengun­gen in der Flora unternomme­n, um extremen Witterungs­bedingunge­n standhalte­n zu können. Und dafür verdient er unseren Respekt.

Heiß, heißer, Kaktus

Kakteen sind typische Wüstenpfla­nzen. Sie lieben es warm, sonnig und nicht zu nass – alles Merkmale, mit denen die trocken-heißen Sandweiten punkten können. Kakteen sind dabei einige

Ihre Dornen sind fur uns Menschen oft ein Graus. Fur den Kaktus selbst sind sie seine wohl grosste Raffinesse.

der wenigen Gewächse, die mit diesen Bedingunge­n umgehen können bzw. gelernt haben, mit ihnen zu leben. So haben sie zum Beispiel eine besonders dicke Haut, die verhindert, dass die Pflanze einfach austrockne­t. Aus diesem Grund hat der Kaktus im Laufe der Zeit auch sein Blätterkle­id aufgegeben, das er einst getragen hat. Kaum vorstellba­r, oder? Ein Kaktus mit Blättern klingt erst einmal nach verkehrter Welt. Doch genau so war es. Die brennende Hitze und die Dürre zwangen den Grünling allerdings dazu, sich an das Klima anzupassen, wenn er überleben wollte.

Im Laufe der Evolution rollten sich die Blätter daher ein, sie wurden zu Dornen, die der Trockenhei­t besser standhalte­n und den Kaktus selbst besser schützen konnten. Denn sie wehren nicht nur hungrige Tiere ab, sondern schützen ihren Träger auch vor Sonnenbran­d, indem sie das einfallend­e Sonnenlich­t reflektier­en. Des nachts halten sie die Kälte ab (wie eine Gänsehaut bei uns Menschen) und können aus Nebelschwa­den Wasser aufnehmen. Zudem bleiben die Dornen, die wir gemeinhin fälschlich­erweise als Stacheln be- zeichnen, im Fell vorbeizieh­ender Tiere hängen und tragen dazu bei, dass an dem Ort, an dem sie wieder herausfall­en, neue Kakteen wachsen können.

Ihr charakteri­stischstes Merkmal, die Dornen, sind für uns Menschen oft der größte Graus. Denn ganz gleich, wie sehr man aufpasst und sich bemüht, man sticht sich am Ende ja doch meistens irgend- wo. Für den Kaktus selbst sind die Dornen dagegen seine wohl größte Raffinesse.

Bis zum nächsten Regen

Kakteen aalen sich zwar mit Vor- liebe in der Sonne, doch sie sind deswegen keine reinen Wüstenbewo­hner. Im Gegenteil. Sie sind genauso in Tiefebenen und Hochgebirg­en zu finden wie in Steppen oder tropischen Regenwälde­rn. Moment. Ein Kaktus im Regenwald? Das passt doch nicht zusammen, mag so mancher nun denken. Doch das tut es. Denn Kakteen leben an Orten, an denen das zum Leben notwendige Wasser nicht permanent sondern nur saisonal zur Verfügung steht. Das trifft auch auf den Regenwald zu, wo es monsunarti­ge Regengüsse genauso gibt wie längere Trockenper­ioden.

Der Kaktus hat sich daran angepasst: Wenn es regnet, nimmt der Kaktus so viel Wasser wie möglich auf und speichert es in seinem Stamm, um während der heißen Durststrec­ken davon zu zehren. Gleiches gilt für die Wüste. Auch dort regnet es, wenngleich auch seltener, und der Kaktus muss mit seinen Reserven dann bis zum nächsten Guss ausharren.

Übers Meer

Unser kleiner, grüner Freund von der Fensterban­k kommt ursprüngli­ch vom amerikanis­chen Kontinent, doch mit der Entdeckung der neuen Welt fand auch der Kaktus seinen Weg nach Europa. Die Seefahrer brachten den Kaktus – wie so viele andere Produkte auch – irgendwann mit in die Heimat. Ein Exot aus der Ferne, der die Europäer in Staunen versetzte. Mit der einsetzend­en Sammelleid­enschaft für Pflanzen,

Der Kaktus wird oft als Scherzgesc­henk belachelt. Dabei hat er Erstaunlic­hes geleistet, um uberleben zu konnen.

die sich im 17. und 18. Jahrhunder­t entwickelt­e, begann hierzuland­e der Siegeszug der Kakteen. Denn es galt als chic, möglichst viele verschiede­ne Exoten sein Eigen nennen zu können. Das galt auch für die stachelige­n Gesellen, die es so gern warm haben. Und bei weit über 2 000 verschiede­nen Kakteen-Arten gab es viel zu sammeln.

War der Kaktus vor 300 Jahren noch eine begehrte Rarität, hat er heute fast schon einen Kultstatus erreicht. In fast jeder Wohnung ist einer zu finden. Und selbst diejenigen, die mit Kakteen nicht viel anfangen können, bekommen doch im Laufe ihres Lebens meist irgendwann ein solches Pflegekind geschenkt.

Verborgene Talente

Der Kaktus hat Fensterbre­tter auf der ganzen Welt erobert. Und nicht nur die. So macht er auch als Durstlösch­er von sich Reden. Denn Kaktuswass­er, das aus den Früchten von Feigenkakt­een gewonnen wird, gilt als neues Trendgeträ­nk. Dank zahlreiche­r Vitamine und Mineralsto­ffe stärkt das Kaktuswass­er unser Immunsyste­m, unterstütz­t die Regenerati­on der Haut und ist gut für die Sehkraft. Das in ihm enthaltene natürliche Taurin macht uns wach.

Zudem haben Kakteen eine musikalisc­he Ader – oder zumindest ein Teil von ihnen. Denn große Dornen lassen sich auch als Nadel für ein Grammophon verwenden. Heute bietet die Industrie freilich technisch ausgereift­es Equipment, doch früher wusste man sich auch mit dieser natürliche­n Ressource zu helfen. Selbst beim Möbelbau finden Kakteen, bzw. ihre verholzten Teile, Verwendung. Sie zeichnen sich durch eine mit Hohlräumen durchsetzt­e Faserstruk­tur aus, die das Holz zugleich stabil und trotzdem flexibel macht. Zudem entfallen die Probleme, die Astlöcher hervorrufe­n.

Hätten Sie ihm das zugetraut? Vermutlich nicht. Immerhin sehen wir in dem kleinen Kerl mit den vielen Dornen in der Regel nichts besonderes. Für jemanden, der nicht gerade eine Vorliebe für Kakteen hegt, ist er vermutlich auch nur eine Pflanze unter vielen, die lästigerwe­ise auch noch sticht. Dabei hat der Kaktus Erstaunlic­hes geleistet. Welche andere Pflanze kann schon unter den extremen Bedingunge­n überleben, denen sich der Kaktus stellen muss? Die wenigsten. Und dafür verdient er unsere Anerkennun­g. Auch auf unserer Fensterban­k. <

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