Auszeit

Der Schalter im Kopf

Erinnern Sie sich manchmal unmittelba­r nach den Nachrichte­n nicht mal mehr an den Wetterberi­cht? Meinen Sie, ihn einfach nicht gehört zu haben? Solche Situatione­n treten oft auf und sind typische Fälle von „jetzt einfach mal nichts hören“.

- THOMAS RIEGLER

# Jetzt hör ich mal nix

Lauschen wir Gesprächen unter Bekannten oder Familienmi­tgliedern, meinen wir zwar, unsere Konzentrat­ion voll und ganz auf das Erzählte gelenkt zu haben. Doch wie oft passiert es, dass Sie ihren Partner etwa nach einem bestimmten Termin fragen und dieser dann eher erzürnt erwidert: „Das habe ich Dir doch schon gesagt!“Worauf Sie erwidern, dass das nicht sein könne und sich der Partner garantiert täusche. Womit auch schon die Grundlage für einen schief hängenden Haussegen geschaffen ist.

Abgelenkt?

Ich gebe zu, dass ich nicht jedes Gespräch gleicherma­ßen interessan­t finde. Vor allem wenn es um den üblichen Zickenkrie­g in der Klasse meiner Tochter geht. Erschwert wird das Ganze, weil alle Beteiligte­n stets gleich heißen: Verona oder Lena. Alle Bekannten meiner Tochter scheinen so zu heißen. Welche Verona oder Lena gerade gemeint ist, erschließt sich mir nicht. Gepaart mit dem typischen Teenagersc­hnellsprec­hen versteht man da schon mal überhaupt nichts mehr. Das Gehirn ist überforder­t und schaltet ab. Das bisher wahrgenomm­ene wird in die Rubrik unwichtig abgelegt und wird verworfen. Die restliche Erzählung wird nur noch als Bla Bla Bla registrier­t. Währenddes­sen beginne ich meinen eigenen Gedanken nachzuhäng­en. Wie etwa, was heute noch zu erledigen ist. Da kann es schon mal passieren, dass man gar nicht mitbekommt, wenn das Gesprächst­hema wechselt und man direkt angesproch­en wird. Manche unter uns kennen sicher auch den Zustand, wenn man zu Feierabend aus dem Büro geht. Das ist jene Zeit, an der unser Verstand nicht mehr auf vollen Touren laufen muss. Er schaltet auf Leerlauf und versucht sich zu regenerier­en. Schalten wir während dieser Phase etwa das Autoradio an, werden wir kaum etwas davon mitbekomme­n, was gerade aus dem Lautsprech­er tönt. Wir registrier­en vielleicht, ob gerade gesprochen wird oder Musik spielt. Weitere Details werden wir aber kaum wahrnehmen. Während

geistige entspannun­g, nicht immer richtig zuhören müssen und einfach mal eine Weile abzuschalt­en, braucht jeder Mensch.

dieser Phase geistiger Erschöpfun­g arbeitet unsere akustische Wahrnehmun­g auf Sparflamme.

Gerne drängen wir das Gehörte auch in den Hintergrun­d, wenn wir unseren Gedanken nachhängen. Etwa, weil uns gerade Details zur Urlaubspla­nung eingefalle­n sind oder uns bevorstehe­nde Arbeiten beschäftig­en. Ab und an ist es aber auch ein Ohrwurm, der unsere gesamte geistige Aufmerksam­keit in Anspruch nimmt. Sei es ein Witz eines Kollegen oder ein Song, der uns gerade deshalb nicht aus dem Kopf geht, weil wir ihn so unglaublic­h abscheulic­h finden.

Tagesverfa­ssung

Hören hat mit Konzentrat­ion zu tun. Womit es nicht um das bloße hören mit den Ohren, sondern primär auf die Verarbeitu­ng der wahrgenomm­enen Töne und Geräusche im Gehirn geht. Wenig oder mal nichts hören ist somit keine Folge eines schlechten Gehörs.

Wie viel oder wenig wir hören, wird von der Tagesverfa­ssung beeinfluss­t. Sind wir gut drauf und ausgeruht, werden wir unsere Umwelt intensiver akustisch wahrnehmen, als wenn der Körper, etwa nachdem wir schlecht geschlafen haben, bereits auf Reserve läuft. In solchen Fällen wird sich das Gehör nur auf das Wesentlich­e konzentrie­ren oder einfach nur einen Teil der empfangene­n Informatio­nen verarbeite­n. Womit wir plötzlich unbewusst unser Augenmerk auf Banales lenken. Einfach, weil das Zuhören dabei weniger geistige Arbeit erfordert, als wenn wir einem Gespräch folgen.

Akustisch wegträumen

Sich dem akustische­n Alltag zu entziehen kann auch ganz bewusst erfolgen. Genauso, wie wir aufgrund mangelnder Konzentrat­ion das Eine oder Andere überhören, können wir uns auch verschiede­ne Eindrücke so sehr aus unseren Erinnerung­en holen, dass sie für uns quasi wieder hörbar werden. Dazu gehören z.B. spezielle Musikstück­e, die wir mit verschiede­ne Situatione­n oder Orte verbinden. Diese akustische­n Erlebnisse begegnen uns nicht nur, wenn wir etwa an diese Orte denken. Sie werden für uns auch hörbar, wenn wir uns bei ihnen befinden. Akustisch wegträumen kann auch recht entspannen­de Momente mit sich bringen. Warum soll ich mir im Wartezimme­r der Arztpraxis die Krankenges­chichten der anderen Patienten anhören? Stattdesse­n kann es so angenehm sein, mal total abzuschalt­en und einfach nur aus dem Fenster zu sehen. Ganz für sich sein. Sich einfach der inneren Ruhe hingeben. Diese Fähigkeit hatte ich mir einst während meiner Schulzeit von einem Klassenkol­legen abgeschaut. Der machte stets einen glückliche­n Eindruck. Er reagierte nur, wenn es ihm gerade passte. Wurde er vom Lehrer zur Tafel gebeten, reagierte er einfach nicht. Er lächelte den Lehrer nur an, bis dieser resigniert­e und sich ein anderes Opfer aus der Klasse suchte. Vielleicht war dieses „ich höre nur, was ich will“das Geheimnis des Erfolgs meines Schulkolle­gen. Denn an seinen Noten war nie etwas auszusetze­n.

Weghören

Unsere Umwelt besteht aus einer Unzahl an Geräuschen, von denen

Jetzt hör ich mal nix“kann auch eine nette Ausrede sein, um unangenehm­en Fragen oder Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

es uns schwer f ällt, sie so zu verarbeite­n, dass wir jedes wahrgenomm­ene Detail korrekt erkennen und zuordnen können. Deshalb konzentrie­ren wir uns auf einzelnen Quellen. So werden etwa die Stimmen einzelner Personen innerhalb einer sprechende­n Gruppe für uns verständli­ch.

Auf dieselbe Weise können wir dasselbe Musikstück immer wieder aufs Neue entdecken. Etwa, indem wir uns nur auf das Klavier oder die Gitarren konzentrie­ren. So wird für uns manches hörbar, was wir beim Normalen zuhören überhören, wie einzelne falsche Töne oder verpasste Einsätze.

Akustisch ausspannen

Wir alle wissen, dass Schall aller

Art krank machen kann. Dauerlärm von der nahen Autobahn ist da genauso inbegriffe­n wie das nervige Üben an der Geige des Nachbarski­ndes, das scheinbar so gar kein Talent für das Instrument zu besitzen scheint. Diese Geräusche lassen sich zwar nicht abstellen, wir können aber lernen, sie ganz gezielt zu überhören. Etwa, indem wir unsere Aufmerksam­keit gezielt auf andere, angenehme Töne, wie etwa die eigene Lieblingsm­usik, lenken. Indem wir uns auf sie konzentrie­ren, vergessen wir in der Regel darauf wie von selbst, den störenden Lärm wahrzunehm­en. Diese Idee stammt aus der Tinnitus-Bekämpfung. Sie besagt, dass das Dauerpfeif­en in den Ohren als umso lauter empfunden wird, je leiser die Umgebung ist. Musik oder dergleiche­n lässt Betroffene den Tinnitus vergessen und so hört man ihn nicht mehr, obwohl er natürlich weiter da ist.

Jetzt hör ich mal nix

„Jetzt hör ich mal nix“kann auch eine nette Ausrede sein, um unangenehm­en Fragen oder Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Dazu genügt es, auf das Gegenüber einfach nicht zu reagieren. Meist versteht dieses die Peinlichke­it der Frage und schämt sich, diese überhaupt gestellt zu haben. Womit auch ein penetrante­s nachbohren ausbleibt. „Jetzt hör ich mal nix“bietet sich auch für Telefonate an. Etwa, wenn man von einem ungebetene­n Anrufer erwischt wird. So ein Gespräch lässt sich mit einem fragenden „Hallo?“und einem verwundert­en „Da meldet sich ja gar niemand“, beenden. Ganz einfach. Die Familie hat sich übrigens daran gewöhnt, dass ich nicht immer alles höre. Inzwischen weiß sie, dass da, zumindest bei mir, keine böse Absicht dahinter steckt. Sich geistig entspannen, mal eine Weile abzuschalt­en, schadet niemanden. Und ich spüre, dass ich das auch brauche. In solchen Situatione­n schadet es nicht, das auch seine Nächsten wissen zu lassen. Die stellen sich schon darauf ein.

Geistige Entspannun­g, mal weniger hören als üblich, braucht schließlic­h jeder Mensch. Uns unterschei­det nur, dass wir nicht gleichzeit­ig abschalten können. Und so entstehen eben die Situatione­n: „Hast Du wieder nicht gehört, was ich Dir gesagt habe?“<

Sich dem akustische­n Alltag zu entziehen muss keine Folge mangelnder Konzentrat­ion sein, sie kann auch ganz bewusst erfolgen.

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