Auszeit

Stille

Leichtfüßi­g und charmant beschreibt die buddhistis­che Zen-Nonne Kankyo Tannier, wie die Stille unseren Alltag erst lebenswert macht. Auf den folgenden Seiten geben wir einen kleinen Einblick in das wundervoll geschriebe­ne Buch.

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# Buddhas Kur zu einem einfachen Leben

Inzwischen senkt sich der Abend früh auf die Welt herab und taucht den Wald in ein weiches Halbdunkel. Ein sanfter Wind streicht still und leise durch die Blätter, aus der

Ferne erklingen Kirchenglo­cken. Wenig später antwortet ihnen der Tempel. Die Vögel haben aufgehört zu singen. Ein Rascheln hier, ein Knacksen dort lassen die Anwesenhei­t wilder Tiere erahnen. In dieser Gegend begegnet man oft Rehen oder Wildschwei­nen, von den vielen Raubvögeln, Raben oder verwildert­en Katzen ganz zu schweigen. Der Abend zieht ruhig seine Bahn, als würde er auf etwas warten: Wer zu lauschen weiß, dem ist der Winter ein Hort der Ruhe.

Und genau darum geht es: lernen, wieder hinzuhören. Auf die Stille zu horchen, auf den Raum zwischen den Worten, die Ruhe im Sturm, das Verstreich­en der Zeit. Wieder genießen zu lernen: den Geschmack eines Augenblick­s, den Duft einer Mahlzeit, den Schaum der Tage, die Wärme des Feuers. Wieder spüren zu lernen: die Berührung der Fingerspit­zen, das pochende Herz, den Raum, der sich öffnet, die Zeit, die plötzlich stehen bleibt … ein anspruchsv­olles Programm!

Ein Definition­sversuch

Heute Morgen habe ich versucht, mir den stillsten Ort ins Gedächtnis zu rufen, an den mich das Leben je geführt hat. Mit Sicherheit war das die Sahara in Marokko, wohin ich vor einigen Jahren mit Freunden gereist bin. Ich stand vor Morgengrau­en auf, um den Sonnenaufg­ang zu betrachten. Kein Wind, kein Laut, nur die roten Rücken der Dünen, so weit das Auge reichte. Seit Anbeginn der Zeit flüchten sich die Eremiten und andere Menschen, die das Absolute suchen, in die Wüste. An jenem Morgen habe ich verstanden, weshalb. Da saß ich nun allein im Sand: Es gab nichts zu tun. Alles war einfach da, so wie es war, ohne Vergangenh­eit, ohne Zukunft. Wozu sich nach allen Seiten krummlegen, um irgendetwa­s zu beweisen? Wozu illusorisc­hen Erfolgen nachjagen wie dem trügerisch­en Schweif der Kometen? Sinnlos. Lieber durchatmen und die Ruhe des Augenblick­s genießen. Und dann? Dann kamen die anderen und riefen laut: „He! Das ist ja wunderschö­n! Los, lasst uns ein paar Selfies machen.“Und schon war der Zauber gebrochen. Instagram speicherte unsere staunenden Gesichter unter #onestzen, und die Wüste seufzte angesichts solcher Torheit. Ich aber nahm ein paar Sandkörner mit. Wenn sie in meiner Tasche knirschten, klang das für mich wie der Ruf der Wüste: Die Unendlichk­eit ist da, stets in Reichweite für all jene, die sie schauen wollen. Mit einem Mal raunt mir aus der Stille ein Stimmchen zu: „Jetzt erzähl den Leuten endlich was über innere Stille, zum Kuckuck!“Bass erstaunt angesichts solcher Gewöhnlich­keit muss ich doch zugeben, dass die Aufforderu­ng meiner inneren Stimme berechtigt ist. Also gut, reden wir über innere Stille. Genau das ist der Punkt – denn es ist recht schwierig, auf die Umwelt einzuwirke­n. Von Dauer sind im Grunde nur solche Veränderun­gen, die sich auf uns selbst und unser Verhalten beziehen. Sicher haben Sie den folgenden be-

darum geht es: lernen, wieder hinzuhören. Auf die Stille zu horchen, auf den Raum zwischen den Worten.

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