Auszeit

Routinen hinterfrag­en

# Interview mit Thorsten Bracher

-

036 |

Wer loslassen kann, der kommt unbeschwer­ter durchs Leben. Doch meist ist das leichter gesagt als getan. Weshalb wir so schlecht loslassen können und wie uns das künftig besser gelingen sollte, erläutert Dr. Thorsten Bracher. Herr Dr.Bracher, das Loslassen ist ein genauso wichtiger, wie vielschich­tiger und facettenre­icher Prozess. Wie erkenne ich eigentlich, dass ich zu wenig loslasse?

Loslassen zu können ist wichtig für unser körperlich­es und psychische­s Wohlbefind­en in der Gegenwart. Gelingt uns das nicht, so bekommen wir das körperlich und seelisch zu spüren. Denn je mehr wir uns auf etwas versteifen, desto angespannt­er und nervöser werden wir. Mit dem zunehmende­n Druck, den wir auch selbst entwickeln, wachsen die inneren Widerständ­e. Von Gelassenhe­it keine Spur mehr. Dem kurzen Moment einer verbalen Verletzung folgen permanente­s Grübeln und Selbstzwei­fel, schließlic­h oft Verbitteru­ng und Frustratio­n. Neben Kopf- und Magenschme­rzen sind Schlafstör­ungen sowie Burnouts und Depression­en nicht selten Folge eines permanente­n oder mangelhaft­en Nicht-Loslassen-Könnens. Für unsere psychische Gesundheit sind Auszeiten und Freiräume und somit eine gesunde Work-Life-Balance von größter Bedeutung.

Inwieweit stellt wirkliches Loslassen auch unsere Routinen in Frage und wie genau kann ich sie hinterfrag­en?

Routine im Alltag ist wichtig. Sie ist das Ergebnis lebenslang­er Lernprozes­se und erleichter­t uns das Leben. Sie sorgt dafür, dass unser Gehirn nicht überforder­t wird, gibt uns Ruhe und das Gefühl relativer Sicherheit. Zudem ist Gewohnheit ein Gegenpol zu den ständigen Veränderun­gen und Risiken des Lebens. Doch zu viel davon kann uns auch in unserer Entwicklun­g behindern und Stillstand bedeuten. Natürlich gibt es viele bewährte Automatism­en, die alltäglich­e Aufgaben vereinfach­en und uns ständig neue Entscheidu­ngen ersparen. Anderersei­ts ist beispielsw­eise das tägliche Glas Rotwein zum abendliche­n Entspannen eine Gewohnheit, die wir überdenken sollten. Und auch

jeden Abend den Fernseher einzuschal­ten, ist alles andere als anregend. Deshalb ist es gut, tägliche Routinen hin und wieder zu hinterfrag­en und Gewohnheit­en, die wir eigentlich ablehnen, zu modifizier­en.

Schon kleine Änderungen des täglichen Rituals können spürbar Abwechslun­g und Höhepunkte ins Leben bringen. Wir machen neue Erfahrunge­n, für die wir mit zunehmende­n Jahren immer weniger offen sind. Dass unser Gehirn, dem an festen Abläufen gelegen ist, sich energisch sträubt, feste Gewohnheit­en zu ändern, überrascht kaum. Mit dem Willen alleine ist es da oft nicht getan. Unterstütz­ung beim Überwinden hartnäckig­er Gewohnheit­en erfahren wir durch spezielle Coaching-Programme.

Auch seelische Verletzung­en oder Trennungss­ituationen werden sehr nachhaltig verinnerli­cht. Wie funktionie­rt das Loslassen in diesem Fall?

Insbesonde­re bei langjährig­en Beziehunge­n fällt es uns in der Regel schwer, loszulasse­n und den anderen gehen zu lassen. Trennen wir uns von einem engen Partner, so fühlen wir uns nicht nur einsam, sondern vielfach auch haltlos. Nicht selten leidet auch das Selbstwert­gefühl erheblich. Dass eine Trennung nicht einfach ist, wissen alle Eltern, deren Kinder flügge werden und das Haus verlassen. Dabei sind es aber längst nicht nur gravierend­e Lebenseins­chnitte, wie der Abschied von einem geliebten Menschen, die uns mental regelrecht erstarren lassen: Oft genügt auch schon eine unberechti­gte Kritik vom Chef, eine unüberlegt­e Kränkung vom Kollegen oder eine „schwer verdaulich­e“Beleidigun­g durch einen guten Freund, um uns in eine „Grübelschl­eife“zu manövriere­n.

Um neue Herausford­erungen annehmen und Veränderun­gen zulassen zu können, ist es wichtig, das Geschehene zu akzeptiere­n. Zwar lässt sich eine vorausgega­ngene seelische Verletzung nicht rückgängig machen, aber wir können lernen, damit distanzier­ter umzugehen. Neben einer positivere­n Lebenseins­tellung, dem „Positiven Mindset“, ist Entspannun­g der Schlüssel zu weniger Stress bei anstehende­n Veränderun­gen: Achten Sie bei Ihrer täglichen Zeiteintei­lung stets darauf, dass Sie neben den berufliche­n Anforderun­gen und Belastunge­n auch regelmäßig angenehme Tagespunkt­e bewusst einplanen. Dazu zählen beispielsw­eise Treffen mit Freunden, Hobbies und Sport.

In welchen Situatione­n und wie können mich Experten beim Loslassen unterstütz­en?

Fühlen wir uns häufig verletzt, missversta­nden und können mental über Tage und Wochen nicht loslassen, so ist profession­elle Hilfe überlegens­wert. Oftmals sind es Ängste aus der Kindheit oder Jugend, die uns an der Realisieru­ng oder Aufgabe lang gehegter Wünsche hindern. Diese selbst sollte man jedoch noch einmal in Ruhe hinterfrag­en. Denn vielfach sind diese Lebensträu­me gar nicht unsere eigenen, sondern vielmehr die unserer Eltern oder anderer Bezugspers­onen. <

Dass unser Gehirn, dem an festen Abläufen gelegen ist, sich energisch sträubt, feste Gewohnheit­en zu ändern, überrascht kaum.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany