Auszeit

Wolkenzaub­er

# Von Schäfchen, Federn und Türmen

- FRANCES SCHLESIER

Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal eine Wolke richtig angeschaut? Keine Gewitterwo­lke, die sofort den Stresspege­l steigen lässt, weil man bangt, nicht mehr rechtzeiti­g ins Trockene zu kommen. Eine normale Wolke. Können Sie sich erinnern? Vermutlich ist es schon eine Weile her.

Wir schenken der Welt über uns nur selten größere Beachtung. Ein vorbeiflie­gender Vogel, der Sonnenunte­rgang oder der wachsame Blick nach der aktuellen Wetterlage lassen uns zwar immer wieder den Kopf heben, für die Schönheite­n des Himmels sind wir aber dennoch meist blind. Eigentlich seltsam, oder? Wir bestaunen Blumen, die spiegelgla­tte Oberfläche eines Sees oder gehen mit offenen Augen durch den Wald, bereit, all die kleinen Details in uns aufzunehme­n, die sich uns zeigen. Aber die Wolken? Sie spielen nur selten eine größere Rolle. Dabei haben sie uns so viel zu erzählen.

Luftiges Rätsel

So gewöhnlich sie uns vorkommen, so mysteriös ist ihre Entstehung. Denn bis heute konnte die Wissenscha­ft nicht entschlüss­eln, unter welchen Vorrausset­zungen sich Wolken tatsächlic­h am Himmel bilden. Die Grundkompo­nenten sind bekannt: Es braucht vor allem warme und feuchte Luft, die aufsteigt bis sie am sogenannte­n Taupunkt kondensier­t und aus dem unsichtbar­en Wasserdamp­f wieder kleine Tröpfchen werden. Damit dies in großer Höhe funktionie­rt, braucht es sogenannte Aerosole – das können Sandkörner, Bakterien, Salz oder auch einfach Staubparti­kel sein – in der Luft, die diesen Prozess unterstütz­en. Doch was passiert dann? Wie wird aus der Feuchtigke­it in der Luft eine Wolke? Welche Bedingunge­n müssen geschaffen sein? Und wann genau beginnt dieser Prozess? Das ist die große Frage, auf die es bis heute keine Antwort gibt. Und die uns eigentlich zum Schmunzeln bringen müsste. Wir haben es geschafft, das menschlich­e Genom zu entschlüss­eln, aber wir wissen bis heute noch immer nicht, wie eine Wolke entsteht.

Formensuch­e

Wer sich einmal die Zeit nimmt, den Himmel genauer zu studieren, hat vieles zu entdecken. Denn Wolke

ist nicht gleich Wolke. In welchem Gewand sie sich unserem Blick stellen, hängt davon ab, in welcher Höhe sie ihre Transforma­tion vollziehen. Grundsätzl­ich gibt es drei Zonen: In fünf bis 13 Kilometern über dem Erdboden tummeln sich die sogenannte­n hohen Wolken, bei denen es sich um besonders luftig-leichte Gebilde handelt. Es ist die Welt der Feder- und Zirruswolk­en, die durch ihre dünne, fasrige Form auffallen und so luftig scheinen, als könne man sie ganz einfach mit einem sachten Pusten weiterschi­eben. Verdichten sich diese Federwolke­n zu einem dünnen, großflächi­geren Schicht, werden aus ihnen Zirrokumul­i-Wolken. Ist erst einmal ein großer Teil des Himmels bedeckt, haben die Schleierwo­lken (Zirrostrat­us) das Regiment am Firmament übernommen. Schleierwo­lken laden genauso wie Federwolke­n zum Träumen ein. Ihre scheinbar schwerelos­e Form nimmt unsere Gedanken wie von selbst einfach mit, während sie über den Himmel ziehen. Wir schweifen ab, lassen uns einfach mit ihnen treiben und geben uns der Frage hin, was sich wohl hinter dem Schleier verbirgt. Was wohl zum Vorschein kommt, wenn wir ihn lüften? Könnten wir weiter schauen, könnten wir einfach in die Tiefen des Alls blicken, eine zu so großen Teilen noch völlig unbekannte Welt, in der nichts unmöglich scheint. Auch unsere Gedanken befreien sich plötzlich von den Grenzen des Möglichen – oder zumindest von dem, was wir dafür halten. Es fällt ganz leicht, sich in die Welt des Unbekannte­n vorzuwagen. So wie diese zarten Federn über den Himmel wirbeln,

"Wir haben das menschlich­e Genom entschlüss­elt, wissen aber nicht, wie eine Wolke entsteht.“

so ziehen sie unseren Geist einfach mit sich fort. Ganz unbeschwer­t und ohne Hast.

Von Schafen und Regen

Ähnlich wirken auch Schäfchenw­olken (Altocumulu­s) auf uns, wenn sie ballenförm­ig auftreten und wie kleine Wattebäuch­e aussehen. Es hat schon fast etwas heimeliges, sie zu beobachten. Verdichten sie sich, entsteht manchmal auch ein Wellenmust­er bei dessen Anblick einem unweigerli­ch das Rauschen des Meeres in die Ohren kommt. Zu finden sind diese Schäfchen in der mittelhohe­n Wolkenzone, die sich von zwei bis sieben Kilometern Höhe erstreckt. In ihr entstehen auch die Altostratu­s-Wolken, zumeist gräuliche Schichtwol­ken, durch die die Sonne nur noch verschwomm­en zu sehen ist. Wie auch der Nebel erzeugen sie ein eher unwirklich­es Gefühl, als wäre man in einer Zwischenwe­lt.

Für Abkühlung sorgen die tiefen Wolken, die sich in einer Höhe von bis zu zwei Kilometern bilden. Sowohl die Stratokumu­li (grau-weiße Haufenwolk­en), als auch die Stratuswol­ken (diese bilden eine durchgänge graue Wolkenschi­ckt) sorgen durch ihre flächendec­kende Ausdehung und ihren tiefen Stand dafür, dass sich das Klima abkühlt.

Hoch hinaus

So vielfältig das Schauspiel auch ist, das uns Mutter Natur an ihrem Himmelszel­t inszeniert, kaum eine Wolkenform ist so fasziniere­nd wie die Kumuluswol­ken. Jene dichten, weißen Haufenwolk­en, die wie kaum etwas anderes unsere Phantasie anregen. Sie sind die wohl größten Wandlungsk­ünstler am Firmament, denn kaum ein Augenblick vergeht, in dem sie nicht ihre Form ändern. Vom Wind davongetra­gen schieben sich die einzelnen Haufen durch unser Sichtfeld. Während sich eine Ecke gerade in sich auflöst, quillt auf der anderen Seite eine neue Rundung hervor. Es bilden sich kleine Schleier, die hinter der Hauptform hergezogen werden, kleine Berge und abenteuerl­iche Formen, die uns geistig herausford­ern. Denn wer eine Weile in die Wolken schaut, entdeckt dabei nicht nur bekannte Formen, sondern auch so manch wilde Zusammenst­ellung. So wird

aus einem Elefantenk­opf mit Rüssel schon einmal binnen weniger Augenblick­e eine Tasse mit Geweih. Das mag abstrus klingen, doch am Ende ist es nur ein weiterer Beweis dafür, dass an dem großen blauen Baldachin über unseren Köpfen alles möglich ist. Wer bereit ist seinen Horizont dafür zu öffnen, kann auf einer Sommerwies­e liegend ein paar herrliche Stunden verbringen – mit sich selbst und einem wunderbare­n Schauspiel, das inspiriert und beflügelt. Doch noch etwas anderes wird einem in diesem Moment bewusst: die Vergänglic­hkeit der Welt. Ohne dass wir sie von unserem Beobachtun­gsposten aus beeinfluss­en könnten, ziehen die Wolken einfach weiter. Getragen vom Wind verändern sie beständig ihre Form. Es gibt keinen Stillstand, nur Wandlung. Wer ein Foto vom Himmel macht, erhält eine Momentaufn­ahme. Bereits wenig später zeichnet sich ein neues Bild, mit anderen Details und anderen Möglichkei­ten.

Unbändige Kraft

Doch Wolken sind nicht nur schön anzuschaue­n, sie zeigen auch regelmäßig, welche Kraft in ihnen steckt. Besonders sehenswert sind dabei Kumulonimb­en, sehr große, dichte Wolkentürm­e, die sich kilometerw­eit in die Höhe schrauben können. Ihre höchsten Ebenen werden meist hell vom Sonnenlich­t angestrahl­t, während sie unten bereits dunkelgrau gefärbt und mit viel Wasser gefüllt sind – ein verspreche­n auf ein ordentlich­es Gewitter im Gepäck. Schiebt sich eine solche Front heran, kann einem schon ein bisschen komisch werden. Es wirkt durchaus bedrohlich, wenn man selbst noch unter blauem Himmel sitzt und vom Horizont eine dunkle Welle herangerol­lt kommt. So friedlich die obersten Turmspitze­n auch aussehen

"So wie diese zar ten Federn über den Himmel wirbeln, so ziehen sie unseren Geist einfach mit sich for t.“

mögen, das tiefdunkle Blaugrau der Basis, durch die Blitz und Donner zucken, zeugen davon, welch unbändige Kraft sich da auf uns zu bewegt. Intensiv, unbeugsam und unerbittli­ch entfaltet sie sich, wenn der Moment dazu gekommen ist. Und das geht mitunter rasend schnell. Denn so plötzlich wie Wolken entstehen, ist es manchmal nur eine Frage von Minuten, bis sich der Himmel völlig verdunkelt, als würde die Welt tatsächlic­h untergehen. Und selbst dann weiß Mutter Natur zu überrasche­n: Wenn die dunkle Gewitterfr­ont plötzlich aufreißt, als wäre sie nie da gewesen. Es bleibt eine gespenstis­che Ruhe, die noch von dem Donnergrol­len zeugt, das bis eben noch über unsere Köpfe hinweggero­llt ist.

Nichts bleibt, wie es ist

Wer in den Himmel schaut, kann nicht nur ein wissenscha­ftlich nach wie vor schwer zu greifendes Phänomen beobachten, sondern auch einen Spiegel der menschlich­en

Seele finden. Kaum eine emotionale Regung lässt sich nicht auch im Spiel der Wolken erkennen. Ob gemütliche Ruhe, kreative Verwirklic­hung oder ein emotionale­s Donnerwett­er aus Wut, Verzweiflu­ng oder Traurigkei­t – all das lässt sich am Firmament finden. Und dazu gehört eine Botschaft: Nichts bleibt, wie es gerade ist. Alles ist im steten Wandel. Und auch wenn sich unsere Welt einmal verfinster­t, in Ströhmen Regnet, es donnert und kracht – auch dieses Gewitter wird irgendwann vorüberzie­hen und wieder Platz für verträumte Federwölkc­hen machen. <

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