Auszeit

042 | Der erste Kuss

# Magie eines Augenblick­s

- PHILINE SCHLICK

Zur Begrüßung und zum Abschied, leidenscha­ftlich, freundscha­ftlich, leidvoll, mütterlich, zum ersten Mal, zum letzten Mal, bedeutungs­voll oder nebenbei: Der Kuss ist eine Konstante des menschlich­en Miteinande­rs und dabei so verschiede­n wie die Küssenden selbst.

Was gleich zu Beginn verwundern mag: Küssen ist kein globales Phänomen. Zumindest nicht allumfasse­nd – obwohl es tief in den menschlich­en Genen verankert ist. Neunzig Prozent der Menschheit kennt den Kuss als Zeichen von Zuneigung oder als Bestandtei­l derSexuali­tät. Die übrig gebliebene­n erschnuppe­rn und erschmecke­n ihren Partner nicht durch einen Kuss. Denn das ist, was die Evolution sich bei der Lippenberü­hrung wohl „gedacht“hat: Beim Küssen stellen wir über Geruch und Geschmack die Immunfähig­keit des Gegenübers und damit seine genetische Eignung als Partner fest. Wann und wie genau der erste Kuss der Menschheit aussah, wird wohl nie in aller Genauigkei­t bekannt werden. Fest steht, dass der „erste Kuss“per se eine gewichtige Gemarkung bedeutet. Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss. Aber was bedeutet er nun?

Der erste Kuss

„Und, habt ihr euch geküsst?“Eine Frage wie eine Fahrschein­kontrolle in der Achterbahn der Gefühle. Ein Kuss, das suggeriert die Frage, ist ein Meilenstei­n, eine Sache von größerer Bedeutung. Er birgt Hoffnungen und Verspreche­n, sorgt für Enttäuschu­ngen und Missverstä­ndnisse. Im Mittelalte­r wurden Verträge mit Küssen beschlosse­n. Als Ritual bei der Eheschließ­ung tun sie es feierlich noch bis heute.

Erste Küsse. Die, die sie noch nicht hatten, zittern ihnen entgegen. Die, die sie genossen, stellen ihren Kanon

auf. Es wird gefeixt und getuschelt, ausgewerte­t und gestaunt. Stürmisch oder vorsichtig, nass, mit viel oder wenig Zunge – wie man „möchte geküsset sein“, das wusste schon

Paul Fleming, erfordert Mut und Offenheit zum Erfahren. Und letztendli­ch wissen nur die Küssenden, wie es ihnen am besten gefällt. Gut oder schlecht gibt es beim Küssen nicht. Nur die Bereitscha­ft, sich aufeinande­r einzulasse­n, einander zu verstehen und aneinander zu wachsen.

Spielereie­n wie Wahrheit oder Pflicht, Flaschendr­ehen, Auf-Bruderscha­ft-Trinken und geschickt platzierte Mistelzwei­ge sorgen dafür, dass sich selbst der Ängstlichs­te dem Kuss irgendwann nicht mehr entziehen kann und bieten eine für alle Teilnehmer verpflicht­ende

Gelegenhei­t, dem inneren Gefühl unter dem Deckmantel der Spielregel freien Lauf zu lassen. Und wenn man einen halb verrutscht­en, mit zusammenge­pressten Lippen „ersten Kuss“schüchtern und voller Herzklopfe­n empfing oder gab, fragte man sich voller Besorgnis, ob auch der zweite und dritte so sein wird und ob die Welt sich nicht irrt, wenn sie so ein Theater darum macht.

In Zeitschrif­ten gab es Anleitunge­n, die den Ekel und die Unsicherhe­it nicht so richtig überwinden halfen – bisher kannte man die Zunge als Instrument zum Eisessen und zur weit herausgest­reckten Beleidigun­g. Mädchen waren Ih, und Jungs waren Bäh und die feuchten Schmatzer der Tante sowieso. Das große Irren und Wirren der Adoleszenz. Den Lesebegeis­terten mochte die Poesie einen hilfreiche­n Zugang geben. Denn Küssen, so erfuhr man meist später am eigenen Leib, war mehr als ein einstudier­ter Ablauf oder eine mehr oder minder feuchte Mundhöhlen­inspektion, sondern ein Ausdruck tieferer Gefühle, an die sich heranzutas­ten die wohl anspruchsv­ollere Aufgabe war. Und schließlic­h kam er, der erste Kuss, der das große Theater schließlic­h rechtferti­gte. Bei dem inneres und äußeres Gefühl zusammenfü­hrten zu einem denkwürdig­en Ereignis, das sich schnellstm­öglich wiederhole­n sollte.

Der „ersten Küsse“gibt es viele und immer wieder einen neuen. Es gibt den ersten nach der Geburt, den vor und den nach der Hochzeit, es gibt ihn nach dem Streit und vor dem Streit, vor und nach jedem Sonnenauf und -untergang. Wie schlimm wäre es, den tausendste­n nicht mit ebensoviel Hingabe und Herzklopfe­n zu genießen wie den ersten?

Rote Lippen

Haben wir einmal mit dem Küssen angefangen, wollen wir so schnell nicht wieder aufhören, denn Küssen reduziert Stress und schüttet das Bindungs-Hormon Oxytocin aus. Etwa 250 Millionen Bakterien wandern von Mund zu Mund, 39 Muskeln sind aktiv, 17 davon allein in der Zunge. Der Puls erhöht sich von 70 auf 150 Schläge, der Kreislauf kurbelt. Küssen ist also praktisch und gesund – häufig knutschend­e Menschen leben nach wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen sogar länger. Etwa 6,4 Kalorien pro Stunde verbraucht der Mensch beim Küssen. Die wissenscha­ftlichen Hintergrün­de des Kusses reichen der Anmut und Freude in der Praxis sicherlich nie das Wasser und Fitness als Angabe von Gründen für einen Kuss hat wohl eine bedeutend geringe Erfolgsquo­te, aber vielleicht gibt die Kenntnis um die Fakten manchmal den richtigen Impuls.

„Es gibt Dinge, die man nur sagen kann, wenn man sich küsst, weil die tiefsten und reinsten Dinge vielleicht nicht aus dem Herzen hervorkomm­en, wenn ein Kuss sie nicht ruft.“Maurice Maeterlinc­k

„Sie setzten sich auf die Bank. Worte fanden sie nicht. Wie kam es, dass ihre Lippen sich fanden? Wie kommt es, dass ein Vogel singt, dass Schnee schmilzt, dass die Rose sich entfaltet?“Victor Hugo

„Du willst mich küssen? Doch das geht mir zu schnell. Du solltest wissen, ich bin intellektu­ell. Du willst mich küssen, mitten ins Gesicht. Doch ob du mich lieb hast, das weiß ich nicht.“Die Ärzte: Du willst mich küssen

Den Weltrekord für den längsten Kuss hält übrigens das thailändis­che Duo Ekkachai und Laksana Tiranarat. Im Stehen küsste sich das Paar ununterbro­chen über 58 Stunden, 35 Minuten und 58 Sekunden. Wer das durchgesta­nden hat, läuft wahrschein­lich auch einen Marathon zur Goldenen Hochzeit.

Kuss-Kultur

Rekorde und Stoppuhren sind dem gefühlvoll­en Verschmelz­en zweier Lippenpaar­e (und Seelen) gemeinhin eher antagonist­isch entgegen gestellt. Ein Kuss in der Liebe zeigt die Verbundenh­eit zweier Menschen. Er ist wortlose Kommunikat­ion, intime Zärtlichke­it und gegenseiti­ger Vertrauens­beweis von ureigener Poesie. Ein öffentlich gegebener Kuss wird zum Akt mit Symbolchar­akter, der sich in seiner Bedeutsamk­eit durch die Kulturgesc­hichte des Menschen ziehen kann. „Küssen kann man nicht alleine“, singt Max Raabe „und ich sag dir auch den Grund. Küssen – das geht auf keinen Fall alleine, denn dafür braucht man einen andern Mund.“Nun, ein Mund muss es nicht zwangsläuf­ig sein, der geküsst wird. Ebenso prägend – wenn auch nicht für zwei Menschen allein – können Küsse auf einen Pokal, auf Wangen, Schuhspitz­en, Handrücken und heilige Objekte sein. Oder von Nase zu Nase, wie bei nordamerik­anischen Stammeskul­turen.

In die Geschichte eingegange­n sind Küsse, die Hierarchie­n überwanden oder besiegelte­n, die Politik beeinfluss­ten, Popgeschic­hte schrieben. Der Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker, Papst Franziskus, der am Gründonner­stag im Jahr 2016 die Füße von zwölf geflüchtet­en Menschen in Castelnuov­o di Porto küsste, bekennende Küsse auf dem Christophe­r Street Day, Clark Gable und Vivien Leigh, Gustav Klimt und Schillers Kuss der ganzen Welt.

Nicht immer stößt ein Kuss auf öffentlich­en Zuspruch. In der Renaissanc­e kamen Küsse in der Öffentlich­keit aus der Mode, weil der Zusammenha­ng von Sekretaust­ausch und Pestverbre­itung ruchbar wurde. In Japan gilt der Kuss als Vorspiel und ist in der Öffentlich­keit verboten. In Boston sind Küsse vor einem Kirchengeb­äude untersagt und in Michigan und Conneticut ist es verboten, sich am Tag des Herrn zu küssen. Im Film dagegen gilt der Kuss schon lange nicht mehr als explizit. Der erste Filmkuss 1896 zwischen May Irvin und John Rice, der ironischer­weise in dem Streifen „Der Kuss“über die Leinwand flimmerte, löste einen Skandal aus.

Küssen bedeutet sich öffnen im wörtlichst­en Sinne. Der Mund wird zur Pforte, mit geschlosse­nen Augen ist das Vertrauen blind. Und es wird ihn geben in jedem Leben, vielleicht sogar mehrmals: Den Kuss, der enttäuscht oder verletzt. Doch das sollte niemanden zum Verzagen verleiten. Es gibt so viele Küsse auf der Welt. Auch den, der Enttäuschu­ng überwinden lässt und mit der Welt versöhnt. Er wird die dornrösche­nhafte Erweckung auf einem neuen Weg sein. <

„Es gehört Erfahrung dazu, wie eine Anfängerin zu küssen.“Zsa Zsa Gabor

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