046 | Berühre mich
# Über die Kraft der Berührung
Ganz genau, es geht um das Glück, zu berühren und berührt zu werden. Angenehme Berührungen öffnen uns ruckzuck völlig neue Erlebniswelten. Sie rufen die herrlichsten Glücksmomente und ein tiefes Gefühl der Befriedigung hervor. Wir laufen zur Höchstform auf!
Unsere Sehnsucht
Berührungen sind die erste Sprache, die wir sprechen und bilden somit einen universellen Schlüssel zu unseren oft verschütteten Gefühlen. Wenn Neugeborene und Kleinkinder nicht genügend Zuwendung und Zärtlichkeit erhalten, verkümmern sie. Aber auch als Jugendliche und Erwachsene sind wir extrem von den Berührungen anderer Menschen abhängig und empfinden Hochstimmung, wenn sie uns zuteilwerden. In ihnen erfüllt sich unsere Sehnsucht nach Angenommensein. Berührungen halten unser Leben warm.
Erster Sinn des Lebens
Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich bei uns Menschen entwickelt. Bereits als Fötus im Mutterleib reagieren wir äußerst lebhaft auf Be- rührungen, spüren den Druck, der uns in unserer ersten eigenen Behausung umgibt – und üben selbst gehörig Druck auf die Bauchwand unserer Mutter aus. Haben wir uns dort erst einmal im wahrsten Wortsinne eingelebt, entwickeln wir uns ziemlich flott zu inneren Rockstars. Wir checken die Lage und begreifen holterdiepolter, dass wir es selbst in der Hand haben, die Druckintensität zu regulieren. Wir meistern es bravourös, uns selbst zu beruhigen, indem wir uns im Mutterleib so richtig schön ausbreiten und mit aller Kraft gegen die uns umgebende Gebärmutter stemmen. Das ist ein wahrer Durchbruch, denn so lösen wir selbst das wohlige Gefühl aus, von allen Seiten beschützt und gehalten zu sein. Die entspannende Wirkung einer festen Umarmung hat vermutlich in genau dieser frühen Erfahrung ihren Ursprung.
Seliges Wohlgefühl
So richtig Fahrt nimmt der Kuschelfaktor dann nach unserer Geburt auf. Berührungen sind essentiell wichtig für die Mutter-Kind-Bindung und die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes. Stichwort: Nestwärme. Vor allem beim Stillen wird das so genannte Liebes- und Glückshormon Oxytocin ausgeschüttet, das seliges Wohlbefinden auslöst und gigantisch viele erfreuliche Effekte auf unseren Körper
hat. Und das sowohl bei Mutter als auch Kind. (Der Papa macht’s mit Knuddeleien wett!).
Aus Nähe wird Liebe
Da ist dieses Prickeln im Bauch, dieses Seelenflattern, ein inneres Zittern. Zwischen uns blitzt es. Glühend vor Sehnsucht stehen wir uns in rätselhaft scheuer Erwartung gegenüber und spüren beide, dass wir uns gleich berühren werden. Woher wissen wir bloß, dass das jetzt, genau hier, der richtige Augenblick für Tuchfühlung ist? Unser Gehirn kann die Absicht des anderen erkennen. Es ist eine
Art Intuition oder mitfühlende Vorausahnung: Spiegelneuronen in unserem Gehirn sind verantwortlich dafür, dass wir aus kaum merklichen Gesten des anderen schließen können: Gleich kommt’s (endlich!) zum heiß ersehnten Körperkontakt! Die zarten Vorahnungen einer mitreißenden Berührung sind also streng genommen reine Nervensache. „Liebe“, so beschreibt es die amerikanische Psychologin Barbara Fredrickson, sind „Mikromomente positiver Resonanz“. Man möchte den anderen berühren, sich an ihn schmiegen, an ihm knabbern, ihn zudecken mit Küssen und gar nicht mehr von ihm lassen. Haltlose Nähe. Ein inniger Kuss, ein verbindlicher Augenkontakt, ein luftzartes Streichen über die Hand, eine wärmende Umarmung, ein behutsames Streicheln über das Haar, ein sachtes Knaufen in die Wange, ein unter die Haut gehendes Nackenkraulen, ein sanftmütiges Anschmiegen, ein aufmunterndes Klopfen auf die Schulter, ein liebevoller Seitenstupser. Paare erschaffen
vom ersten Moment ihrer Begegnung an Berührungsrituale. Party Time für Glückshormone!
Und es sind diese kleinen Berührungspunkte, in denen wir unser Da-Sein spüren, die unserem Leben Glanz und Herrlichkeit verleihen. Diese zugewandten Alltagsbräuche sind letztlich entscheidender für unser Beziehungs- und Liebesleben, als in Venedig von einem Gondoliere bei „O sole mio“durch die Kanäle geschaukelt zu werden.
Liebe lebt von Ritualen
Wir werden nicht nur ein Paar, sondern bleiben auch eines, wenn uns berührende Momente intensiv und beständig verbinden. Die Liebe lebt von Ritualen. Unsere kleinen Alltagsliebkosungen sind wie die „Haken, zwischen denen wir das Gewebe unserer Beziehung aufspannen“(Oskar Holzberg). Sie bewahren nicht nur unsere gemeinsame Liebesgeschichte, sondern sie führen sie auch fort.
Regelmäßige Berührung in einer Partnerschaft bedeutet ein beständiges Wieder-ineinander-Verlieben. Unser körpereigenes Belohnungssystem schüttet nämlich Wohlfühlhormone aus und sorgt dafür, dass die guten Gefühle der Berührung weiterbestehen. Daraus erwächst ein enges Band, das uns zusammenhält, sodass wir diese intimen Zusam- menkünfte immer wieder aufs Neue miteinander gestalten. Das ist der ewige Kreislauf der Liebe.
Chronisch unberührt
Nach dem Dauerglück der ersten Verliebtheit landen wir unvermittelt wieder in der Alltagswirklichkeit, wo wir uns lieben und nerven, schätzen und kritisieren, erreichen und verfehlen, mal erfüllend, mal frustrierend füreinander da sind. Die Streicheleinheiten nehmen im Lauf der Routine zusehends ab. Die Situationen, in denen wir uns als Paar erreichen, werden seltener und mit ihnen die Momente der positiven Resonanz. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass Zuneigung, Zärtlichkeit und Begehren verschwinden. Dramatische Folge: Zwei „arbeitslose“Partner, die sich voneinander entfremden. Die Beziehung vergletschert allmählich. Doch keine Panik... es geht auch anders.
Ohne Worte
Berührung ist nicht bloß eine Streicheleinheit für die Seele, sondern auch Kommunikation ohne Sprache. Warum ist ein Abschiedskuss trotz seiner Flüchtigkeit für uns so bedeutungsvoll? Weil uns dieser gewohnheitsmäßige Schmatz beruhigt und zugleich verbindet. Das hauchzarte Küsschen an der Wohnungstür bestätigt uns buchstäblich, dass in
"Neben der Liebe auf den ersten Blick gibt es auch die Liebe auf die erste Berührung. Und die geht vielleicht noch tiefer.“(Vladimir Nabokov, russisch-amerikanischer Schriftsteller)
unserem Liebesleben alles im Lot ist. Erst in dem Moment, in dem diese rituellen Berührungen ausbleiben, werden wir wachsam. Nimmt uns unser Partner trotz Streits bei Sonnenaufgang wie gewohnt bei Sonnenuntergang in den Arm, dann ist unser harmonischer Bezug zueinander wiederhergestellt. Brummelt er hingegen bei Rückkehr nur ein achtloses „Hallo“in den Hausflur, so wirkt das Ausbleiben des gewohnten Berührrituals wie ein Hurrikan-Frühwarnsystem.
Die Macht des Kusses
Halbherzige, niedrigtourige Umarmungen können auch ein Indiz für „Auswärts-Berührung“sein. Eine Klientin deckte die Affäre ihres Partners auf, indem er im gemeinsamen Begrüßungsritual reserviert und irgendwie erstarrt auf sie wirkte. In der symbolisierten Nähe des jahrelang fein aufeinander abgestimmten Berührungsrituals gelang es ihm nicht mehr, seinen Fremdgang zu verbergen. Das Entscheidende an der Berührung ist ja, den anderen, den Umschlungenen, wahrzunehmen. Wer nicht erkennt, wie wertvoll, wie fragil die Berührung ist, der kann sie schnell verspielen. Ehrliche Berührungen kommen zwar von außen, wirken aber vor allem nach innen. Sie erfassen unseren gesamten Körper. Vor allem gehen sie zu Herzen.
Berühre mich
Liebe braucht Rituale, braucht Fürsorge, sie muss befeuert werden. Vertraute Berührungen und berührende Vertrautheit sind das emotionale Kissen, auf dem wir unsere Beziehung betten. Daher ist es um so wichtiger, sie zu pflegen und auf sie zu achten. Ein kleines aber feines Beziehungsritual vermag ein hinreißender Beziehungs-Booster zu sein, indem es Veränderung anstößt.
Wie wäre es also damit, für das anstehende Wochenende gemeinsame Zeitfenster einzuplanen, um sich und den Partner ganz nah zu spüren? Oder mit der/dem Herzallerliebsten beschließen, den Morgen mit einer Knuddelminute zu beginnen als Botschaft: „Hey Schatz, heute ist ein neuer Tag.
Und du wirst dabei die ganze Zeit in meinem Herzen sein!“
Wenn wir unser kleines Berührungsritual fest in unserem Beziehungs(er-)leben verankern, verändert es unsere Wahrnehmung. Es sensibilisiert uns dafür, wie bedeutungsvoll regelmäßige Nähe und Zuwendung sind. Seine Botschaft lautet: Ich sehe dich und werde gesehen. Dadurch schenken wir uns gegenseitig Anerkennung und Wertschätzung. Langfristig wird dieses wiederkehrende Zeremoniell und sogar verändern. Unsere Berührungen berühren auch uns. Sie öffnen unser Herz.
Eine Beziehung ist höchst beweglich. Sie kann nur wachsen, wenn wir uns immer wieder aufeinander zubewegen, einander annähern. Im hektischen Alltag entzweien wir uns zwangsläufig voneinander. Doch in der Berührung finden wir immer wieder zueinander. Berührungen können Zauberblitze schleudern. Sie sind ein Wellness-Center für die Seele und unsere Beziehungen. Deshalb lasst uns einander tief berühren. Um es beschwingter mit dem Leben aufzunehmen. <