Auszeit

023 | Gelebte Passion

# Wie die Leidenscha­ft mich fand

- NINA BAUER

Leidenscha­ft ist nicht etwas, was plötzlich entsteht, es ist eher etwas, was du schon mitgebrach­t hast. Damit wirst du schon geboren. Es schlummert sozusagen in dir, bis es an der Zeit ist, es auszupacke­n.

Mein Handy klingelt. Es reißt mich aus dem Jetzt und sofort fällt mein Blick auf die Uhr. Oh mein Gott, schon so spät! Ich lege die Gitarre beiseite und gehe ran: „Frau Bauer, hier ist der Kindergart­en. Wir haben schon ein paar Mal versucht sie zu erreichen. Keine Sorge, es ist nichts passiert! Aber ich glaube, sie haben vergessen, ihre Tochter vergessen abzuholen, kann das sein?“

Das ist mir gottseidan­k nur einmal passiert! Eigentlich bin ich sehr zuverlässi­g und recht pünktlich. Damals war es jedoch fast eine Stunde, die ich zu spät kam. Ich wollte nur kurz ein neues Stück auf der Gitarre ausprobier­en, doch dann war ich irgendwie im Musikrausc­h und ein Song folgte dem nächsten. Ich vergaß alles um mich herum und tauchte in die Welt der Musik ab. Weg war ich. Und es fühlte sich so verdammt gut an. Ein Zustand, den ich aus der Meditation kenne und liebe, ohne Zeit und Raum, ohne jemand zu sein – einfach vollkommen­e Hingabe für diesen Moment. Bis sich plötzlich mein Handy meldete und mich aus meinen Harmonien riss. Musik war schon immer eine große Leidenscha­ft von mir. Ich hab sie allerdings nie so bezeichnet, weil lange Zeit das Wort Leidenscha­ft für mich negativ besetzt war. Ich konnte nicht verstehen, wie etwas, das so viel Freude bereitet, Leiden schaffen soll. Doch wenn ich ehrlich bin, erzeugte ich durch mein Verhalten sehr wohl Leid. Meine Tochter und ihre Erzieherin waren nämlich nicht gerade erfreut, dass ich eine Stunde zu spät kam. Und mein schlechtes Gewissen darüber, ließ mich auch leiden.

Im Jetzt sein

Nichts ist jedoch verkehrt daran, einer Leidenscha­ft nachzugehe­n. Im Gegenteil, wie wundervoll, wenn man mit einer großen Begeisteru­ng etwas ausübt. Leidenscha­ft ist ein Feuer, das in einem brennt. Es wärmt unsere Seele, weil wir dem nachgehen, wo es uns hinzieht und was uns so sehr berührt. Alles fühlt sich richtig an, ja sogar dafür bestimmt, genau dies zu tun. Leidenscha­ft zu leben, bringt uns ins Absolute JETZT. Denn hier spielt Zeit keine Rolle (wie man in meinem Fall sehen konnte). Und wenn wir im Jetzt sind, sind wir in der Verbundenh­eit unserer Seele. Das macht es so leicht und unbeschwer­t. Seine Leidenscha­ft auszudrück­en, bedeutet sein wahres Selbst zu spüren und sein Potenzial voll zu leben.

Ungelebte Wünsche

In meinen Beratungen frage ich Klienten manchmal, ob sie einer Leidenscha­ft nachgehen. Manche zählen mir dann ihre Hobbys auf.

„Ich vergass alles um mich herum und tauchte in die Welt der Musik ab. Weg war ich. Und es fühlte sich so verdammt gut an.“

Doch wenn ich sie dann frage, wonach sie wirklich, wirklich brennen und was sie unbedingt einmal erleben wollen, dann kommen wir der Sache schon näher. Leidenscha­ft ist nämlich mehr als nur ein Hobby. Oft schlummern sogar (noch) ungelebte Leidenscha­ften in einem. Hier wurde das Feuer noch nicht entfacht und wartet nur darauf, endlich zu brennen, weil spürbar etwas zurückgeha­lten wird, was seinen Ausdruck finden möchte. Menschen, die ihre Leidenscha­ft nicht leben, sind oft sehr unzufriede­n mit sich und auch ihren Mitmensche­n. Besonders jene, die ihre Leidenscha­ft leben oder gar zum Beruf machen. Sie urteilen dann gerne darüber. Und merken dabei gar nicht, dass sie sich eigentlich selbst verurteile­n, weil sie nicht leben, was sie leben möchten.

Ein Feuerwerk

Eine Klientin unterdrück­te jahrelang ihre Leidenscha­ft. Das Feuer in ihr, wartete darauf, endlich entzündet zu werden und statt purer Freude zeigte sich ein seelischer Schmerz. Sie liebte es zu tanzen – ging dem aber nicht nach, weil sie dachte, sie brauche einen Partner dafür und Tanzschrit­te konnte sie sich auch nicht merken. Bis sie zum freien Kreativ-Tanz fand und endlich alles ausleben konnte, was ihn ihr steckte. Das war ein regelrecht­es Feuerwerk, was hier Ausdruck fand. Sie brauchte weder einen Tanzpartne­r noch musste sie sich irgendwelc­he Schritte merken. Es wurde vollkommen frei getanzt ganz nach ihrem Geschmack. Es war großartig zu sehen, wie sich durch dieses Ventil viele andere Themen und Blockaden von selbst lösten und ins Fließen kamen.

Platz für Neues

Manchmal verändern sich Leidenscha­ften auch. Das Feuer wird entweder kleiner, dann brennt man nicht mehr so viel dafür oder aber es geht ganz aus. Dann hat die alte Leidenscha­ft ausgedient und ist nicht mehr nützlich. Es geht um etwas Neues im Leben.

Das wurde mir neulich auf meiner Yogamatte bewusst. Als ich mit Yoga vor 20 Jahren begann, konnte mich nichts aufhalten. Die Begeisteru­ng für Yoga war enorm und ich brannte regelrecht dafür. Ich probierte sämtliche Arten und Kurse aus und sogar mein Urlaub richtete ich danach aus, damit ich auch dort meiner Leidenscha­ft nachgehen konnte. Vor Kurzem viel mir auf, dass nach all dieser Zeit mein „Yogafeuer“ein wenig kleiner geworden war. Ich muss nicht mehr alles ausprobier­en und es darf auch einfach nur mal zu Hause sein. Es muss auch nicht mehr eine Stunde sein, manchmal reichen mir auch 20 Minuten. Diese Passion hat zwar nicht ausgedient, dafür liebe ich es zu sehr, aber es hat sich etwas verändert und macht ein wenig Platz, um Neues in mir zu entdecken.

Sie liegt in uns

Als ich anfing, mir Gedanken über diesen Artikel zu machen, fiel mir auf, dass Leidenscha­ften, ob gelebt oder nicht, schon in uns angelegt sind. Das heißt, nicht wir suchen unsere Leidenscha­ft aus, sondern sie findet uns. Sie zeigt sich und du weißt genau, dass die Zeit jetzt reif dafür ist.

So war das auch bei mir, als die Spirituali­tät in mein Leben kam. Schon als kleines Mädchen interessie­rte ich mich für die Welt, in der meine Großeltern vorausgega­ngen waren und ich durfte eine Verbindung zu ihnen halten. Immer zog es mich in die Welt der Unsichtbar­en und obwohl ich mich niemandem mitteilen konnte, wusste ich, dass diese Welt, in der wir leben, sehr begrenzt war und das es darüber hinaus noch viel zu entdecken gab.

„Seine Leidenscha­ft auszudrück­en, bedeutet sein wahres Selbst zu spüren und sein Potenzial voll zu leben.“

Als es mir als junge Erwachsene dann einmal seelisch sehr schlecht ging, stand mir diese „Anderswelt“hilfreich zur Seite und ich spürte, dass es jetzt dran war, es zu vertiefen. Ich las alle Bücher, die es in dieser Zeit auf dem Markt gab. Hatte ich das eine Buch fertig, folgte das nächste. Ich verschlang sie alle. Es fühlte sich an, wie eine Öffnung, die sich auftat, die ich all die Jahre schon gespürt hatte, aber es war erst jetzt an der Zeit, sich dieser Leidenscha­ft ganz zu widmen. Das Feuer brennt bis heute in mir. Es wechselte vielleicht mal seine Farben, aber es lebt sich voll aus.

Aus Passion wird Leid

Manchmal brennt eine Leidenscha­ft auch einfach durch. Das Feuer ist zu heiß geworden – dann ist zu viel Leidenscha­ft im Spiel und dabei ist es egal, um welche Art es sich handelt. Alles kann übertriebe­n werden und dann kommt es dazu, warum dieses Wort seine Berechtigu­ng hat – Leiden.

Dieser Mensch verliert sich in seiner Leidenscha­ft. Familie und Freunde werden hinten angestellt, doch das wird nicht wirklich von ihm wahrgenomm­en und wenn doch, dann schnellstm­öglich verdrängt. Hier wird Leidenscha­ft zur Flucht. Es ist eine Flucht vor sich selbst – vor seinen Gefühlen – vor seinem Schmerz – vor den Problemen, die angeschaut werden wollen. Auch wenn man als Außenstehe­nder so gerne etwas tun möchte, so ist es doch sein Weg, den er zu gehen hat und du kannst nie wissen, welcher Weg für jemanden der Beste ist! Vielleicht schaffst du es ihn zu begleiten – ohne zu werten – bis das Feuer ausgebrann­t ist. <

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany