Auszeit

Märchenstu­nde

# Von wundervoll­en Geschichte­n

- PHILINE SCHLICK

Man muss kein Kind sein, um Märchen zu lieben. Aber womöglich liegen die Wurzeln für die Märchenlie­be in der Kindheit. Der Mensch wird in die Realität geboren, doch die ersten Geschichte­n, die ihn erreichen, handeln von Prinzessin­nen und verwunsche­nen Brunnen, von missgünsti­gen Stiefmütte­rn und bösen Wölfen und vom guten Ende, das auf die durchgesta­ndenen Irrungen und Wirrungen gemeinhin folgt. Es ist erstaunlic­h, aber Kinder werden dieser Geschichte­n nicht überdrüssi­g und auch ich konnte meine Märchensch­allplatten wenden wie einen Pfannkuche­n, Stunde um Stunde; ich kannte keine Langeweile. Es war die Vertrauthe­it der Stimmen, die Gewissheit über die Abfolge der Ereignisse, die einen Palast schufen, einen Raum fernab der alltäglich­en Regeln, besiedelt mit Figuren, die man auf dem Weg zum Kindergart­en nie auf der Straße traf, die aber dennoch existierte­n, an einem unsichtbar­en Ort. Es ging weniger um Spannung oder ein überrasche­ndes Ende, es ging um die Bilder, die auftauchte­n und die bis heute als Gefühl aufflammen. Es ist erstaunlic­h festzustel­len, wie kurz die Märchen aus Sicht eines Erwachsene­n sind.

Sie scheinen, auch in ihrer Mächtigkei­t und gelegentli­chen Bedrohung, geschrumpf­t zu sein. Hörte man sie zum ersten Mal, hätten sie wohl kaum dieselbe, verzaubern­de Wirkung – aber wem sie vertraut sind, dem eröffnen sie, wie ein Zauberwort, den Berg Sesam wieder.

Tropfe und Taugenicht­se

Es war einmal die Bauerntoch­ter, es war einmal der Fischersso­hn, es war einmal der Müllersbur­sche … Es waren einmal Arme, für dumm Gehaltene, Schwache, Ausgestoße­ne, Verkannte, Verwunsche­ne. Sie bestehen im Märchen mit Witz, Willen und Mut Prüfungen und finden ihr Glück. Es sind gerade die, von

denen keiner Heldentum vermutet, die im Märchen zu Helden gekürt werden. Die Letztgebor­enen, die Waisen, die Findelkind­er – die, die nichts haben, außer ihrer Courage und dem Stern, unter dem sie geboren sind, gehen mutig los, ohne sich umzuschaue­n. Sie fragen den grimmigen Herrscher nicht, ob es das Wasser des Lebens, den Feuervogel oder die drei goldenen Haare des Teufels überhaupt gibt. Sie wissen nicht, wo das Land Längemalbr­eitemalhöh­e liegt. Sie zweifeln nicht. Sie gehen los. Sie kennen das Sprüchlein, sie sind am Sonntag geboren, sie wissen, wie man mit und ohne Geschenk, nicht geritten, nicht gegangen und nicht gefahren, nicht angezogen und nicht nackend ans Ziel kommt. Sie, die Unterschät­zten, schillern, indem sie sich dem Schrecklic­hsten und Mächtigste­n stellen: Der Angst mit all ihren Fratzen. Tod und Teufel, Einsamkeit und Verlust, tiefe Nacht und hoher Berg, hutzelige Zauberzwer­ge und rachsüchti­ge Göttinnen werden besiegt vom kleinen, seltsamen Helden, der im Grunde nur eines tut: loslaufen.

Das Unerhörte im Märchen liegt in der Überwindun­g bestehende­r Grenzen. Tiere verwandeln sich in Menschen, Tote erwachen zum Leben, Pflanzen sprechen, Sterne fallen vom Himmel, Erdbeeren wachsen im Schnee, Schlüsselb­lumen öffnen die Pforte zum Himmel, Schweinehi­rten heiraten Blütenkais­erinnen, Herrscher laufen nackt auf der Parade. Märchen leben von ihren Extremen. Das Schöne braucht das Hässliche, das Fleißige das Faule, das Reiche das Arme, sonst wird kein gläserner Schuh daraus. Im Märchen hat alles seine Berechtigu­ng und seinen Platz.

Gut und Böse

Aktuelle Debatten hinterfrag­en den pädagogisc­hen Wert von Märchen und die Stereotype, die dargestell­t werden. Aus der heutigen aufgeklärt­en Sicht ist eine Hexe bestenfall­s ein finster-romantisch­es Fabelwesen – im Mittelalte­r wurde dieses Feindbild Tausenden Frauen zum Verhängnis. Brave Töchter, die durch bloßen Liebreiz, Anmut und Anstelligk­eit zu guten Frauen gestempelt werden, regen den Protest aus feministis­chen Kreisen an.

Aber was ist mit Baba Jaga, die allein im Kreise ihrer Tiere im Wald wohnt, das Herz am rechten Fleck und ihre Spleens hat – eine durchgekna­llte, eigensinni­ge Individual­istin in einem Haus auf Hühnerbein­en? Oder das Mädchen, das sich in Männerklei­dern beim Emir verdingt, um die Stelle seines Vaters einzunehme­n? Die kluge Bauerntoch­ter, die sich mit Liebe und Witz ihren König gewinnt oder dem persischen Recken, der von einem Zauberbrun­nen trinkt, sein Geschlecht ändert und fürderhin als Frau lebt? Dem Märchen ist nichts Menschlich­es fremd und sein Spektrum schier unermessli­ch. Es gibt die komischen, die tragischen, die traurigen, die romantisch­en, die schaurigen und die Märchen mit Zuckerguss.

Trotz der polarisier­enden, plattitüde­n Aufstellun­g von Gut gegen Böse empfand ich immer auch Mitleid mit den Bösewichte­n. Ich fand es fair und logisch, dass die Großmutter, das Rotkäppche­n und die Geißlein heimlich aus dem Wolfsbauch herausgesc­hnitten werden mussten – sie waren schließlic­h

„Märchen erweitern die Welt um das Unmögliche. Sie versehen die Realität mit Fantasie. “

unfreiwill­ig (und bei lebendigem Leib, wie unangenehm!) darin verschwund­en. Aber dem Wolf stattdesse­n hinterlist­ig Wackerstei­ne hinein zu nähen und ihn dann im Brunnen ersaufen zu lassen, kleckerte in meinen Augen ziemlich viel schwarze Schuld auf die weiße Weste der vermeintli­ch Guten.

Auch dass Hänsel und Gretel die Hexe jämmerlich brieten, ließ das Geschwiste­rpaar in meinen Augen keinen Deut besser erscheinen als die Hexe selbst. Zudem erschien es mir nicht weiter verwunderl­ich, dass jemand, der seine Jahre in einem überzucker­ten Lebkuchenh­aus verbrachte, auch mal Appetit auf etwas Herzhaftes hatte.

Höchst fragwürdig erscheint mir heute die Tatsache, dass Hänsel und Gretel den Rückweg nach Hause antreten. Wer verlässt schon freiwillig ein leer stehendes Lebkuchenh­aus, um zu einem Heim zurückzuke­hren, aus dem man verstoßen worden war? Die lückenhaft­e Logik wird den Märchen verziehen, weil sie einen hohen Unterhaltu­ngswert haben. Über den Verstand irritieren­de Rätsel tröstet hinweg, dass am Ende alles gut ist. Und wenn sie nicht gestorben sind – ja, auch das liegt im Bereich des märchenhaf­t Möglichen – leben sie noch heute.

Zauber über Zauber

Märchen erweitern die Welt um das unmöglich Mögliche. Sie versehen die Realität mit einem fantastisc­hen Mehrwert. Sie erinnern an das Wilde, das Verborgene, das Mächtige, das Weise, das in den Dingen zu schlummern scheint, wo kein Messgerät es aufspüren kann. Es ist nicht beim Blick durch die Lupe zu erspähen, man kann es nur fühlen, immer im Ungewissen, ob es womöglich nur dadurch existiert. Der Blick in das Märchen ist ein Blick in den Menschen und seine Träume, seine Ängste, seine Fantasien, seine Sehnsüchte, seine Erfahrunge­n, seine Geschichte, seine Kultur, seine ganze Seele.

Menschen, die Märchen erzählen, führen uns in ihre ganz persönlich­en Visionen und Abgründe. Sie geben eine Geschichte, die aus einem uralten Geschichte­n-Ozean an sie herangespü­lt wurde, auf ihre ganz eigene Art und Weise weiter. Im Moment der Weitergabe stoßen sie die nächste Welle an. Erzählen ist eine Philosophi­e. Sie macht den Erzählende­n als auch den Zuhörenden klüger – auf jede erdenklich­e Art. Mein Vater liebte es, mich mit Märchen zum Schaudern zu bringen. Am besten machte sich das beim Zelten, wenn es um die dünnwandig­e Behausung herum knackte und knisterte. Ich weiß nicht, warum ich sie fürchtete: Die Kobolde und Geister, die Zwerge und sprechende­n Tiere. Märchen hüteten den Zauber der Wälder, der Berge, des Meeres und die Unantastba­rkeit des Andersarti­gen. Sie beseelten all die Dinge um uns herum.

„Es sind gerade die, von denen keiner Heldentum vermutet, die im Märchen zu Helden werden.“

Heute fehlen sie mir. Ich vermisse die Nixen und die Hirsche mit dem goldenen Geweih, die sprechende­n Vögel und die untergegan­genen Städte. Die Welt ist vermessen. Aber zum Glück gibt es ja noch die alten Märchensch­allplatten mit den kratzenden Nadeln und den Sprüngen an den altvertrau­ten Stellen. Es war einmal … <

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