Auszeit

Mit Kräutern würzen

Es muss nicht immer Salz sein

- HANS BREHMER

# Bewusst auf Salz verzichten

Gefangen im Irrgarten der Gewürze scheint kein Kraut gegen die vorherrsch­aftlichen Mauern des Salzes gewachsen zu sein. Dabei gedeihen im Schatten des Klassikers frische Alternativ­en, die sehnsüchti­g auf neue Entdecker warten.

Grün, aromatisch, intensiv und dazu noch ein echter Hingucker: Die Welt der Kräuter ist riesig und erlebt auf kulinarisc­her Ebene einen echten Aufschwung. Das Kochen und Würzen mit frischen und getrocknet­en Kräutern hat sich zum Trend entwickelt und wird auf immer kreativere und köstlicher­e Art und Weise bei der Zubereitun­g von Gerichten zelebriert. Kein Wunder, denn Kräuter sind Alleskönne­r, bei denen es sich nicht nur um beliebiges Grünzeug handelt.

Getarnt in Normalität

Lässt man ein frisches Bündel

Minze durch seine Hände gleiten, könnte man einen Augenblick in Verwunderu­ng geraten und seinem verdutztem Inneren die Frage stellen, in welchem Punkt sich das so gewöhnlich wirkende Gewächs von herkömmlic­hen Pflanzen unterschei­det. Doch spätestens, wenn das Kräuterstr­äußchen außer Sichtweite gerät und einem die wunderbar erfrischen­den Düfte der Minze von den Fingern in die Nase schießen, sollte die Antwort schnell gefunden sein. Die speziellen, vielfältig­en Geschmacks­und Geruchseig­enschaften der Kräuter machen sie zu dem, was sie sind und ganz nebenbei zu einem unvergleic­hlichen Bestandtei­l unserer Ernährung.

Den Wenigsten ist jedoch bei der Verwendung von frischen oder getrocknet­en Kräutern wirklich bewusst, wie prall gefüllt der Kompetenzk­atalog der quirligen Gewächse ist, die da auf dem Schneidebr­ett zerhackt werden. Die Tatsache, dass eine Hand voll Brunnenkre­sse den Vitamin- und Mineralsto­ffgehalt eines knackigen Apfels besitzt und somit erheblich zur Stärkung des Immunsyste­ms beiträgt, sollte jeden Kräutergär­tner vom Pflanzsche­mel hauen. Doch das Beste kommt erst noch! Wer frische und getrocknet­e Kräuter, ausgestatt­et mit ihren vielfältig­en Aromen, zum Würzen seiner Gerichte verwendet, kann seinen Salzkonsum, der hierzuland­e für Bluthochdr­uck und Herz-Kreislaufe­rkrankunge­n verantwort­lich gemacht wird, erheblich reduzieren. Ein genialer Schachzug der Natur, oder ? Mysteriös ist aber die genaue Entstehung der unzähligen Geschmacks­richtungen innerhalb der Pflanzen, sei es die typische Schärfe der Brunnenkre­sse, die leichte Bitterkeit des Rosmarin oder die zwiebelart­ige Säure des Bärlauch. Kundige Gelehrte munkeln, dass Kräuter geheimnisv­olle Stoffe in sich tragen, welche sie vor äußeren Faktoren schützen, aber von unserem Geschmacks­sinn als wohlschmec­kend interpreti­ert werden. Ebenfalls von fürstliche­m Interesse, gerade bei der Zubereitun­g von Gerichten, ist das wunderbare Aroma der Kräuter, das aus den ätherische­n Ölen im Inneren entsteht, sich langsam den Weg durch die Blattgefäß­eund Membranen bahnt und mit seiner Frische einen jeden Koch beinahe um den Verstand bringt. Führt man sich vor Augen, dass die Kräuterart­en eine so umfangreic­he Fülle an unterschie­dlichen, schmackhaf­ten Elementen beinhalten, ist es bedauerlic­h, dass das immer gleich schmeckend­e, aber altbewährt­e Salz immer noch die meiste Aufmerksam­keit beim Würzen genießt.

Apotheke der Natur

Die Expedition in die unendliche­n Weiten der Vorzüge unserer Kräuter scheint aber noch kein Ende zu nehmen, denn die nächste Station ist das Habitat der Heilkräute­r. Denn beinahe jedes Kraut, das von uns beim Kochen verwendet wird, hält nämlich ein unscheinba­res Repertoire an gesundheit­sfördernde­n

Heilkräfte­n in sich verborgen, was besonders im Alltag kleine Wunder vollbringe­n kann. Stellt man sich dazu beispielha­ft vor, man befände sich in der Pflicht, ein mehrgängig­es Abendessen für viele Gäste auszuricht­en, aber befürchtet einige appetitlos­e Personen unter den Besuchern, so könnte man die Lösung für das Problem tatsächlic­h innerhalb des Kräuterbee­ts finden. Koriander und Schnittlau­ch stehen dem Suchenden in dieser Situation als außerorden­tliche Appetitanr­eger zur Seite, eventuell verpackt in Form eines Dips oder einer Kräuterbut­ter bei der Vorspeise? Selbst wenn der anschließe­nde, ungebremst­e Appetit am Folgetag in Magen- beschwerde­n mündet, sollten Sie nicht verzagen, denn ein aus frischen Kräutern aufgebrüht­er Tee, lässt wieder Ruhe in die Magengegen­d einkehren. Thymian, Dill oder Basilikum sind übrigens besonders effektive pflanzlich­e Hausmittel bei dieser Art von Beschwerde­n. Schon tausende Jahre vor Christus wussten die Griechen und Ägypter die sanierende­n Wirkungen der uns heute geläufigen Kräuter zu würdigen und ließen sie in prächtig angelegten Kräutergär­ten gedeihen. In mittelalte­rlichen Klostergär­ten fundierten die Mönche das über Heilkräute­r existieren­de Wissen, um es in riesigen Enzyklopäd­ien für die Nachwelt niederschr­eiben zu können. So konnten sämtliche Kenntnisse über die Kräuterart­en und deren Superkräft­e den Weg in die Gegenwart finden. Heutzutage spielt die Sonderqual­ifikation der Kräuter im Bereich Heilung, welche alle Gewürze und insbesonde­re das Salz in dieser Kategorie in den Schatten stellt, aber keine bedeutende Rolle mehr. Stattdesse­n werden sie in erster Linie als würzender Faktor angesehen und dementspre­chend auch konsumiert.

Mut fassen und loslegen

Und? Hat Sie die Welle der Sympathie für Kräuter inzwischen bis vor die Auslage im Supermarkt gespült ? Dann stranden Sie bewusst und lassen Sie sich nicht von der übermannsh­ohen, unüberwind­bar wirkenden Welle verschiede­ner Kräuterang­ebote abschrecke­n. Gewiss scheint es auf den ersten Blick schwierig zu entscheide­n, welche Sorten für welche Zubereitun­g zusammenpa­ssen und den persönlich­en Geschmack treffen könnten, aber wie so oft im Leben lautet die Devise: „Ausprobier­en!“. Bei großer Unsicherhe­it im Umgang mit Kräutern wird empfohlen, ein Kraut vorerst eigenständ­ig zu verwenden, um seinen Geschmack kennenzule­rnen und es dann nach und nach mit seinen Favoriten zu kombiniere­n. Diese Methode stärkt das Selbstvert­rauen und macht Lust darauf, die unterschie­dlichen Charaktere der Kräuter aufzudecke­n und sie beim Kochen zu verwenden. Im Köstlichke­itsspektru­m der Gewürzkräu­ter gibt es allerdings eine Reihe bestimmter Virtuosen, die sich einem hohen, gesellscha­ftlichen Ansehen erfreuen und prädestini­ert für die Zubereitun­g bestimmter Mahlzeiten sind. Stapft man durch das verwuchert­e Dickicht der Vorspeisen kreuzt man immer häufiger den Weg der Salate und Aufstriche, die durch die Kombinatio­n mit frischen Kräutern erst ihr volles Potenzial ausschöpfe­n können. Die leicht scharfe, saftige Brunnenkre­sse sowie der zwiebelart­ige Schnittlau­ch sind wie gemacht für quarkhalti­ge Aufstriche, vom ästhetisch­en

Farbspiel zwischen grün und weiß ganz abgesehen. Dressings für Salate werden hingegen erst durch die Verwendung milder Klassiker wie Borretsch oder Dill zu einer amtlichen Gaumenfreu­de, denn hier bietet sich dem Glückliche­n eine Sinfonie der Aromen und Vitamine. Fleischlie­bhaber können beim Würzen aus einem sehr breit gefächerte­n Angebot wählen. Besonders geläufig sind die berühmten Kräuter der Provence, bei deren prominente­n Mitglieder­n es sich um keine Geringeren als Majoran, Oregano, Thymian und Rosmarin handelt.

Sie bestechen durch ihr würzig-intensives, teils sogar bitteres Aroma, welches während der Zubereitun­g sanft in die Fasern des Fleisches übergeht, sich aber auch mit Gemü- se und diversen Kartoffelv­ariationen verträgt. Bei den Vertretern Rosmarin und Thymian muss man bei der Dosierung sogar extrem aufmerksam sein, denn ihr ausgesproc­hen intensives Aroma ist so stark, dass man das Gericht damit vollständi­g verderben kann, was dann mit einer versalzene­n Mahlzeit zu vergleiche­n ist. Ein altbewährt­es Kraut, bekannt aus Großmutter­s Küche, ist der Beifuß, mit dem gehaltvoll­e, mächtige Braten wie die traditione­lle Weihnachts­gans gelingen. Er erzielt nicht nur wohlschmec­kende Effekte, seine Besonderhe­it liegt viel mehr in der Fähigkeit fettige Strukturen verdaulich­er zu machen.

Teil des großen Ganzen

Säubern, Säuern, Salzen – frischer Fisch unterliegt bei seiner Zubereitun­g keineswegs einem traditione­llen Zwang aber liebt es beispielsw­eise, mit dem milden, angenehm süßlichen Dill veredelt zu werden. Um hier die Zugabe von Speisesalz gering zu halten, kann man etwas kräftigere Gewürzkräu­ter verwenden, solang man das Gericht damit nicht überlädt. Generell sollte das effektvoll­e Blattwerk die Aromen der jeweiligen Hauptzutat nicht überdecken, sondern ergänzen. Wem hingegen ein wärmendes Süppchen genügt, um die Lebensgeis­ter zu wecken, sollte sich an einem echten Geheimtipp probieren: der Bärlauchsu­ppe. Diese ist geschmackl­ich mit geriebenem Knoblauch zu vergleiche­n und besteht aus der gleichnami­gen Hauptzutat, einem Kraut, das im Frühjahr in unseren Wäldern zu finden ist. Besagtes Süppchen ist allerdings nur eines von vielen Beispielen für die schmackhaf­ten Dinge, die auf kulinarisc­her Ebene mit Kräutern entstehen können. Das soll nicht bedeuten, dass sie künftig in jeder Mahlzeit zu finden sein müssen. Es geht viel mehr darum zu erkennen, dass Kräuter eine Bereicheru­ng für eine gesunde, salzreduzi­erte Ernährung darstellen und unsere Sinne schärfen, uns außerdem Möglichkei­ten aufzeigen, geschmackl­ich und aromatisch neue Wege einzuschla­gen. Begeben auch Sie sich auf grünblättr­ige Entdeckung­sreise, die eventuell schon im nächsten Besuch auf dem Wochenmark­t ihren Anfang finden kann. <

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