Lügen erlaubt?
Zwischen Wahrheit und wahrer Freundschaft
# Zwischen Wahrheit und Verbundenheit
Vertrauen und Ehrlichkeit sind zwei Grundpfeiler, auf denen jede gute Freundschaft ihr Fundament baut. Doch wie viel Wahrheit verträgt eine solche Bindung? Und wie viel Lüge ist erlaubt?
Bist du ein ehrlicher Mensch? Wir alle haben uns diese Frage doch schon einmal gestellt.
Und vermutlich nach relativ kurzer Bedenkzeit auch mit „Ja“beantwortet. Wie könnte es auch anders sein? Und doch schwingt bei der Antwort meist ein wenig Unsicherheit mit. Was genau bedeutet es eigentlich, ein „ehrlicher Mensch“zu sein? Dass wir darauf nicht ohne zu zögern antworten können, liegt daran, dass der Kern der Frage nicht richtig greifbar ist. Denn in uns existieren zwei verschiedene Wahrheitsmodelle, die zwar inhaltlich eine Einheit bilden, sich in unseren Gedanken aber sauber voneinander trennen lassen: Wenn es um das Thema Ehrlichkeit geht, unterscheiden wir zwischen kleinen und großen Lügen. Zwischen solchen, die sich als Flunkerei abtun lassen und solchen, die uns in unseren Grundfesten erschüttern können. Unterm Strich sind zwar beides Lügen, doch wenn es um die Frage der Ehrlichkeit geht, spielen eigentlich nur zweitere eine Rolle. Denn zumindest zu einem gewissen Teil sind es die vielen kleinen Flunkereien und Ausreden, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen brauchen, um zu funktionieren – und das gilt vor allem für Freundschaften.
Du und ich
Das klingt erst einmal absurd?
Lügen sollen einer Freundschaft gut tun? Das hört sich zwar im ersten Moment verkehrt an, doch wenn wir einmal in uns hineinhorchen, entwirrt sich der Knoten: Freunde sollten sich zwar meist die Wahrheit sagen, doch gilt es stets abzuwägen, was diese Worte für unser Gegenüber bedeuten würden, diesem Menschen, dem wir uns doch innerlich so verbunden fühlen. Und dann können die Werte der Freundschaft wichtiger sein als die Wahrheit. So sitzt man dann einen ganzen Abend neben der besten Freundin, die gerade von ihrem Freund verlassen wurde, trocknet Tränen und schimpft lauthals über den Idioten, mit dem man sich noch eine Woche zuvor großartig bei einem gemeinsamen Essen amüsiert hat und den man eigentlich für einen prima Kerl hält. Man stimmt eifrig zu, dass besagter Idiot froh sein konnte, eine solche Freundin zu haben, auch wenn man innerlich genau weiss, dass das Zusammenleben mit ihr furchtbar anstrengend sein kann oder wenn man schon vor einiger Zeit gemerkt hat, dass irgendetwas bei den beiden nicht mehr ganz rund läuft. All das spielt keine Rolle, wenn es darum geht, einem Freund beizustehen. Auch wenn das bedeutet, dass sich eine Lüge an die andere reiht.
Eine helfende Hand
Doch es geht nicht nur darum, jemandem in schweren Stunden bei-
zustehen. Es geht auch um die vielen kleinen Momente, in denen man die Wahrheit mehr oder weniger zurechtbiegt: Wenn man das neue Kleid beklatscht, in dem sie sich so unglaublich wohlfühlt, obwohl man die Farbe selbst nie für sie gewählt hätte. Wenn man volle Begeisterung beim Tanzkurs vortäuscht, den man ihr zuliebe besucht, für den man aber eigentlich nichts übrig hat. Wenn man ihre ersten Zeichenversuche bestaunt, obwohl sie für einen selbst aussehen, als stammten sie von einem Schulkind, man aber ihren Tatendrang nicht bremsen und ihrem Selbstbewusstsein dem neuen Hobby gegenüber keinen Dämpfer verpassen will. Dabei geht es keineswegs um uneingeschränkte Zustimmung. Es geht um eine ausgestreckte Hand, durch deren hilfreiche Stütze man wachsen kann. Durch Tipps und Ratschläge genauso wie durch Rückendeckung und den vielleicht nötigen Mut, den man seinem Gegenüber vertrauensvoll zuspricht. Jeder dieser Momente wird die Freundschaft etwas tiefer werden lassen – und das selbst dann, wenn er auf einer Lüge fußt: So wird der Tanzkurs zwar in beiden unterschiedlich viel Begeisterung hervorrufen, das gemeinsame Erlebnis und die damit verbundenen Erinnerungen aber bleiben. So wird die Freundin voller Selbstvertrauen in ihrem neuen Kleid durch die Straßen spazieren, auch wenn andere Passanten sie vielleicht etwas komisch ansehen. Und sie wird sich an die herzliche Kritik der Freundin zu ihren ersten Bildern erinnern, wenn sie durch ihre Zeichenmappe voller toller Werke blättert und sich bewusst wird, wer sie auf dem Weg dorthin begleitet und aufgefangen hat, wenn sie mal gestolpert ist.
Verrat und Vergebung
So gut uns diese kleinen Lügen tun, die auf gewisse Weise ja auch zeigen, wie gut unser Gegenüber versteht, was wir in den einzelnen Momenten brauchen, um so schmerzhafter sind die, die an unseren Grundfesten rütteln: am Vertrauen in den anderen und in sich selbst. Wenn sich herausstellt, dass das letztes Date noch in festen Händen ist und nur eine Ablenkung sucht, ist das enttäuschend. Weiß meine Freundin darum und sagt es mir nicht, ist es Verrat. Sagt sie mir, sie könne heute nicht mit zum Tanzkurs gehen weil sie krank sei und ich sehe sie später putzmunter mit jemand anderem in einem Cafe sitzen, fühlt man sich betrogen. Die Stachel solcher Lügen sitzen tief, schmerzen oft noch lange nach und lassen sich um so schwerer wieder heilen, je tiefer man sich seinem Gegenüber verbunden fühlt.
Hier tritt ein besonderes Merkmal der Freundschaft hervor: Kein Verrat kann so schlimm sein wie der der besten Freundin, doch gleichzeitig wird man ihr aufgrund der über all die Zeit gewachsenen Verbundenheit auch viel eher vergeben, als einer flüchtigen Bekanntschaft. Weil man einander so gut kennt, wie kaum einen anderen Menschen. Weil man viel miteinander erlebt hat und es nur wenige Dinge gibt, die sich durch ein klärendes Gespräch nicht wieder in Ordnung bringen lassen. Weil man sich nicht vorstellen kann, diesen Menschen zu verlieren.
Schneidende Wahrheit
Dabei vergessen wir nur all zu oft, dass wir, wenn wir jemanden gekränkt durch eine aufgedeckte Lüge zur Rede stellen, die unverblühmte Wahrheit meist gar nicht hören wollen. Denn auch sie kann richtig weh tun. Der Freundin offen ins Gesicht zu sagen, dass sie wie ein Grundschüler malt oder dass das sorgfältig von ihr ausgewählte Outfit sie aussehen lässt wie eine Gurke,
„Es gilt stets, gefühle abzuwägen. Und dann können die Werte der Freundschaft wichtiger sein als die Wahrheit.“