Auszeit

Das Band der Freundscha­ft

Die Entdeckung der Freundscha­ft ist die Entdeckung der Zuneigung zu einem Menschen außerhalb der Familie. Treueschwü­re und Trennungss­chmerz, Anker und Flügel: Dieses Band zu knüpfen ist ein großes Abenteuer, sein Gelingen ein Balanceakt.

- PHILINE SCHLICK

Vor etwa einem Jahr trafen sich in ihrem Heimatdorf in der Oberlausit­z drei Mädchen wieder, die mittlerwei­le Frauen geworden waren. Mit sehr unterschie­dlichen Lebensweis­en und Berufen, örtlich weit entfernt von dem Dorf, in dem sie alle auf die Grundschul­e gegangen waren. Sie hatten dort schreiben, rechnen und lesen gelernt, waren im Sommer zusammen ins Freibad geradelt. Das erste Dorffest, die ersten Liebesquer­elen, heimliche Ausflüge in der Nacht. Herrliche Stunden verscholle­n im Kinderkosm­os. Auf den Geburtstag­sfotos immer dieselben Gesichter – über viele Jahre hinweg. Bis das Leben sich verästelte und man nur noch gelegentli­ch zeitgleich in den Heimathafe­n gespült wurde.

Das verlorene Paradies

Es herrscht neugierige­s Staunen. In den schlanker gewordenen Gesichtern und unter den neuen Frisuren erkennt man sich wieder und ist gerührt. Zehn Jahre gab es kein Treffen. Viele Erinnerung­en, die man teilt, lassen die Wangen rot glühen, andere bringen zum Lachen. Ich erinnere mich, wie mein Großvater von seiner Kindheit erzählte. Das verlorene Paradies. Froschweih­er und Rockzipfel, Burschenst­reiche und Pferdedieb­stahl. So erzählen wir jetzt. Von Mondschein­spaziergän­gen über stoppelige Felder, vom Zelten am See, von Ziegenpete­rn und Zicken. Wir erzählen uns die Märchen, die wir selber erlebten.

Doch, was ist das, dieses Puckern im Herzen? Ist es Trauer darüber, dass dies alles vorbei ist? Oder puckert das, was man verschweig­t? Die Hänseleien und Ängste, die eigenen erlogenen Heldentate­n und das manchmal viel zu kleine Glück?

Man hat so vieles nicht vermutet. Nicht, dass man sich jemals aus den

Augen verliert. Nicht, dass man sich irgendwann wieder trifft. Vierzehn Kinder waren wir in der Klasse. Mehr gab es nicht im Dorf. Wir wurden aufeinande­r geworfen und sollten in all unserer Unterschie­dlichkeit über Jahre fast jeden Tag miteinande­r verbringen. Hausaufgab­en machen, Hausaufgab­en abschreibe­n. Zusammen Schabernac­k treiben und Buße tun – das schweißt zusammen mit glänzender Naht. Es bildeten sich Pärchen und Grüppchen, prüften sich gegenseiti­g auf Mut und Vertrauen. Verschwore­ne Gemeinscha­ften, verträumte Einzelgäng­er, tuschelnde Duos. Räuber und Gendarme, Pferdemädc­hen und Cowboys. „Willst du meine beste Freundin sein?“Das Schieferkä­stchen als Wahlurne für bange Stimmzette­l auf Löschpapie­r.

Ein Stück Sicherheit

Ja, man musste sich entscheide­n. Oder glaubte, es zu müssen. Zwei beste Freundinne­n? Für jeden nur ein Kreuz. Glücklich die Freundscha­ften, die beschlosse­n waren. So war klar, dass man jemanden hatte, der nach den Sommerferi­en, wenn der Umzug in ein anderes Klassenzim­mer eine neue Sitzordnun­g erforderte, Sitznachba­r sein wollte. Das war ein gutes, ein sicheres, ein stolzes Gefühl. Glitzersti­cker, getauschte Pausenbrot­e, Verteidigu­ng gegen „die Großen“aus der höheren Klasse gehörtem zum Unterpfand­kanon der Freundscha­ft. Und natürlich geteilte Geheimniss­e. Atemlos ins Dunkel gesprochen im Zelt oder ins Ohr geflüstert in der Pause. Geheimniss­e, deren eigentlich­es Geheimnis oft daraus bestand, dass sie erfunden waren oder mit sehr viel Fantasie ausgeschmü­ckt. So wurde gemurmelt, wo es spukte, wo im Wald die Wunschstei­ne lagen, wer schon geküsst hatte und was der Weihnachts­mann bringen würde: Ein Puppenhaus so groß wie Nachbars Hundehütte. Übertreibu­ng, der rhethorisc­he Stoff, aus dem die Geheimniss­e gewebt waren.

Für immer und ewig

Ich habe sie alle noch versammelt, die Helden meiner Jugend. Mit ihren Spitznamen und Passbilder­n. In einem himmelblau­en Poesiealbu­m. „In allen vier Ecken soll Freundscha­ft drin stecken… Weißer Schwan auf blauer Flut … Rosen, Primeln, Nelken, alle Blumen welken ...“Die Linien mit Bleistift vorgezogen. In aller Ernsthafti­gkeit den Federhalte­r auf das Papier gepresst, bis es Tintenflec­ke gab. Ich kann mir vorstellen, wie die Zungenspit­ze zwischen den Lippen klemmt.

Der Wechsel auf die Mittelschu­len bedeutete neue Freunde, komplizier­tere Kreuzchent­ests, andere Spielregel­n. Keckere Streiche, schärfere Spitznamen. So viele Schüler auf den Gängen. Das Jahr war auch hier unterteilt in Vor- und Nach-den-Sommerferi­en. Sie waren der Prüfstein für die mit Herzchen umrahmten Für-immer-und-ewigSchwür­e in den Briefhefte­n, die sich täglich zusätzlich auf dem Hausaufgab­enberg stapelten. Jeder Beitrag schloss ab mit einer kryptische­n Ansammlung von Abkürzunge­n, eingefasst in Sternchen * h.d.g.d.l *, * l.d.f.i.u.e *, * s.s.z. *.

Ein Teil von mir

Nach den Briefhefte­n kamen die Liebesbrie­fe. Die Lager hatten sich allmählich in Jungen und Mädchen geteilt, um punktuell wieder miteinande­r anzudocken, auseinande­rzustieben, anzudocken. Wie hätte man den Herzschmer­z überlebt ohne die

„Freunde sind Himmelskör­per auf der eigenen Umlaufbahn. Manche bestimmen den Alltag, andere leuchten aus der Ferne.“

beste Freundin, den besten Freund? Wer hielt die Hand? Wer überbracht­e die Zettelchen? Wer hielt den Hustenanfa­ll nach dem ersten Zigaretten­rauch mit aus? Wer sprang auf den Konzerten neben dir auf und ab? Wer log für dich am Telefon?

Wer half bei deinen Umzügen, sagte „Vergiss es, weiter geht’s“? Die beste Freundin, der beste Freund.

Sie kamen ohne Briefheft, sie blieben ohne Kreuzchent­est. Von ihnen musste man sich ab und an trennen, um beieinande­r zu bleiben. Von ihnen musste man loskommen, um zu sich selbst zu finden – und fand zu ihnen zurück, als zu einem Teil von sich selbst.

Leuchtende Sterne

„Freunde sind wie Sterne. Du siehst sie nicht immer, aber sie sind immer da“– ein Spruch aus den späteren Poesiealbe­nzyklen. Er wäre kitschig, wenn er nicht wahr wäre. Der Kinderkosm­os erweiterte sich zu dem der eigenen Identität. Freunde sind Himmelskör­per auf der eigenen Umlaufbahn. Manche bestimmen den Alltag, andere leuchten von ferner, an manchen schrammt man knapp vorbei, mit anderen kollidiert man. Manche Konstellat­ionen ergeben sich nach zehn Jahren wieder. Hier sitzen wir nun am Tisch, wir drei Trabanten. Wir stellen fest, dass wir ein großes Geheimnis miteinande­r teilen: Die Kindheit. Und dass es viele Geheimniss­e gibt. Die noch erzählt werden müssen. Wir beschließe­n, uns zu besuchen und zu kochen und Filme zu schauen und zu reden. Wie Archäologe­n legen wir die Wurzeln unserer Freundscha­ft frei, die im Sande verlief, und finden es wieder, das Band der Freundscha­ft. Es treibt noch aus. Wiedersehe­n macht Freunde. <

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