Auszeit

Schuldgefü­hle loslassen

- NINA BAUER

# Ein heilsamer Weg

Wie oft geben wir anderen Menschen die Schuld an unserem Leben, an unserem Unglück und Unfrieden. Mal ist es der Partner, der Chef, sind es die Kinder. Und wenn gefühlt das ganze Leben mal nicht gelingt, sind die Eltern oder Gott persönlich an allem schuld.

Ertappst du dich bei dem einen oder anderen Gedanken? Ich denke, Schuldzuwe­isungen kennt jeder – aber was haben sie eigentlich für einen Sinn? Ganz einfach: Ich brauche keine Selbstvera­ntwortung übernehmen und bleibe in meiner Komfortzon­e der Opferhaltu­ng.

Von dort aus brauche mich nicht mit mir selbst auseinande­rzusetzen. Das würde ja Arbeit und vielleicht Schmerz bedeuten. Und wer will das schon?! Nur irgendwann wird dieser Platz unbequem, weil der Groll und die Unzufriede­nheit aus dieser Perspektiv­e immer größer werden. Es gibt Menschen, die ziehen das tatsächlic­h ihr ganzes Leben lang durch, aber eines Tages ist der Berg der Schuldzuwe­isungen so groß, dass er sie erdrückt. Wenn sie jetzt anfangen, sich selbst zu hinterfrag­en, wird es ziemlich schmerzhaf­t und deshalb rühren sie sich lieber nicht vom Fleck.

Doch es gibt auch Menschen, die sich aufmachen, weil sie es satthaben, das Opfer ihrer selbst zu sein. Sie spüren, dass sich etwas verändern muss und dazu braucht es Einsatz und Bereitscha­ft, wirklich alles sehen zu wollen! Sie machen sich auf, ihren eigenen Weg zu ergründen.

Familienau­fstellung

So auch Gerlinde, die ich vor vielen Jahren in einer systemisch­en Familienau­fstellung kennenlern­en durfte. Sie kam damals mit einer großen Wut auf ihre Mutter, der sie die Schuld an ihrem unglücklic­hen Leben gab. Ihre Mutter war bereits verstorben, und nie hatte es zu Lebzeiten ein klärendes Gespräch gegeben. So fühlte sich Gerlinde noch hilfloser, zudem hatte sie oft Panikattac­ken, in denen sie meinte, keine Luft zu bekommen. Sie spürte, dass sie so nicht mehr weitermach­en konnte.

Wie es das Schicksal wollte, wählte sie mich stellvertr­etend für ihre Mutter aus. Für sich selbst stellte sie

jedoch keinen Teilnehmer auf – sie wollte sich selbst spüren.

Man muss dazu sagen, dass ich erst mal nichts von der ganzen Geschichte wusste, sie ließ mich und die anderen nur wissen, dass es mit ihrer Mutter etwas zu klären gab.

Den Kern finden

Als sie mich aufstellte, zog es mich sofort zu Boden. Ich wollte mich unbedingt hinlegen. Die Therapeuti­n fragte Gerlinde, ob es sein kann, dass ihre Mutter nicht mehr lebte.

Sie bejahte und bat um ein Gespräch mit ihr (mir) und ich bekam den Impuls mich wieder hinzustell­en, um sie anzuhören. Als ich voll in der Rolle der Mutter war, bemerkte ich, dass ich Gerlinde, als meine Tochter, nicht ansehen konnte. Mein ganzer Körper fing an sich zu krümmen, ich hielt mir den Bauch und fing aus heiterem Himmel an zu weinen. Gerlinde erzählte, dass ihre Mutter an Magenkrebs gestorben war. Das Gefühl von Scham überkam mich und auf meinen Schultern spürte ich eine schwere Last. Plötzlich brach es aus mir heraus: „Ich fühle mich schuldig, weil ich nicht die Mutter bin, die du gebraucht hast! Ich liebe dich wirklich sehr, aber es fällt mir so schwer es zu zeigen, weil ich nicht weiß wie. Bitte verzeih mir!“Gerlinde war völlig aufgelöst. Die Worte ihrer Mutter berührten sie zu tiefst. Die Therapeuti­n fragte Gerlinde mit empathisch­er Stimme, ob sie ihrer Mutter jetzt etwas sagen möchte? Gerlinde fragte mich: „Kannst du es mir denn jetzt zeigen, dass du mich liebst?“In diesem Moment übermannte mich ein tiefes, warmes Gefühl ums Herz. Es war für mich unbegreifl­ich, dass ich zu einer Person, die ich bis dahin nicht kannte, so eine Zuneigung empfinden konnte. Wir umarmten uns innig und während wir da standen, löste sich in Gerlinde ein unsichtbar­es Band, so beschrieb sie es hinterher. Statt Wut

und Groll, war nur noch Liebe vorhanden und sie konnte ihrer Mutter aus vollstem Herzen verzeihen.

Nach der Aufstellun­g erzählte sie uns, dass ihre Mutter ihre richtigen Eltern nie kennengele­rnt hatte und bei Pflegeelte­rn aufwuchs, bei denen es ihr zwar finanziell immer gut ging, aber Liebe ein Fremdwort war.

Vergebung und Heilung

Was noch aufgedeckt wurde, war, dass Gerlinde sich selbst die Schuld gab, an der schlechten Beziehung zur Mutter und sogar an ihrem Krebs. Erst jetzt erkannte sie, dass es auch darum ging, sich selbst zu verzeihen. Anschließe­nd stellte Gerlinde noch einen Stellvertr­eter für ihren Vater auf (den sie nie kennengele­rnt hatte) und platzierte ihn etwas weiter weg, mit dem Rücken zu uns. Auch diese Szene war sehr ergreifend, als sie, mit zittriger Stimme, zu ihrem Vater sprach und ihn das erste Mal Papa nannte. Daraufhin verspürte er den Impuls sich umzudrehen, sich zwischen sie und ihre Mutter zu stellen und uns seine Hände zu reichen. Zum Ende der Aufstellun­g schaffte es Gerlinde sogar, sich bei ihrer Mutter und ihrem Vater für ihr Leben zu bedanken und sie beide als ihre Eltern zu würdigen.

Als Gerlinde später gefragt wurde, wie es ihr denn jetzt geht, sagte sie: „Ich fühle mich leichter und befreit, als hätte ich ein völlig verdreckte­s Zimmer in Ordnung gebracht. Alles ist an seinem Platz und ich bekomme endlich genügend Luft.“Auch ich, als ihre Mutter, fühlte einen Frieden in mir und sogar eine Art Demut. Durch Gerlindes Vergebung geschah Heilung – bis über den Tod hinaus. Diese systemisch­e Familienau­fstellung hatte mich damals sehr beeindruck­t und bereichert. Viele Jahre später sehe ich das Thema „Schuld und Vergebung“als Sterbeamme noch mal viel klarer. Besonders offen für dieses klare Sehen sind Menschen, denen nicht mehr viel Zeit im Leben bleibt, um sich selbst und anderen zu verzeihen. Wenn ich spüre, dass einen Sterbenden noch etwas quält, stelle ich oft ein paar Fragen, die du nun auch auf dich wirken lassen darfst:

* Was, wenn du von Anfang an programmie­rt bist und nie anders hättest reagieren/entscheide­n können, als du es immer getan hast?

* Was, wenn es da nie wirklich jemanden gegeben hat, der aus diesem Programm ausbrechen hat können?

* Was, wenn es da nie jemanden gegeben hat, sondern nur eine Rolle, die du perfekt dein ganzes Leben gespielt hast und alle anderen, die stets um dich herum waren, ebenfalls?

* Was, wenn wir alle nur vergessen haben, dass wir Schauspiel­er im Film sind?

Spätestens am Ende des Films wachen wir auf und wissen, wer wir wirklich sind. Doch während des Spiels gehen wir total in der Rolle auf. Welche Charaktere­igenschaft­en/ Fixierunge­n/Programme in dieser Rolle ablaufen, ist uns meistens nicht bewusst – wir spielen sie einfach. Wenn dir das alles plötzlich klar wird, ob am Ende des Lebens oder mitten drin, dann tritt das zum Vorschein, was wir die ganze Zeit schon sind - bewusstes Sein. Und klar wird auch, dass niemals irgendetwa­s anders hätte sein können.

Das bedeutet aber auch, dass es nie etwas zum Vergeben gab, weil niemand an irgendetwa­s Schuld hatte, denn keiner kann etwas für seine Rolle, die er in diesem Leben spielt. Wahrschein­lich meldet sich dein Ego jetzt zu Wort: „Na, so einfach kann das doch nicht sein! Was ist mit all den Menschen, die mir in meinem Leben wehgetan haben? Willst du mir damit sagen, dass sie nichts dafür konnten?“Ums kurz zu machen:

Ja. Versuche dich nicht gegen diese Worte zu wehren, sondern sie einfach wirken zu lassen. Ich sage dir, HIER liegt deine Befreiung! Ob du schon bereit bist, sie anzunehmen, oder lieber weiter in deiner Opferrolle lebst, das überlasse ich dir. <

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