Auszeit

Im Verzeihen liegt Frieden

Verzeihen und Vergeben – sehr oft ist das viel mehr als nur ein kurzes „ist schon gut“oder das Setzen eines kleinen Häkchens in unserem Hinterkopf. Wirkliches Verzeihen muss tief aus dem Herzen kommen und braucht viel Zeit, manchmal zu viel ...

- THOMAS RICCARDI

# Warte nicht, bis es zu spät ist

Dies ist die Geschichte von Julia, deren Kindheit von den Wutausbrüc­hen ihres jähzornige­n Vaters geprägt war. Immer wenn er von der Arbeit nach Hause kam, hatte er seinen aufgestaut­en Frust zunächst an ihrer Mutter und danach an ihr ausgelasse­n. Er fand immer etwas, worüber er sich maßlos aufregen konnte. Mal hat ihm das Essen nicht geschmeckt, ein anderes Mal lag noch Spielzeug im Wohnzimmer, über das er stolperte. Julias Mutter versuchte den tobenden Vater zu beruhigen, sie entschuldi­gte sich und bat um Verzeihung. Er ließ sich jedoch nicht besänftige­n und Vergebung kam für ihn schon gar nicht in Frage! Ganz im Gegenteil, wenn er einmal nichts vorfand, worüber er sich aufregen konnte, holte er alte Verfehlung­en zu Tage und ritt auf ihnen herum. Julia fühlte sich ständig schuldig, sie machte sich verantwort­lich für die Wut des Vaters und beschloss von nun an, alles richtig und gut zu machen. Doch ganz egal, wie sehr sie sich anstrengte, wie ordentlich ihr Zimmer auch war, wie still und untertänig sie auf ihrem Stuhl saß, dem Vater war es niemals gut genug.

Vom Regen in die Traufe

Um ihrem Leid zu entkommen heiratete Julia bereits mit 21

Jahren den zehn Jahre älteren Jürgen. Jürgen war ein ganz Lieber, allerdings nur bis kurz nach der Hochzeit, dann offenbarte er sein wahres Gesicht. Er war derselbe unversöhnl­iche Tyrann wie ihr Vater. Vor ihr lagen nun zwei komplizier­te Geburten und 20 lange Jahre Ehe-Hölle. An ihrem 40. Geburtstag saß Julia mit ihrer besten Freundin Sabine zusammen, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte und so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben war. Sabine schaute Julia lange und tief in die Augen, dann sagte sie: „Ich liebe dich wie eine Schwester und deshalb muss ich dir das jetzt sagen, Du siehst jedes Jahr schlechter aus! In deinem Blick ist keine Freude, wenn du so weiter machst, wirst du deinen 50sten Geburtstag nicht erleben! Wach endlich auf, tu etwas, trenne dich und beginne dein

”Julia fühlte sich ständig schuldig, sie machte sich verantwort­lich für die Wut des Vaters und beschloss, von nun an alles richtig zu machen.

eigenes Leben zu leben! Du hast es verdient glücklich zu sein!“Julia stiegen die Tränen in ihre Augen und Sabine wiederholt­e nochmals mit Nachdruck ihre letzten Worte: „Du hast es verdient! – Du hast es verdient!“

Julia brach in Tränen aus und Sabine nahm sie in den Arm. Sie weinte so bitterlich, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geweint hatte. Alles kam nach oben, all die Jahre des Leidens und der Unterdrück­ung.

Es muss anders werden

Etwas bewegte sich in Julia, tief in ihrem Inneren fühlte sie neben der Trauer eine unglaublic­he Wut in sich hoch steigen, die Wut auf den Vater und ihre schwache Mutter und die Wut auf Jürgen, der ihr genau wie ihr Vater ständig das Gefühl gab, alles falsch zu machen und nicht gut genug zu sein. Als ihre Tränen versiegten sah Sabine etwas in Julias Augen, dass sie dort noch nie zuvor gesehen hatte: Entschloss­enheit! Die Entschloss­enheit, ihr Leben zu verändern und nicht weiter der Sündenbock für alles und jeden zu sein. In einem unglaublic­hen Kraftakt, der ihr alles abverlangt­e, trennte sich Julia von Jürgen und verließ das gemeinsame Haus. Die Kinder entschiede­n sich, beim Vater zu bleiben und Julia zog in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung ganz in der Nähe. Endlich war sie frei und ihr Leben konnte beginnen, doch es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Julia war es nicht gewohnt allein zu sein. Die Einsamkeit in ihren vier Wänden war für sie unerträgli­ch und so begab sie sich recht schnell nach ihrer Trennung auf die Suche nach einem neuen Partner. Dazu meldete sie sich bei einer Singlebörs­e im Internet an. Kurz nach ihrer Anmeldung kamen bereits die ersten Nachrichte­n und schon nach einer Woche hatte sie ihr erstes Treffen. Jedoch musste sie sehr früh feststelle­n, dass es manche Männer nicht so genau mit ihren Angaben nahmen. Frank zum Beispiel gab als Größe stattliche 1,90 Meter an, als sie sich trafen konnte ihm Julia mit ihren 1.68 Metern und flachen Schuhen jedoch direkt in die Augen schauen, ohne auch nur einen Zentimeter nach oben blicken zu müssen. Klaus hatte, wie im Profil beschriebe­n, eine sehr sportliche Figur, allerdings nur bis zu den Knien, alles was darüber lag war eher als pastös zu beschreibe­n. Luigi aus Italien gab an, 43 Jahre alt zu sein, und dieses Alter war auch stimmig mit den von ihm hochgelade­nen Fotos, jedoch war er in Wirklichke­it 62 Jahre alt. Als Julia ihn auf die Diskrepanz ansprach meinte er nur mit einem Lächeln: „Die Foto schon alde, ische fühle misch aber ganze junge wie eine Prinze!“

Was am häufigsten vorkam war, dass sehr viele Männer nicht verstanden, was das Wort „getrennt“zu bedeuten hat. So waren mindestens 70 Prozent

der Männer, mit denen sich Julia traf, getrennt, lebten aber noch mit ihrer Frau zusammen, natürlich nur wegen der Kinder und des Hauses, sie schliefen auch mit ihrer Ehefrau in einem Bett, versichert­en jedoch, dass man bereits seit zwei Jahren keinen Sex mehr hatte und, und, und, bla, bla, bla.

Vertrauens­bruch

Julia wollte schon aufgeben, als ihr Wolfgang schrieb. Sein Anschreibe­n war sehr sympathisc­h und so entschloss sie sich noch einen Versuch zu wagen, den letzten. Wolfgang war anders als alle Männer, die sie bisher getroffen hatte, er eroberte ihr Herz im Sturm. Alles an ihm war großartig, er sah gut aus, war intelligen­t, witzig, gepflegt und man konnte stundenlan­g mit ihm reden, ein Traummann! Ganze vier Monate hatte Julia, zum ersten Mal in ihrem Leben, eine absolut und vollkommen glückliche Zeit. Es war der Himmel auf Erden, bis sich herausstel­lte, dass es auch Wolfgang nicht so genau mit der Wahrheit genommen hatte, denn auch er war noch verheirate­t und lebte mit seiner Frau und den beiden Kindern im gemeinsame­n Haus.

Julia brach zusammen, Sie hatte das Gefühl ihren Verstand zu verlieren. Womit hatte sie das verdient? Es dauerte Monate, bis sie sich auch nur einigermaß­en von dem Schock erholen konnte. Wieder war es ihre beste Freundin Sabine, die ihr in ihrer dunkelsten Stunde zur Seite stand. Sabine lag viele Nächte neben Julia im Bett und nahm sie in den Arm, während sie sich in den Schlaf weinte. Wolfgang versuchte sie immer wieder zu erreichen, um sich zu entschuldi­gen, um sich zu erklären, doch Julia blockte alles ab, sie konnte ihm nicht verzeihen, der Schmerz saß zu tief. Wolfgang trennte sich von seiner Frau und nahm sich eine Wohnung, doch auch damit konnte er Julia nichtmehr überzeugen, der Vertrauens­bruch war zu groß für sie. In ihr war nur noch Wut und Frustratio­n.

„Willst Du ihm nicht noch eine Chance geben?“, wollte

Sabine von Julia wissen.

„Nein, auf keinen Fall!

Ich kann ihm nicht verzeihen, genauso wenig wie ich meinen Eltern und Jürgen verzeihen kann, dass sie mir mein ganzes Leben versaut haben!“Sabine fühlte, dass es in diesem Moment keinen

Sinn machen würde, mit Julia weiter über dieses Thema zu sprechen, denn sie war in und von ihrer Wut gefangen.

Das Herz wird hart

So vergingen zwei Jahre, in denen Julia immer wieder einmal eine unbefriedi­gende Affäre hatte. Mittlerwei­le hatte Julias Wut und Frustratio­n ihr gesamtes Denken, Handeln und Fühlen im Griff. Alles war schlecht, alles war böse und gemein! Auch das Verhältnis zu Sabine hatte sich verschlech­tert, Julia konnte die positive Ausstrahlu­ng und das Glück ihrer Freundin nicht

”Ganze vier Monate hatte Julia, zum ersten Mal in ihrem Leben, eine absolut und vollkommen glückliche Zeit!

ertragen und schon gar nicht ihre Versuche, sie damit anzustecke­n, also zog sie sich immer weiter zurück. Eines Tages stand Sabine vor Julias Tür, weil sie nicht auf ihre Nachrichte­n, mit der Bitte um ein Treffen, geantworte­t hatte. „Hast du eine Stunde für mich?“, wollte Sabine wissen. Julia zögerte, dann nickte sie zustimmend. „Lass uns rausgehen, in den Park auf unsere Bank, ich muss dir etwas sagen.“Julia und Sabine liefen bis zu ihrer Lieblingsb­ank im Park schweigend nebeneinan­der her. An der Bank angekommen, schaute Julia ihre Freundin an und sagte: „Du hältst mir jetzt aber nicht wieder eine Moralpredi­gt zum Thema Glücklichs­ein!?“„Nein, keine Angst“, erwiderte Sabine. Die Beiden setzten sich und Sabine ergriff nach einer Weile der Stille das Wort: „Ich werde sterben, ich habe Krebs und er hat bereits im ganzen Körper gestreut, die Ärzte geben mir nur noch wenige Monate.“Julia war völlig schockiert und brachte kein Wort über ihre Lippen. Sabine sprach weiter: „Ich möchte mit allen Menschen, die ein Teil meines Lebens waren, Frieden schließen bevor ich gehe. Ich weiß, dass ich dich oft mit meinem Gerede genervt habe und ich bitte dich darum, mir zu verzeihen!“Julia liefen die Tränen über ihre Wangen, sie nahm Sabine in ihre Arme, drückte sie so fest sie konnte an sich und erwiderte: „Du musst mir verzeihen, dass ich mich in letzter Zeit so blöd verhalten habe. Es tut mir so leid, dass ich nicht für dich da war. Bitte verzeih mir!“Zwei Monate später ist Sabine gestorben. Sie hatte Julia einen Brief hinterlass­en, in dem sie sich für ihre Freundscha­ft und all die schönen Momente, die sie gemeinsam erlebten, bedankte.

Am Ende des Briefes schrieb Sabine folgende berührende Worte:

„Ich wünsche Dir, dass du einen Weg findest, deinen Eltern, Jürgen, Wolfgang und vor allem dir selbst zu verzeihen. Im Verzeihen liegt Frieden. Warte damit nicht wie ich bis zum letzten Augenblick. Schließe Frieden und genieße dein Leben in vollen Zügen, mit allen Höhen und Tiefen, die noch vor dir liegen! Ich bin immer bei Dir!

In Liebe, deine Freundin Sabine.“<

”Im Verzeihen liegt Frieden! Warte damit nicht wie ich bis zum letzten Augenblick!

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