Ein neuer Tag
# Eine Geschichte über das Schicksal
Es gibt Tage, an denen glaubt man, dass sich die Erde unmöglich einfach weiterdrehen kann, als sei nichts geschehen, sondern dass vielmehr alle Menschen von dem, was sie gerade tun, aufschauen und einen anstarren müssten. Dass alle Uhren stoppen und, ja, dass sogar der Regen aufhören müsste zu fallen.
Aber natürlich geht alles seinen gewohnten Gang weiter. Nur für einen selbst nicht. Bei mir waren es die Worte: „Es tut mir leid, aber der Tumor ist bösartig.“ Ich sah den Arzt an mit seinem weißen Polohemd, auf dem ein winzig kleiner Fleck gleich unter dem gestickten Logo zu sehen war. Rot, aber offenbar kein Blut, dafür war der Fleck zu hell und zu orange. Tomatensoße wahrscheinlich. Und während ich noch über das Mittagessen des Arztes nachdachte, redete er weiter. Von Behandlungsmöglichkeiten und Überlebenschancen, von Betreuung, Selbsthilfegruppen und von Yogakursen für Krebskranke.
Mit wem redet der Mann da eigentlich, fragte ich mich, bis mir klar wurde, dass er mit mir sprach. Dann stand ich auf. Bedankte mich, sagte, ich bräuchte keine Gruppen, ich hätte meinen Mann, danke und auf Wiedersehen. Den Blick des Arztes beim Abschied werde ich nie vergessen. Wie lebt man wohl damit, wenn man immer wieder Leuten mitteilen muss, dass sie an Krebs erkrankt sind? Ist man froh, dass es einen nicht selbst erwischt? Fürchtet man nachts, dass auch im eigenen Körper Tumore wachsen? Oder fühlt man sich sicher, denn schließlich ist man Arzt?
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich nach Hause kam. Es war jedenfalls viel später als normal, ich schätze, ich bin den ganzen Weg gelaufen. Ich trug meine Hand zu einer Faust geballt in meiner Manteltasche, was ich erst daheim bemerkte, weil die Hand schmerzte. In der Faust steckte der Termin für den Arzt, zu dem ich als nächstes gehen würde. In zwei Tagen.
Sind zwei Tage lang oder kurz? Wenn man nicht weiß, wie viel Zeit einem noch bleibt, sind zwei Tage eine Ewigkeit.
In unserer Wohnung stand ich unschlüssig im Flur, nachdem ich meinen Mantel und die Stiefel ausgezogen hatte. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Was hätte ich normalerweise getan? Nicht einmal das fiel mir ein.
Zwei Tage. Sollte ich Peter sofort von dem Tumor erzählen oder würde ich noch warten? Worauf wollte ich denn warten? Vielleicht auf eine Eingebung, wie ich es ihm sagen könnte? Auf einen guten Moment? Was ist ein guter Moment, um seinem Ehemann mitzuteilen, dass man Krebs hat? Sagt man so etwas vor oder nach dem Essen? Vor dem Fernsehfilm oder danach? Am Abend im Bett oder morgens am Frühstückstisch?
Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. Ich stand in meinem Flur und war mir nicht mal mehr sicher, ob ich mich noch erinnern konnte, wie man einen Fuß vor den anderen setzt. Wir müssten mal wieder renovieren, dachte ich, als ich die ziemlich vergilbten Tapeten anschaute.
Dann klingelte das Telefon und ich folgte reflexartig dem Impuls, ein klingelndes Telefon nicht unbeantwortet zu lassen. Ich ging also ins Wohnzimmer und brachte das Telefon zu meinem Ohr.
„Ja, … hallo?“
„Margit, bist Du es?“
„Ja, ich bin’s.“Wer sonst sollte wohl in unserer Wohnung ans Telefon gehen, wenn es Peter war, der anrief?
„Deine Stimme klang komisch. Pass auf, es wird heute Abend spät. Warte am besten nicht auf mich. Siggi hat ein Geschäftsessen angesetzt und da muss ich hin. Ich werde leise sein, wenn ich komme. Bis morgen dann.“Und er legte auf.
Ich liebe dich auch, dachte ich, und, ach ja, ich habe übrigens Krebs.