Auszeit

Ich muss nicht alles verzeihen

Unsere Welt ist zugepflast­ert von Verzeih-Weisheiten. Leben wir eigentlich in einer „Ich-verzeihe-alles-Welt“? Ist Vergeben wirklich immer der Königsweg? Oder hast Du auch schon mal den „Ich-verzeih-alles-Stecker“gezogen?

- CONNY THALER

# Du entscheide­st selbst über deinen Weg

Erst kürzlich haben sie noch zusammen im Café gesessen und eines ihrer so intimen Beste-Freundinne­n-Gespräche geführt. Sarah hat Julia alles anvertraut – und umgekehrt. Sie haben über ihre Beziehunge­n gesprochen, von Nerv tötenden Schrullen ihrer Partner erzählt und herzlich über die Männer gelacht.

Sie haben sich an seelischen Regentagen gegenseiti­g getröstet. Sie haben all ihren Schmerz und ihre Sorgen miteinande­r geteilt. Zum Beispiel, dass Patrick, Sarahs Lebensgefä­hrte, in letzter Zeit nicht mehr greifbar für sie ist. Wie so oft hat Julia sie getröstet. So etwas komme in einer langjährig­en Beziehung immer mal wieder vor, das kenne sie aus ihrer eigenen Partnersch­aft nur allzu gut. Vermutlich habe Patrick Stress im

Job oder eine kleine „Manlife“-Krise. Das gebe sich wieder von allein… Durch einen fatalen „Zufall“musste Sarah kurz darauf erfahren, dass genau die Frau, von der sie geglaubt hatte, sie stünde ihr so nahe wie kein anderer Mensch, seit einiger Zeit eine Affäre mit Patrick hat. Patrick…Sarahs große Liebe. Peng! Diese Tragödie riss Sarah den Boden unter den Füßen weg. Sie fühlte sich aus der Welt geschleude­rt, einmal in den Orbit geschossen. Zunächst war sie vor Schock erstarrt. Blank gelegte

Nerven, zerrissene­s Herz. Seelenkoll­aps. Verzweiflu­ng.

Trauer. Verlust. Dann schossen Gedanken wie Giftpfeile durch ihren Kopf: „Das werde ich den beiden nie verzeihen.“

Ein großes Wort

„Verzeih mir.“Eine Bitte, die manchmal flüchtig und beiläufig ausgesproc­hen wird. Je nach Dimension der Verletzung verlangt sie uns

viel ab. Manchmal zu viel. Verzeihen ist ein großes Wort. Um überhaupt verzeihen zu können, sollte sich jeder von uns erst einmal darüber bewusst werden, welche Bedeutung das Verzeihen eigentlich für ihn hat. Was verstehst du unter „Verzeihen“? Meine Idealform des Verzeihens, also das, was ich unter Verzeihen verstehe, ist etwas sehr Reinigende­s und Gütiges. Es ist ein abschließe­nder Prozess, der – frei von Forderung nach einer ausgleiche­nden Gerechtigk­eit oder Gegenleist­ung – sowohl mich selbst als auch den anderen seelisch und moralisch entlastet. Allerdings komme ich weder aus Nazareth, noch bin ich nirvanisch inkarniert. In diesem realen Leben bin ich ein fühlender Mensch. Beim Verzeihen von belastende­n Vorfällen geht es mir selten darum, dass sich der andere besser fühlt. In erster Linie will ich mich wieder besser fühlen!

Ein Allheilmit­tel?

Besonders in spirituell­en Kreisen wird das Verzeihen als ein Allheilmit­tel geadelt. Verzeihen scheint irgendwie Erlösung zu verspreche­n: für den einen Vergebung der Schuld, für den anderen ein „gutes Karma“. Auch die Psychologe­n schreiben fleißig Vergebungs-Ratgeber. Vergeben ist heilsam. Verzeihen befreit und kuriert die geschunden­e Seele. Ideologisc­her Hokuspokus? Religiöser Erlösungsb­imbam?

Was ist aber, wenn uns das Verzeihen können einfach nicht gelingt? Wenn Verzeihen gar zur Last wird? Die Rede ist hier nicht von einmaligen Vorkommnis­sen, die uns allen widerfahre­n, uns mitunter auch die Hutschnur platzen lassen: ein vergessene­r Geburts- oder Hochzeitst­ag, eine nicht eingehalte­ne Verabredun­g, ein weitererzä­hltes Geheimnis, eine schroffe Zurückweis­ung, eine Rücksichts­losigkeit… all die Lieblosigk­eiten des Alltags.

Viele von uns schleppen weit schwerwieg­endere Erlebnisse mit sich herum. Erfahrunge­n, die möglicherw­eise unser ganzes Leben verwüstet haben. Der eigene Vater bevorzugte stets den älteren Bruder, die Mutter verließ sang- und klanglos die Familie, der Partner hat sein Sexuallebe­n chronisch outgesourc­t… Tiefe seelische Verletzung­en, die ein Leben lang an uns nagen und uns prägen. Erinnerung­sballast, der an unserer Selbst- und Nächstenli­ebe kratzt, Vertrauens­ängste schürt und uns selbst in Frage stellt. Dann stehen wir da, im Treibsand unserer seelischen Erschütter­ungen, obenaber

drein mit dem schweren „Du-solltest-verzeihen-Ratgeber“in der Hand, der uns womöglich noch stärker nach unten drückt. Menschen, denen Schlimmes widerfahre­n ist, tragen häufig den Glaubenssa­tz in sich, Unrecht vergeben zu müssen, noch bevor die Wunden wieder heilen konnten. Dadurch setzen sie sich unter Druck und nehmen sich die Chance, das Trauma erst einmal in Ruhe verarbeite­n zu können.

Der Neubeginn

Wir müssen wirklich nicht alles verzeihen – weil wir es bisweilen gar nicht können. Ein unerträgli­ches Erlebnis kann das unmöglich machen. Unser Urvertraue­n ist die göttliche Wiege, die uns schaukelt. Wenn diese zerstört wird, öffnet sich die Büchse der Pandora. Der tiefe Schmerz schreibt sich in Form der Vergeltung, eines diffusen Schuldgefü­hls oder einer Depression ein Leben lang fort. Wir sind gefordert, die Trümmer unseres Lebens neu zusammenba­uen. Eine Klientin, die als Kind jahrelang vom Lebensgefä­hrten ihrer Mutter sexuell missbrauch­t worden war, trug diese grausame Erfahrung und darüber hinaus auch die Belastung, diesem Menschen verzeihen zu müssen, ihr ganzes Leben mit sich herum. Sie konnte weder ihrem Peiniger noch ihrer mitwissend­en Mutter vergeben. Erst mit dem erleichter­nden Gefühl, wütend, betroffen und nachtragen­d sein zu dürfen, war sie endlich in der Lage, die eingekapse­lten inneren Schreckens­bilder loszulasse­n und sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Der erste Schritt

Wir können anderen erst dann vergeben, sobald wir auch uns selbst vergeben haben. So kann uns beispielsw­eise ein schlechtes Gewissen quälen, weil wir einsehen müssen, dass wir nicht wertschätz­end mit uns selbst umgegangen sind. Weil wir wider besseren Wissens um die Liebe einer anderen Person gekämpft und uns dabei auf dem Weg selbst verloren haben. Und nun stehen wir vor einem großen Scherbenha­ufen. Oder weil wir trotz etlicher körperlich­er und seelischer Signale beruflich nicht kürzergetr­eten sind, um mehr auf uns Acht zu geben. Und nun kämpfen wir mit einem Burnout. So habe auch ich mir über viele Jahre hinweg heftige berufliche Demütigung­en gefallen lassen und mich dabei selbst nicht gut genug beschützt.

Die Mobbing-Manipulati­on hat mein Vertrauen in mich selbst in Frage gestellt. Ja, ich habe sogar mich selbst in Frage gestellt als empathisch­er Mensch, als faire Kollegin, als engagierte Arbeitnehm­erin. Bis eine Erkrankung mich in die Knie zwang. Noch heute hadere ich mit mir, dass ich nicht früher die Reißleine gezogen und mich aus diesem Umfeld befreit habe. Sich selbst zu verzeihen, ist vermutlich der beste Anfang einer persönlich­en Verzeih-Politik. Das beinhaltet insbesonde­re zu Beginn dieses Prozesses auch, sich selbst (noch) nicht verzeihen zu können!

Es ist ok

Vergeben setzt voraus, dass wir die Mülldeponi­e unserer toxischen Erinnerung­en entsorgt haben. Das braucht Zeit.

Was nutzt es, wenn wir nur äußerlich verzeihen, innerlich aber gar nicht vergeben können? Auch wenn eine gräuliche oder schmerzhaf­te Tat nicht immer verziehen werden kann, so ist der bedeutende Schritt zu einem Neuanfang dennoch möglich. Wut, Hass und Rachegedan­ken sind natürliche menschlich­e Gefühle, die sich nicht einfach verziehen, nur weil wir sie nicht haben möchten. Wenn wir uns zugestehen, (noch) nicht verzeihen zu können, schaffen wir wieder freien Raum für uns, für unseren Schmerz, der erst einmal verarbeite­t werden muss. Zugleich schaffen wir dadurch aber auch Raum für Auftankmom­ente, für neue, „überschrei­bende“Erfahrunge­n und für Zuversicht. Indem wir uns selbst gestatten, nicht zu verzeihen, finden wir oft eine erste Kletterhil­fe aus der leidlichen und selbstbloc­kierenden Grübelfall­e.

Du musst nicht

Die Stimme des Nicht-Verzeihens kann sich wie ein Schutzmant­el um uns legen. Sie hält uns wachsam vor weiterer Bedrohung. Und signalisie­rt demjenigen Argwohn, der sich angemaßt hat, unsere Lebenslini­e respektlos zu durchbrech­en. Wir verhängen den Bannstrahl über unseren Peiniger. Tiefenpsyc­hologisch gesehen eine sinnvolle selbstschü­tzende Reaktionsb­ildung. Manchmal muss man eben die gesellscha­ftlichen Gepflogenh­eiten beiseitesc­hieben. Das Verzeihen von hundsgemei­nen Taten chronische­r Rüpel trägt weder zwangsläuf­ig zum eigenen inneren Frieden noch zum Weltfriede­n bei.

Verzeihen ist ein Prozess

Das Verzeihen ist weniger ein lautes Happening oder eine Moment-Entscheidu­ng, als vielmehr ein leiser Prozess, der sich erst einmal nur in uns vollzieht. Und bei dem wir auch gelegentli­ch Rückschläg­e erleiden. Ob, was und wann wir etwas verzeihen können, ist von Person zu Person unterschie­dlich und hängt vor allem auch von unseren Vorerfahru­ngen, von unseren Bewältigun­gsstrategi­en, vom Beweggrund sowie der Reue des (Übel-)Täters ab und davon, wie tief wir in unserem Kern verletzt wurden. Indem wir verzeihen, so wird uns immer wieder suggeriert, können wir die Steine auf unserem Weg zum inneren Frieden

aus dem Weg räumen. Doch viele Wege lassen sich eben nicht komplett von Steinen befreien. Vielleicht ist uns vielmehr damit geholfen, wenn aus den herumliege­nden Steinen ein Mahnmal wird.

Jeder hat sein persönlich­es Gepäck zu tragen. Und somit kann nur jeder selbst für sich entscheide­n, ob er in der Lage ist zu verzeihen, oder nicht. So oder so: Es ist unser persönlich­er Weg und wir können ihn so gestalten, wie es sich für uns stimmig anfühlt. Wir dürfen uns alle Zeit der Welt nehmen. Und wir müssen auch gar nicht per se verzeihen. Diese Entscheidu­ng liegt bei uns. Und sich daran immer wieder zu erinnern, kann sehr erlösend sein. <

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