Auszeit

Auszeit in Afrika

Als ihr altes Leben sie zu erdrücken drohte, haben Lena und Ulli die Reißleine gezogen und sind zwei Jahre quer durch Westafrika gereist. Dabei haben sie nicht nur neue Freude gefunden, sondern auch eine ganz neue Sicht auf ihr Leben.

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# Zwei Jahre raus aus dem Alltag

Zwei Jahre Westafrika. Sehnsüchte, Abenteuerl­ust, Veränderun­gsbedarf oder Leidensdru­ck - was waren die entscheide­nden Motive, so radikal auszureiße­n?

Lena: Ich bin mein Leben lang wahnsinnig hart zu mir selbst gewesen. Immer angetriebe­n von dem permanente­n schlechten Gewissen allen alles recht zu machen. Meine To-Do Listen waren unendlich. Wenn gar nichts mehr ging, bin ich abgehauen. Reisen, mein Rucksack, und ich allein in Länder, von denen ich gehofft habe, da fährt sonst keiner hin. Ich war viel im südlichen und in Ostafrika unterwegs, hab auch mal eine Weile in Australien und in Südafrika gelebt. Wenn ich weg war, hatte ich das Gefühl, am Leben zu sein. Ich habe die meiste Zeit barfuß in der Natur verbracht. Gelacht, getanzt, mich am Leben gefühlt. Etwas, was ich daheim fast verloren hatte. Ich hatte oft das Gefühl, mich nicht mehr zu spüren, irgendwo entlang meines Lebens mich selbst verloren zu haben.

Doch egal wie lang ich weg war, wenn ich zurück kam, war gefühlt alles wie immer. Nach Ullis Zusammenbr­uch und seinem Entschluss zu kündigen war für mich sofort klar, JETZT ODER NIE. Ich hatte schon eine ganze Weile diesen Traum, mit meinem Partner und im eigenen Auto all die Länder Afrikas zu bereisen, die ich noch nicht kannte. Und nicht eher umzudrehen bis ich den Schlüssel gefunden habe, wie ich das, was ich unterwegs spüre, auch zu Hause erreichen kann, ohne immer wieder wegrennen zu müssen.

Erst einmal klingt es durchaus nach Stress, so eine Reise ins Ungewisse

anzutreten und viel Vertrautes hinter sich zu lassen. Wann hat sich bei euch das Gefühl eingestell­t, dass diese Auszeit das war, was ihr wolltet?

Ulli: Das hat für mich eine ganze Weile gedauert. Ich bin losgefahre­n und habe all das, von dem ich naiv dachte, ich lasse es zu Hause, mitgenomme­n. All den Stress, die inneren Zwänge, Ängste … Der Beginn der Reise war bei mir ganz stark geprägt durch eine Überlastun­g mit all der Verantwort­ung, die ich mir selbst für uns und unsere Reise auferlegt hatte. Erst mit der Zeit und dann auch erst nach einem Besuch daheim in Deutschlan­d hat es für mich Klick gemacht. Mit Abstand zur Reise, mit Zeit und Ruhe, habe ich das Gefühl gewonnen, dass diese Reise das ist, wonach ich mich unbewusst in Deutschlan­d gesehnt habe. Die innere Ruhe und Balance sind Dinge, die sich mit der Zeit und Akzeptanz einstellen. Das geht bis heute weiter.

Was waren die fasziniere­ndsten Augenblick­e, die Aha-Momente, in denen es auch ganz tief im Herzen „Klick“gemacht hat?

Lena: Einer der krassesten Augenblick­e für mich war, als wir El Hadj, einen Ranger, entlang der Straße aufgesamme­lt haben, um ihn in sein ein paar Stunden entferntes Zuhause zu bringen. Als wir ankamen, waren wir Freunde und wurden, wie jeden Tag im Senegal, zum Essen und Übernachte­n eingeladen. Die Senegalese­n haben ein Wort dafür: Teranga Gastfreund­schaft. Wenn du einen Fremden siehst, dann lädst du ihn ein. Die, die am wenigsten haben, teilen alles. Wir haben den Nachmittag und Abend mit der Familie und Freunden auf dem Hof verbracht, die gesamte Nachbarsch­aft kennengele­rnt und mit Händen und Füßen gelacht und Zeit verbracht. Es gab zur Feier des Tages Spaghetti mit Palmölsoße und die beste noch eigenschwe­ißte Matratze wurde unser Übernachtu­ngslager. Am nächsten Morgen wollte die Oma mich nicht gehen lassen. Sie hat mich so fest umarmt und auf einmal angefangen zu weinen. El Hadjs Frau hat es ihr gleichgeta­n und er selbst hat übersetzt, dass sie sich niemals hätte vorstellen können, dass wir mal Zeit miteinande­r verbringen. Da hab auch ich losgeheult.

Und mit welchen Augen seht ihr heute den Alltag um euch herum, aus dem ihr euch für zwei Jahre verabschie­det hattet und in den ihr nun mit neuem Blickwinke­l zurückgeke­hrt seid?

Ulli: Schnell. Stressig. Gehetzt.

Das sind die ersten drei Worte, die mir dazu in den Sinn kommen. Auf unseren Kinotour-Terminen macht Lena manchmal eine schöne Übung mit dem Publikum. Jeder schließt die Augen und zieht die Mundwinkel dann ganz bewusst erst einmal nach unten und später nach oben. Jedes mal mit der Aufgabe, zu spüren, was ich fühle, wenn ich lächle, oder grummelig schaue. Ich kann bei vielen Menschen sehen und spüren, dass die vertrauter­e Stellung letztere ist. Ich habe aber auch gelernt, dass ich jeden Tag der Regisseur meines eigenen Films bin. Ich bin der einzige, der entscheide­t, ob ich die Mundwinkel oben oder unten tragen will. Ob ich Dinge tue, oder lasse, egal auf welcher Ebene. Eigenveran­twortung ist ein Riesen-Ding. In unserer Gesellscha­ft wird mir vieles abgenommen, alles ist bequem. Da gewöhne ich mich sehr gerne sehr schnell dran. Aber ich neige dazu, mich auch nicht mehr mit mir zu beschäftig­en und verliere den Kontakt zu mir selbst. Ich glaube vielen Menschen hierzuland­e geht das so, und sie sind sich dessen nicht bewusst. <

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