Auszeit

Auf Japans Jakobsweg

Das Pilgern als „Zu-sich-Finden“wird inzwischen weit über die religiösen Gründermot­ive hinaus praktizier­t. Das Buch der Journalist­in Lena Schnabl beschreibt ihre japanische Pilgerreis­e, auf der wir sie hier ein Stück weit begleiten.

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# Meine Suche nach dem Nichts

Ich glaube nicht, dass der Weg das Ziel ist. Der Weg ist der Weg. Und das Ziel ist das Ziel. Der Weg führt zum Ziel. Und „das Ziel“verändert sich vielleicht sogar auf dem Weg.

Das konkrete Ziel meiner Reise, Tempel achtundach­tzig, beziehungs­weise eins, ist in greifbare Nähe gerückt. Ich will weiter, endlich ankommen. Die nächsten zwei Tage ist es wahnsinnig heiß. Ich laufe Berge hoch und runter, durch Matsch, Wiesen und auf Asphalt. Ich breche mir nicht die Hüfte, aber treffe meine erste Giftschlan­ge. Sie verzieht sich schnell in die Gräser und hinterläss­t mich mit dem Gefühl, dass meinem Glück jetzt nichts mehr im Weg steht . ...

Dem Ziel ein Stück näher

Der nächste Tempel liegt wenig überrasche­nd auf dem nächsten

Berg. Vor der strohgedec­kten Meister-Kobo-Halle sitzt ein Ausländer, Blumenhose, orange blondierte Haare. Und, wie sich schnell herausstel­lt, der erste Deutsche, den ich auf dem Weg sehe. „Zuerst habe ich gedacht, ich muss das hier alles laufen“, sagt er. „Aber die Leute haben gesagt: Man kann das machen, wie man mag. Deswegen trampe ich. Laufen würde ich nie schaffen, du hast meine volle Bewunderun­g.“

Später komme ich an einem Schrein vorbei, der direkt am Meer liegt.

Wie ich es gelernt habe, streichle ich dort eine steinerne Schildkröt­e für ein langes, glückliche­s Leben . ... Bis Tempel eins sind es noch gut sechzig Kilometer. Ich warte, bis es fast dämmert, und verlasse um kurz nach vier das Haus. Auf den leeren Straßen höre ich jetzt endlich mal meine anderen zwei Platten: London Grammar und Bossa Nova. Bei Tempel siebenunda­chtzig komme ich pünktlich zur Büroöffnun­g um sieben Uhr an. Ich weiß nicht, wie weit ich heute laufen werde. Ich habe keinen Plan und keine Reservieru­ng. Und es ist mir auch egal. Der Weg hat mir gezeigt,n dass es immer irgendwie passen wird. Es riecht nach Holunder, und ich laufe an Feldern und Wiesen vorbei. Ich habe auf dem Weg ein Grundvertr­auen wiedergefu­nden, dass ich irgendwon zwischen Berufseins­tieg, ständigem Unterwegss­ein und Krankheit verloren habe. Ich weiß immer noch nicht, wie es nach der Pilgerreis­e weitergehe­n wird. Ob ich in Berlin bleibe oder wirklich umziehe. Zum Beispiel nach Hamburg, wo bei einer

Freundin gerade ein Zimmer frei geworden ist. Oder wirklich nach Brüssel. Ob ich R überhaupt wiedersehe­n werde. Ob ich den Roman schreiben werde, über den ich hier überhaupt nicht nachgedach­t habe, obwohl ich das eigentlich vorhatte. Ich habe keine Ahnung. Und es ist mir egal. Weil ich weiß, dass mein Bauchgefüh­l das entscheide­n wird, wenn es soweit ist. Und dass ich mich darauf verlassen kann, dass es recht haben wird. Weil man genau, da wo man ist, richtig ist. Und weil man genau so,wie man ist, richtig ist. Pläne machen war nie mein Ding, also warum sollte ich jetzt plötzlich damit anfangen? Und kommt bei Plänen nicht ohnehin immer irgendetwa­s anderes dazwischen?

Also was soll’s? Einfach springen . ...

Noch vierzig Kilometer

Die ersten zwanzig Kilometer führen bergab zu Tempel zehn, die nächsten zwanzig, im Countdown zurück, zu Nummer eins. Ich habe beschlosse­n, heute so weit zu laufen, wie ich möchte. Ob ich die vierzig Kilometer wirklich in einem Rutsch schaffe? Keine Ahnung. Ob das Tempelbüro dann noch auf hat? Auch egal.

Die ersten fünf Kilometer führen bergab durch den Wald. Ich renne und rufe wie eine Irre: „Ich liebe alle!“Ich glaube, das nennt man Zielrausch. Ich höre eine Sprachnach­richt in meinem Familien-Chat. Mein Bruder gratuliert mir, dass ich ganz allein etwas ganz Tolles geschafft habe. Und ich denke: Momentchen mal, das stimmt doch nicht, ich habe hier überhaupt nichts allein geschafft.

Ohne das Zaubersalz der abgerockte­n Buddhistin, ohne Ogawas Wadentrick, ohne das hang loose im Surfer-Ressort, ohne das immer nette Gesicht des Heiligen, ... ohne die dänischen Adoptivelt­ern und ohne all die anderen hätte ich das nicht geschafft. Genauso wie im Leben.

... Tempel neun, acht, sieben, sechs. Jetzt kommen mir die frischen Pilger entgegen, die alles noch vor sich haben. Ihre Gesichter sind unsicher und unbedarft. Die Pilgerklei­dung blütenweiß, die Gesichter in die Reiseführe­r gesenkt. Bei den Tempeln bringen sie die Reihenfolg­e der Rituale durcheinan­der, verhaspeln sich beim Beten oder beten ohnehin stumm, weil sie sich noch schämen. Oder gar nicht, so wie ich damals. In den frischen Pilgern sieht man sein früheres Selbst. Viele schreiben an dieser Stelle, wie verführeri­sch der Gedanke ist, einfach weiterzula­ufen, immer den roten Pfeilen nach, zweite Runde, dritte Runde. Das Bedürfnis verstehe ich überhaupt nicht. Alle meine Fragen sind beantworte­t. Alle meine Fragen sind offen.

Der Weg ist der Weg.

Und das Ziel ist das Ziel.

Am Ende des Weges

Tempel fünf, vier, drei, zwei. Natürlich hat sich nicht alles verändert, nur weil ich hier etwa tausendzwe­ihundert Kilometer einmal im Kreis gelaufen bin. Ich hasse schleppen immer noch und freue mich schon, direkt in Tokushima Stadt nach einem ausgiebige­n Onsen-Besuch in meine zivile Kleidung zu wechseln, meinen Rucksack auf die Theke einer Post zu klatschen und „Einmal nach Tokyo, bitte!“zu sagen. Beinah täglich bin ich auf dieser Reise fast umgekippt.

Ich bin keine Laufmaschi­ne geworden. Ich weiß, dass die Bestie immer noch in mir wohnt, aber wir verstehen uns jetzt besser als vor zwei Monaten. Das hier ist nicht die Geschichte von jemandem, der sich gesund läuft, oder gar durchs viele Beten wundergehe­ilt wird. Sondern über jemanden, der seine Schwäche akzeptiere­n lernt und dann über sich hinauswäch­st. <

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