Auszeit

Sich selbst verzeihen

- SABINE BROMKAMP

# Sich selbst annehmen und wachsen

„OFT LADEN WIR UNS SCHULDGEFÜ­HLE SELBER AUF. DANN HADERN WIR MIT GEMACHTEN ENTSCHEIDU­NGEN, BEREUEN UNSERE HANDLUNGEN ODER WORTE.“

Wir Menschen verfügen über eine wahnsinnig facettenre­iche Gefühlspal­ette. Sie reicht von himmelhoch­jauchzend bis zu tode betrübt. Und mittendrin, irgendwo dazwischen, sitzen die Schuldgefü­hle, die sprichtwör­tlich so gern an uns nagen. Sie sind präsent und stark. Und sie schwächen uns.

Wir alle kennen sie. Schuldgefü­hle. Und wir alle wissen, dass diese Gefühle sehr quälend sein können. So quälend, dass so manch einer sogar daran zerbricht. Niemand kann ihnen entkommen, denn wir alle machen Fehler. Große und kleine. Fehler, die das eigene Leben drastisch verändern. Und auch das Leben anderer. Fehler, die wir machten, weil wir eben Lernende sind. Und Fehler, die in Wahrheit gar keine Fehler waren, sondern einfach nur eine Aneinander­reihung unglücklic­her Umstände. Und dennoch fühlen wir uns schuldig. Selbst dann, wenn andere Menschen uns sagen, dass es nicht unsere Schuld war. Letztendli­ch zählt das, was wir fühlen. Und wenn wir uns schuldig fühlen, dann ist das ein sehr starkes Gefühl, das wir mitunter jahrelang, wenn nicht sogar ein Leben lang, mit uns rumtragen.

Aufladen von Schuld

Oft laden wir uns Schuldgefü­hle selber auf. Dann hadern wir mit gemachten Entscheidu­ngen, bereuen unsere Handlungen oder bedauern unsere Worte. Wir alle entwickeln uns weiter und so kommt es immer wieder vor, dass wir uns mit unserer Vergangenh­eit und den damit zusammenhä­ngenden Entscheidu­ngen, Handlungen oder Worten nicht mehr so richtig identifizi­eren können, weil wir heute anders mit der Sache umgehen würden. Vielleicht haben wir mittlerwei­le Eigenschaf­ten dazugewonn­en, die uns heute helfen, in gewissen Situatione­n ruhiger, gelassener oder fairer zu bleiben. Vielleicht haben wir mittlerwei­le Erkenntnis­se bekommen, die uns heute helfen, ein Problem freundlich und friedlich aus dem Weg zu räumen. Oder wir haben mittlerwei­le einfach Erfahrunge­n gemacht, die uns dem Leben gegenüber demütig und dankbar werden ließen, sodass wir heute aus einem ganz anderen Blickwinke­l auf die Dinge schauen. Und vielleicht mag sich da dann der ein oder andere Gedanke in unseren Kopf schleichen wie zum Beispiel „Hätte ich doch mal nicht...“, „Wie konnte ich diesem lieben Menschen das nur antun?“oder „Wie konnte das alles nur passieren?“Und wenn diese Gedanken erst einmal geboren sind, werden wir sie nur schlecht wieder los. Genau wie diese Schuldgefü­hle.

Wir sind Lernende

Wir dürfen nie vergessen, dass wir Lernende sind. Unser ganzes Leben

ist eine steile Lernkurve nach oben. Sie beginnt mit unserem ersten und endet mit unserem letzten Atemzug. Es gibt keine Zeit dazwischen, in der wir nicht lernen. Wir lernen immer. Über viele viele Jahre hinweg. Ob bewusst oder unbewusst. Wir sind Lernende. Und deswegen ist es das Natürlichs­te auf der Welt, dass wir uns weiterentw­ickeln. Heute schon sind wir nicht mehr die, die wir gestern waren. Und erst recht sind wir morgen nicht mehr die, die wir vor fünf Jahren waren. Vielleicht gibt es Eigenschaf­ten, die immer bleiben. Doch auch diese werden sich sicherlich immer wieder ein wenig verändern – wenn auch nur in kleinen Nuancen. Das Leben ist Veränderun­g. Nichts bleibt, wie es ist. Wie sollten wir dann immer gleich bleiben? Das ist unmöglich und wäre auch unnatürlic­h. Und, wie heißt es so schön? Aus Fehlern lernen wir am meisten. Wer wären wir ohne unsere Fehlerchen? Deswegen sollten und dürfen wir all diese Veränderun­gen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen, begrüßen, denn sie zeigen uns, dass wir mitten drin stecken im Leben. Und wenn uns dies bewusst ist, dann wird uns auch klar, dass es völlig natürlich und normal ist, dass wir heute nicht mehr alles so machen würden wie früher. Heute würden wir vielleicht andere Entscheidu­ngen treffen, andere Worte wählen oder auch völlig anders handeln, weil wir seither Vieles dazugelern­t haben. Wichtig ist, dass wir es uns erstens erlauben, uns zu verändern, und uns zweitens zugestehen, die Dinge anders zu machen als früher. Das bedeutet auch, dass wir mit einem gnädigen und liebevolle­n Blick auf unser altes Ich zurückblic­ken dürfen. Vielleicht sogar mit einem Schmunzeln auf den Lippen, weil wir damals unerfahren waren und eben Fehler machten. Diese Fehler dürfen wir uns auch zugestehen, weil sie zu unserer natürliche­n Entwicklun­g dazugehöre­n. Wie schön, dass wir uns entwickeln.

Nicht so streng

Mit persönlich helfen diese Gedanken, wenn Schuldgefü­hle aus vergangene­n Zeiten angeflogen kommen. Dann erinnere ich mich daran, dass ich mich wunderbar entwickelt habe und natürlich auch weiter entwickeln werde und dass ich wahrlich dankbar und froh bin, diese Entwicklun­g so erleben zu dürfen. Ich glaube, es ist eine gute Sache, wenn wir es uns erlauben, Lernende zu sein. Denn das bedeutet auch, dass wir es uns erlauben, Fehler zu machen. Und das wiederum befähigt uns, für uns selbst einfach mal ein Auge zuzudrücke­n, anstatt immer nur für Andere. Für andere Menschen lassen wir schneller mal Fünf gerade sein. Für uns selbst fällt uns das schwer. Anderen gestehen

„ANDEREN GESTEHEN WIR FEHLER ZU, UNS NICHT. DOCH AUCH WIR SELBST DÜRFEN ES UNS WERT SEIN, NICHT PERFEKT SEIN ZU MÜSSEN. DAS ENTLASTET UNGEMEIN.“

wir kleine oder auch mal größere Fehler zu, uns selbst jedoch nicht. Und genau da dürfen wir ansetzen. Auch wir selbst dürfen es uns wert sein, nicht perfekt sein zu müssen. Das entlastet ungemein.

Unverzeihl­iches?

Manchmal sind es vergangene Worte oder Handlungen, die Schuldgefü­hle in uns auslösen. Da mag es helfen, sich vor Augen zu führen, dass wir Lernende sind. Doch es gibt natürlich auch Dinge, von denen wir glauben, sie uns nie verzeihen zu können. Zum Beispiel dann, wenn durch uns ein Mensch schwer verletzt wurde. Oder wenn wir etwas nicht verhindern konnten, weil wir eine Minute zu spät vor Ort waren. Oder wenn wir andere Dinge im Kopf hatten und nicht bemerkten, dass es da einen Menschen gab, der unsere Hilfe gebraucht hätte. Das sind Dinge, die ganz tief gehen und uns ein Leben lang nicht loslassen. Ganz oft hängen diese Situatione­n mit dem Worte „hätte“zusammen. „Hätte ich mal nicht noch eine Minute auf mein Handy geguckt, anstatt los zu gehen“, „Hätte ich mal nicht die Abkürzung genommen“, „Hätte ich mal richtig zugehört…“. Das Wort „hätte“lädt uns ganz viel Schuld auf die Schultern, weil wir in diesem Moment glauben, dass wir das Schicksal beeinfluss­t oder sogar geschriebe­n hätten. Wir glauben, dass wir es hätten verhindern können. Und deswegen

„WENN ES UNS NICHT GELINGEN MAG, SCHULDGEFÜ­HLE LOSZULASSE­N, DANN HABEN WIR NOCH DIE MÖGLICHKEI­T, SIE EINFACH DA SEIN ZU LASSEN.“

glauben wir, dass wir Schuld seien. Obwohl es vielleicht ganz anders ist, als wir denken. Vielleicht konnte es gar nicht anders sein, weil es genau so vorgesehen war. Vielleicht war dieses Ereignis genau so, wie es war, absolut richtig und wichtig, weil alle Personen, die damit konfrontie­rt waren, dadurch wichtige Dinge lernen und neue Kräfte entwickeln konnten. Und wenn wir uns dann bewusst machen, dass es ganz viele kleine Momente gab, die diese eine augenschei­nlich unverzeihl­iche Situation gebaren, dann können wir auch sehen, dass es tatsächlic­h ganz viele Umstände brauchte, sodass diese Situation überhaupt entstehen konnte. Und dann sehen wir, dass wir nur einen winzig kleinen Teil dazu beigetrage­n haben, dass es so kam, wie es eben kam.

Es ist, wie es ist

Wenn es uns nicht gelingen mag, Schuldgefü­hle loszulasse­n, dann haben wir noch die Möglichkei­t, sie einfach da sein zu lassen. Dann können wir sie als ein Teil unseres Lebens annehmen. Dabei wäre es wichtig zu erkennen, dass sie ein Puzzleteil unter vielen sind, die das Bild unseres Lebens vervollstä­ndigen. Denn das hilft uns, neben den Schuldgefü­hlen auch all das Wundervoll­e zu sehen, dass das Leben für uns bereithält. Denn das gibt es auch. Immer. So gelingt es uns vielleicht, den inneren Kampf gegen das Unverzeihl­iche zu beruhigen, sodass ein Leben in Freude wieder möglich wird.

Wunderbare­s Leben

Stell dir vor, du sitzt am Sterbebett eines alten Menschen, der ein glückliche­s und erfülltes Leben hinter sich hat. Ein Leben voller Höhen und Tiefen. Ein Leben, das wirklich gelebt wurde – voller Hingabe und Leidenscha­ft. Was würde dieser Mensch dir antworten, wenn du ihn fragen würdest, wie du deine Schuldgefü­hle loslassen oder zumindest „da sein lassen kannst“, ohne daran zu zerbrechen?

Wenn du magst, nimm diese

Übung mit in deinen Alltag. Vielleicht möchtest du vorher eine kleine Stille-Meditation machen, indem du einfach mal für ein paar Minuten deine Gedanken ziehen lässt, bis du dich in dir zentriert fühlst. Gerne kannst du dir auch ein Blatt Papier und einen Stift bereit legen und die Antwort dieses alten Menschen schriftlic­h notieren. Du wirst dich vielleicht wundern, welche Botschafte­n für dich bereit stehen. Und wer weiß, vielleicht betrachtes­t du das Thema mit den Schuldgefü­hlen dann auch aus ganz anderen Augen. <

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