Auszeit

Das Leben hat keine Schuld

Im Leben läuft nicht immer alles rund. Manchmal kommen nur Andere weiter. Man selbst bleibt stehen. Alles erscheint so ungerecht. Steht uns das Leben tatsächlic­h im Weg und gibt es so etwas wie eigene Entscheidu­ngen?

- LOUISE LUNGHARD

# Über Ausreden und Verantwort­ung

Meine Mutter sagte ewig zu mir: „Du warst ein Mutterkind“und mir war klar, was sie mir damit vermitteln wollte. Nämlich wie sehr ich an ihr gehangen habe. Das stimmte natürlich, denn ich habe immer ihre Nähe gesucht, nur war keine tiefe Liebe in mir, noch nicht einmal ansatzweis­e. Im Psychologi­estudium wurde mir dreißig Jahre später klar, dass ich als Kind zu meiner Mutter eine unsichere Bindung gehabt habe. Ich habe um ihre Liebe gekämpft, ohne sie jemals zu erhalten. Seit acht Jahren habe ich die Diagnose Multiple Sklerose, und auch davor hatte ich unzählige Erkrankung­en, die im Bereich der Autonomie liegen: Frei sprechen, frei laufen. Ich habe in diesem Leben nichts verstanden, ewig nicht. Immer habe ich meinen Eltern die Schuld gegeben, ohne meinen eigenen Anteil zu erkennen.

Das Leben war schuld, einfach an allem. Bei anderen ging es einfach weiter, scheinbar mühelos, während ich immer wieder in Abgründe stürzte, Schulden hatte, nicht so weiterkam, wie ich es wollte. Auf der anderen Seite hatte ich alles. Ich tanzte, studierte, spielte Theater, schrieb, bekam ein Stipendium für Autoren. Ich coachte Menschen, war erste Sekretärin eines bekannten Politikers, kam immer wieder auf die Füße, um ebenfalls wieder zu fallen.

Nach oben kommen

Ich weiß jetzt mehr, komme Stück für Stück aus meinem Panzer des Schmerzes heraus und sehe überall Zeichen, die ich einzuordne­n lerne. Mir fallen Sachen aus der Hand und ich hebe sie auf und mir wird bewusst, was das bedeutet. Ich habe immer noch die Chance, mich wieder nach oben zu bewegen. Es klingt makaber, es klingt unglaubwür­dig, es klingt konstruier­t, aber das ist es nicht. In den letzten fünf Jahren habe ich jeden Stein meines Lebens umgedreht, wollte verstehen, was eigentlich genau passiert ist.

Gestern bin ich – frei nach Jung – meinem größten Schatten begegnet, dem Teil in mir, der für meine Erkrankung am meisten die Verantwort­ung trägt. Ich habe ihn ewig gesucht und nicht gefunden. Ich habe nicht verstanden, wer er war. Ich war absolut bereit, das Schlechte

in mir zu sehen. Gesehen habe ich ihn trotzdem nicht. Das nennt man Eigenblind­heit.

Gut und schlecht

Wir alle haben beides in uns, gut und schlecht – wir möchten es nur nicht so gerne sehen. Mein Mann kam zu mir und zeigte mir Aufnahmen von Klaus Kinski und zwar Aufnahmen seiner Interviews und wie er bösartig Journalist­en beschimpft­e. Da wurde mir klar: Ich bin von zwei Egomanen aufgezogen worden, Mister Großkotz und Frau Es-tut-so weh. Und der größte Egomane war ich selbst. Ich habe beide Anteile meiner Eltern in mir vereint. Kinski pur. Alles, was ich konnte, musste ich mit der Welt teilen und ich hing in meinem Kindheitss­chmerz verankert fest. Mein Vater konnte immer viel und was er konnte, hat ihm nie gereicht. Er griff nach den Sternen, machte sich an jeder Stelle größer als er war. Meine Schwester und ich wurden von ihm gelobt, nur seine Größe konnten wir nie erreichen, auch wenn wir ihn beide längst eingeholt hatten. Meine Mutter ist in ihrem Missbrauch gefangen und auch den hat sie an uns weitergere­icht. Diesen Schmerz und den, keine Mutter gehabt zu haben, zog ich selbst ewig durch mein Leben. Ich konnte es nicht loslassen.

Ich passe auf

Klaus Kinski steht jetzt warnend vor mir, zurückzutr­eten, mich auf mich zu besinnen, all das, was ich kann bei mir zu behalten, genau da, wo es jetzt hingehört. Eben nicht mehr nach draußen zu gehen, um zu fragen: Bin ich toll?

Ja, ich habe tiefe Texte geschriebe­n und ich liebe die Sprache noch immer. Als Model habe ich tolle Bilder gemacht, viel Bewunderun­g erhalten, und trotzdem fühle ich an dieser Stelle Leere in mir. Nein, das Leben hat mir nicht geschadet. Vor einem Jahr hat es mir eine neue Chance gegeben. Ich habe angefangen, nachdem meine rechte Hand motorisch dazu nicht mehr in der Lage ist, mit links zu malen. Anfangs konnte ich den Stift nicht halten. Mittlerwei­le male ich Figuren, Gesichter. Ich habe mit Buntstift gemalt, Aquarell und bin jetzt bei Öl angelangt. Ich kann da was, habe offenbar Talent und das behalte ich bei mir, bemale Leinwände und hänge sie an die Wand – denn das ist meins.

Ich möchte kein Egomane mehr sein, ich möchte jetzt die andere Seite in mir erwecken: Die, die zuhören kann. Die, die von anderen lernt ohne sich mit ihrem „unfassbare­n Wissen und Können“aufzudräng­en. Aktuell werde ich nicht mehr schreiben, denn dort ist das Revier des Egomanen, da kann er heraus. Ich muss lachen, denn es ist erstaunlic­h, was man über sich erfährt, wenn man tief forscht.

Keine Schuld

Aber da unten in mir liegt Heilung, da unten liegen die Gründe für jede Krankheit verborgen. Nicht das Leben ist schuld. Wir sind schuld. Wir gucken nicht hin. Wir vergessen, dass Jung Recht hatte. Alles, was ich versuche aus mir herauszusc­hneiden, wird sich anders bemerkbar machen. Wir haben

Gut und Böse in uns, freundlich und nett, lustig und sarkastisc­h. Es ist alles da und so muss es sein, um heil zu bleiben. Als Kind aß ich zu Weihnachte­n immer eine große Packung mit Schokolade­nkugeln. Irgendwann kam sicher jemand zu mir, der sagte: „Sei nicht so gierig.“Aber wer gierig ist, möchte satt werden, und wenn er satt ist, dann kann er teilen, und zwar aus freiem Willen, ganz ohne Aufforderu­ng. Und nehme ich meinem Kind

„Wir haben Gut und Böse in uns. Es ist alles da und so muss es sein, um heil zu bleiben.“

sein gierig sein, nehme ich ihm gleichzeit­ig seine Freude am Teilen. Es gibt Polaritäte­n im Leben und die darf man sehen. Und es gibt Resonanz. Alles, was bei uns nicht stimmt, sehen wir im Außen. Die Menschen, die ich am wenigsten leiden kann, haben am meisten mit mir zu tun, wie auch die, die ich am meisten bewundere.

Ich bin viel

Ich bin ein Klaus Kinski, aber auch eine Pina Bausch.Von Kinski habe ich den Egomanen, von Pina die Leichtigke­it und Kreativitä­t. Und von beiden ist auch die Selbstzers­törung in mir. Wir müssen nur die Augen öffnen und es ist nichts mehr mit: Das Leben ist schuld und ihr Anderen, die ihr mir meine Freiheit nehmt, meine Lust, meine Liebe. Keiner muss glauben, dass die hermetisch­en Gesetze uns gut durch das Leben führen können. Aber ich nehme sie für mich an. Das Leben ist unfassbar leicht und unfassbar schwer. Jede Frage führt zu einer Antwort und jede Antwort zu einer neuen Frage.

Reise zu mir

Mit dieser Erkrankung im Nacken gibt es nur zwei Möglichkei­ten: Untergehen oder aufstehen. Ich habe viel begriffen. Und trotz der Spastik in meinen Beinen, trotz der vorhandene­n Behinderun­g werde ich auch weiter keine Medikament­e nehmen, denn tief in mir weiß ich, dass ich heil werde. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was diese Krankheit mir sagen will. Jetzt begreife ich endlich, wer ich war und auch wer ich bin. Den Egomanen dränge ich jetzt mal zurück und lebe seine Kehrseite, das Sanfte in mir, das liebevolle, offene, Wesen, das ich bin und das keine Steine mehr wirft, weder auf sich, noch auf andere. Ich werde jetzt autonom, zum ersten Mal im Leben wirklich autonom. Und du Papa, musst mir nie wieder sagen, dass du ja auch schreiben kannst und ich nur Frauenlite­ratur schreibe, obwohl du noch nie nur einen Satz von mir gelesen hast. Und du wirst keinen Satz von mir lesen, denn ich werde dir keinen mehr zeigen. Und du Mama, darfst dein Geld behalten, deine materielle­n Verlockung­en als Ersatz für fehlende Gefühle. Wenn du das nächste Mal wieder klagst, werde ich nur in mich hinein lächeln. Das Leben trägt keine Schuld. Im Leben sind wir immer erfolgreic­h. Wir bekommen genau das, was wir haben wollen. Ihr habt, was ihr wolltet.

Ich entscheide mich neu. <

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany